Die Weltwoche

12.05.2021

Eine Frage der Moral

Eugen Sorg

Transgender zu sein, ist glamourös. Modehäuser schicken Transgender-Models auf den Catwalk; Hollywood-Stars präsentieren stolz ihre Trans-Kids; in Musik-Clips, TV-Serien und Filmen tauchen vermehrt Trans-Figuren auf; Prominente, die sich einer operativen Geschlechtsumwandlung unterziehen, schaffen es aufs Titelblatt von Hochglanzmagazinen und werden wie Freiheitshelden gefeiert.

Parallel zur Popularisierung der Trans-Ideologie explodierte die Zahl der Kinder und Teenager, die ihr naturgegebenes Geschlecht ablehnen und sich als transgender identifizieren. Schwedens Behörde für Gesundheit und Soziales vermeldete, dass zwischen 2008 und 2018 die Anzahl von Gender-Dysphorie-Diagnosen bei Jugendlichen um 1500 Prozent zugenommen habe. Ähnliche Befunde liefern Grossbritannien, Australien, Kanada, Finnland, Deutschland, die USA, die Schweiz.

Was ist die Ursache für diese Entwicklung? Ist sie die Folge der Aufklärung über ein Thema, das man lange verdrängt hatte? Oder hat man es eher mit dem Phänomen einer zeitgeistigen subkulturellen «Cluster-Bildung» zu tun, mit «sozialer Ansteckung» unter den mit Internet aufgewachsenen Kindern und Jugendlichen, wie einzelne Studien nachzuweisen versuchen? Und warum sind autistische Jugendliche mit bis zu fünfzig Prozent Anteil signifikant übervertreten bei der Gruppe der Transgeschlechtlichen?

Zentrale wissenschaftliche und therapeutische Fragen sind völlig ungeklärt. Doch die Trans-Lobby hat kein Interesse, sie zu lösen. Man versteht sich als Bewegung, deren höherer Auftrag es ist, die wahren Gender-Identitäten aus der gesellschaftlichen Zwangsjacke von Vorurteil und Konvention zu befreien. Und wer etwa den Wunsch einer pubertierenden, unstabilen Vierzehnjährigen, ein Junge zu sein, nicht vorbehaltlos unterstützt, muss damit rechnen, von den gutorganisierten Trans-Aktivisten in den sozialen Medien als «transphob» und «Hasser» diffamiert zu werden.

Die Drohung mit dem Internet-Pranger wirkt. Es finden sich kaum noch Stimmen, die sich kritisch zu den schrillen Thesen und absurden Dogmen der Trans-Weltanschauung äussern. Eine Ausnahme bildet Keira Bell, eine heute 24-jährige Engländerin.

Ihr Vater verschwand früh aus der Familie, die Mutter war Alkoholikerin und psychisch krank. Keira Bell fühlte sich verloren, ein Zustand, der sich noch verschlimmerte, als die Pubertät einsetzte. Sie hasste ihre wachsenden Hüften und Brüste, und sie realisierte verwirrt, dass sie sich von Mädchen angezogen fühlte. Sie kapselte sich ab, ging nicht mehr zur Schule, verfiel in Depressionen. Im Internet erfuhr sie von Frauen, die sich in Männer umwandeln lassen, und in ihr wuchs der Gedanke, dass all ihr Unglück daher rührte, dass sie in Wirklichkeit ein Junge war, der in einem Mädchenkörper steckte.

Sie wurde mit fünfzehn Jahren an die Londoner Tavistock-Klinik überwiesen, spezialisiert auf Jugendliche mit Gender-Identitäts-Problemen. Dort bestätigte man ohne Umschweife ihre Selbstdiagnose, und ab da ging es nur noch in eine Richtung. Mit sechzehn bekam sie Pubertätsblocker, mit siebzehn Testosteron-Injektionen, mit zwanzig liess sie sich die Brüste abschneiden. Keira hiess jetzt Quincy, nach Quincy Jones, trat dominant auf und trug ein Bärtchen. Für kurze Zeit fühlte sie sich in einem Hoch.

B ald aber regten sich böse Zweifel. Sie realisierte, dass sie trotz Brachialmedikation und Skalpell-Kosmetik nie ein Mann sein werde: «Die Gender-Dysphorie war ein Symptom meiner Misere und nicht deren Ursache.» Sie war eine Frau, wie die Natur es bestimmt hatte, jetzt aber eine verstümmelte. Sie hatte keine Brüste mehr, ihre Vagina war durch die Medikamente geschrumpft, sie würde nie Kinder gebären können, während ihr der Bartwuchs und die tiefe Stimme bis ans Lebensende bleiben würden.

Keira Bell war zutiefst verzweifelt. Doch statt sich umzubringen, machte sie etwas Sinnvolles. Sie verklagte die Tavistock-Klinik. Diese habe ihre jungen Patienten nicht geschützt und schon Zehnjährigen Medikamente wie Pubertätsblocker verabreicht, ohne die möglichen Langzeitfolgen zu kennen. Vor einigen Monaten gab der High Court in London der Klägerin recht. Die Tavistock-Klinik stellte die Verschreibung von Pubertätsblockern an Kinder sofort ein.

Trans-Aktivisten beschimpften Keira Bell als Verräterin. Doch diese hatte die Genugtuung der Siegerin. Sie hatte die Debatte über den Transgenderismus neu geöffnet und verändert und wahrscheinlich viele Jugendliche und Kinder davor bewahrt, die gleiche schreckliche Erfahrung durchzumachen wie sie selbst.

Trans-Aktivisten beschimpften Keira Bell als Verräterin. Doch sie hatte die Genugtuung der Siegerin.

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