Die Weltwoche

18.03.2021

Eine Frage der Moral

Eugen Sorg

Vor einem Vierteljahrhundert druckte The Observer, die Zeitung der renommierten Notre-Dame-Universität in Indiana, den Brief einer afroamerikanischen Geschichtsstudentin ab. Diese setzte darin Christoph Kolumbus mit Hitler gleich, bezeichnete die weissen Siedler Amerikas als «teuflische Barbaren» und beschuldigte «die weisse Rasse» als «grössten Mörder, Vergewaltiger, Plünderer und Dieb der modernen Welt».

Ausser in linksradikalen Milieus wäre die Position der Studentin zum Zeitpunkt der Publikation von den meisten Amerikanern als extremistisch und unwahr abgelehnt worden. Fünfundzwanzig Jahre später zeigt sich ein völlig verändertes Bild. Unter der Firmierung Critical Race Theory (kritische Rassentheorie) hat sich die Auffassung der Studentin bei den politischen, akademischen, kulturellen und technologischen Eliten durchgesetzt.

Denkmäler werden zerstört, Filmklassiker aus dem Verkehr gezogen, Bibliotheken gesäubert, auch wenn es sich bei den entsorgten Büchern um Weltliteratur handelt. Wie in der paranoiden McCarthy-Ära, als unter jedem Bett ein Kommunist vermutet wurde, lauert heute der Rassismus überall: in Coca-Cola, im Würfelspiel Monopoly, in der Mathematik. Und in den Köpfen und Herzen der Weissen.

Universitäten, Behörden, Grosskonzerne bieten ihre Angestellten zu Diversitäts-Workshops und Sensibilisierungs-Seminaren auf. Die Teilnehmer werden angeleitet, ihre weissen Privilegien, ihre weisse Vorherrschaft, ihren weissen Rassismus anzuerkennen, um danach ihre weisse Identität aufzugeben. Wer sich widersetzt, riskiert soziale Ächtung und beruflichen Ruin. Weiss-Sein heisst schuldig sein.

Intellektuelles Zentralkomitee der nationalen Transformation ist die New York Times. Ihr «1619 Project» soll die Geschichte des Landes neu schreiben. Nicht die welterschütternde Unabhängigkeitserklärung von 1776 markiere die Geburt der Nation, so die These von Projekt-Initiantin Nikole Hannah-Jones, sondern die Ankunft des ersten Sklavenschiffes aus Afrika im Jahr 1619 an der Küste von Virginia.

Hannah-Jones ist jene Frau, die als junge Studentin vor fünfundzwanzig Jahren den Brief an den Observer geschrieben hatte. Ihre Grundideen über die «weisse Rasse» sind immer noch dieselben, aber sie sind zum Mainstream geworden. Nur so ist erklärbar, dass ihre einseitigen, fehlerhaften Aussagen über die amerikanische Sklaverei kaum kritisiert, sondern sogar mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurden.

Hannah-Jones’ Behauptung von der Einzigartigkeit des amerikanischen Sklavenwesens verschweigt die Tatsache, dass Sklaverei die längste Zeit der Menschheitsgeschichte eine quasi naturgegebene Einrichtung war und Sklaven wahrscheinlich die erste globale Währung bildeten. Die meisten Gesellschaften auf allen Kontinenten hielten Sklaven.

Chinesen versklavten Türken, Koreaner, Perser, Indonesier und heute Uiguren. Mayas und Azteken waren Sklavenhalter. Araber jagten Afrikaner, bevor die Europäer den Schwarzen Kontinent heimsuchten. Afrikanische Häuptlinge und Händler wurden reich durch den Verkauf ihrer afrikanischen Zeitgenossen. Irische Stämme versklavten andere weisse Stämme auf der britischen Insel, wurden später selber von den Wikingern versklavt, die auch mit slawischen Unterworfenen handelten, die später ihrerseits die untergehenden Wikinger versklavten.

Zur selben Zeit, als das erste Schiff mit afrikanischen Sklaven vor der Küste Virginias auftauchte, florierte der Sklavenmarkt im nordafrikanischen Algier mit frischer europäischer Menschenware. Über eine Million Spanier, Italiener, Engländer, Franzosen sollen die arabo-muslimischen Sklavenjäger zwischen 1530 und 1780 verkauft haben. Der Bekannteste von ihnen war Miguel de Cervantes («Don Quijote»).

Unsäglich brutal war das Leben für alle. Einer der frühesten bekannten Gesetzestexte, der viertausend Jahre alte Codex Hammurapi aus Babylon, schreibt fest, dass ungehörigen Sklaven die Ohren abgeschnitten und Fluchthelfer getötet werden sollen. Sklaverei war über Jahrtausende keine Frage der Moral und keine der Hautfarbe oder «Rasse», sondern eine pragmatische Frage der Macht. Sklaven hielten sich jene, die stark genug waren, welche zu beschaffen. Und wer keine hielt, war nicht edel, sondern zu schwach dazu.

Kategorischer Widerstand gegen diese Praxis erwachte erst sehr spät. 1775 wurde in Philadelphia die erste Anti-Sklaverei-Gesellschaft der Welt ins Leben gerufen. Die Gründer waren Mennoniten und Quäker, evangelikal-christliche Amerikaner, Angehörige jener – nach den Worten von Hannah-Jones – «weissen Rasse», des angeblich «grössten Mörders, Vergewaltigers, Plünderers und Diebs der modernen Welt».

Der Sklavenmarkt in Algier florierte mit frischer europäischer Menschenware.

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