Die Weltwoche

18.02.2021

Eine Frage der Moral

Eugen Sorg

Die Französische Revolution pflügte vor 230 Jahren nicht nur Frankreich um, sondern veränderte den Lauf der Welt. Der Preis für den Sturz des Ancien Régime war jedoch unermesslich hoch. Die Blutmühle des jakobinischen Tugendterrors löschte das Leben von unzähligen angeblichen «Verrätern» und «Volksfeinden» aus, und die darauffolgenden Kriege forderten Millionen von Toten in ganz Europa. Es brauchte ein Vierteljahrhundert, um auf dem Kontinent wieder Stabilität herzustellen.

Gehorchen solche Epochenumbrüche geschichtlichen Gesetzmässigkeiten? Und kann man die sie begleitenden Katastrophen verhindern, wenn man diese Gesetze kennt?

Die italienische Historikerin Benedetta Craveri hat mit ihrem Buch «The Last Libertines» ein faszinierendes Porträt der Endzeit der französischen Monarchie geschaffen. Anhand von sieben Zeitzeugen lässt sie eine untergegangene Welt lebendig werden. Die Protagonisten sind Angehörige der Aristokratie, meist schon als Kinder soldatisch ausgebildet, später in der Diplomatie tätig, bekannt oder verwandt mit Adelshäusern in ganz Europa, privilegiert, weltläufig und, laut Craveri, charakterisiert durch «erlesene Höflichkeit, elegante Manieren, unerschütterliche Freundlichkeit und Treue zu ihrer aristokratischen Kultur».

Letztere wurde durch strikte Codes geregelt. Als vulgär und ehrlos galt es – vor allem in Anwesenheit von Untertanen –, die Kontrolle über seine Emotionen und Impulse zu verlieren. Als Madame du Barry, nach Madame de Pompadour die letzte Mätresse von Louis XV., von den jakobinischen Blutrichtern aufs Schafott geführt wurde, habe sie geschrien und gebettelt und getobt. Als Tochter aus einfachem Volk habe sie eben keinen Sinn für aristokratischen Stolz gehabt, gibt Craveri die kühle Reaktion von adligen Zeitgenossen wieder. Ehrenvoll verhielt sich hingegen der Herzog von Lauzun, einer von Craveris Protagonisten. Er soll seinem Henker einen Drink angeboten und gemeint haben: «Ihr braucht gewiss Kraft für Euer Gewerbe.»

Strenge und raffinierte Regeln galten auch in der libidinösen Sphäre. Heiraten dienten dynastischen und geschäftlichen Interessen. Liebe und Leidenschaft lebten Männern wie Frauen in ausserehelichen Affären und Liaisons aus. Zeitgenössische Tagebücher, intime Memoiren, romantische Korrespondenzen zeugen von einem aristokratischen Kanon, der die Macht der Erotik, das sinnliche Abenteuer, «die Süsse des Lebens» (Talleyrand) feierte und die Verführung zur Kunstform entwickelte.

Bemerkenswert ist, dass Craveris Libertins wie viele ihrer Standesgenossen mit den Ideen der Aufklärung sympathisierten und die Amerikanische Revolution unterstützten. Sie wussten um die desaströse Ökonomie des Feudalstaates, um die Notwendigkeit politischer und moralischer Reformen. Und sie applaudierten, als das Stück «Figaros Hochzeit» von Beaumarchais, eine subversive Verhöhnung der Adelsherrschaft, aufgeführt wurde. Doch keiner von ihnen konnte sich vorstellen, dass nur acht Jahre später Louis XVI. unter dem Gejohle des Plebs geköpft, Tausende von Aristokraten erschlagen, gejagt, ausgeplündert und ihre Kultur für immer verschwinden würde.

Es ging ihnen ähnlich wie im 20. Jahrhundert den Völkern der Sowjetunion oder des Iran. Beide Länder implodierten unerwartet. Ebenso verblüffend verlief deren weitere Entwicklung. Das Sowjetimperium zerfiel relativ unblutig in neue Staaten, darunter viele Demokratien. Der Sturz der persischen Monarchie hingegen wurde zum Geburtshelfer eines archaischen Islam, der die Welt seither mit frommem Terror überzieht.

D ie Geschichte folgt keinem Gesetz, keinem höheren Ziel. Sie verläuft chaotisch und gleicht einer Geisterbahnfahrt. Zwar erinnert etwa die Situation in den USA in vielem an die Zustände im revolutionären Frankreich. Die stärkste Volkswirtschaft der Welt lebt auf Pump; durch das soziale Gewebe geht ein tiefer Riss; eine starke neojakobinische Bewegung versucht, ermutigt von einer dekadenten Elite, die nationale Geschichte neu zu schreiben und alle Spuren der angeblich zutiefst rassistisch verderbten Verfasstheit des Landes auszumerzen; das Vertrauen in die demokratischen Institutionen ist auf tiefem Niveau; et cetera.

Doch Historie wiederholt sich nicht. Unzählige, nicht berechenbare Faktoren, vorab die Unberechenbarkeit des menschlichen Subjekts selbst, schaffen laufend neue, unbekannte Ursachen, die ihren Gang bestimmen. Die gute Nachricht: «Niemand ist mächtig genug, die menschliche Geschichte unter Kontrolle zu bringen.» Die schlechte: «Der Preis der Abwesenheit von Kontrolle ist die permanente Möglichkeit von hässlichen Überraschungen» (Theodore Dalrymple).

Der Herzog soll seinem Henker einen Drink angeboten haben: «Ihr braucht gewiss Kraft.»

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