Die Weltwoche

21.01.2021

Eine Frage der Moral

Eugen Sorg

Unzählige Migranten, Glückssucher und Flüchtlinge machten sich in den letzten fünfzig Jahren auf, um in Schweden zu leben. Kein anderes westliches Land nahm im Verhältnis zur Bevölkerung mehr Zuwanderer auf. Man ist stolz auf den inoffiziellen Titel einer humanitären Grossmacht, obwohl diese Ehre auch Probleme mit sich bringt – wie zum Beispiel jene rätselhafte Krankheit, die Ende der neunziger Jahre zum ersten Mal im Land auftaucht und sich rasch verbreitet.

2006 sind schon 450 Fälle bekannt. Anfällig sind Kinder und Jugendliche zwischen acht und achtzehn Jahren. Die Symptome sind immer gleich: Die Patienten gleiten in eine Art Koma, schliessen die Augen, sind unansprechbar, hören auf zu essen und zu trinken, koten ein wie Kleinkinder und müssen über eine Sonde ernährt werden.

Merkwürdig ist, dass diese Krankheit nur in Schweden vorkommt und dort wiederum nur Asylbewerberfamilien betrifft: anfangs Roma aus Ex-Jugoslawien, später auch ethnische Uiguren aus der früheren Sowjetunion, dann vereinzelt Jesiden. Ebenso seltsam: Auslöser ist immer ein abgelehnter Asylantrag. Und die einzig wirksame Therapie ist ein positiver Asylentscheid. Kaum ist die gute Nachricht eingetroffen, kehrt Leben in die reglosen Körper zurück.

Das Schicksal der «Dornröschen-Kinder» bewegt. Es lassen sich keine körperlichen Ursachen für den untoten Zustand finden. Puls, Blutdruck, physiologische Reaktionen – alles normal. Die Psychiater konsultieren ihre Klassifikationsschemata. Katatonie, depressive Entkräftung, dissoziative Störung, posttraumatische Belastungsstörung oder pervasives Verweigerungssyndrom? Nichts trifft wirklich zu, also kreiert man einen Namen für die neuartige Krankheit: «Uppgivenhetssyndrom», Resignationssyndrom.

Psychofantastik, Opferpoesie, moralische Sinnbilder treten an die Stelle fehlender wissenschaftlich-vernünftiger Erklärungen. Eine von Psychologen und Ethnologen verfasste Studie vertritt die These, die Krankheit sei ein Phänomen «holistischer Kulturen», von Gesellschaften mit unklaren Grenzen zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv. Die apathischen Kinder würden sich «für ihre Familien opfern, indem sie das Bewusstsein verlieren». Die Regierung schickt zur Abklärung eine Delegation von Ärzten und Soziologen nach Kasachstan, Kirgistan, Serbien, in den Kosovo. Alle lokalen Doktoren erklären jedoch, nie von solchen Symptomen gehört zu haben.

Seriöse Ärztezeitungen veröffentlichen Gedichte zum Syndrom mit Zeilen wie «deine Augen haben alles gesehen». Ein renommierter Psychiater sieht die von ihren weinenden Müttern umsorgten Kinder «umweht von der Atmosphäre von Michelangelos ‹Pietà›». Ein Kollege deutet die Störung als «gewolltes Sterben» und vergleicht die apathischen Kinder mit jenen geschundenen KZ-Häftlingen, die, in eine Ecke gekauert, auf den Tod gewartet hätten.

Die medizinischen und journalistischen Berichte beschreiben die Patienten als die intelligentesten, sensibelsten Mitglieder ihrer Familien, als heldenhafte, fast heilige Wesen. «Sie sind wie Schneewittchen», gibt eine Ärztin den oft schwärmerischen, ja märchenhaften Ton wieder, «sie fallen einfach aus der Welt.» Als das Fernsehen Aufnahmen von Kindern zeigt, die auf Tragbahren ausgeschafft werden, folgt ein Aufschrei. Das Selbstbild der Nation, die Identität als Hüterin einer universalen «Ethik des Mitgefühls», erfährt eine schamvolle Kränkung. Die Regierung stoppt die Abschiebungen.

Man kann sich die seltsame Krankheit, die nur ausgewählte ethnische Gruppen unter spezifischen Umständen befällt und wieder verlässt, nicht erklären. Aber man ist sich einig, dass es eine echte Krankheit ist. Die wenigen, die skeptisch sind, werden als rassistisch, xenophob, herzlos abgebügelt. Oder ignoriert, wie jene Techniker eines TV-Teams, denen aufgefallen war, dass die kranken Kinder «ziemlich frisch» wirkten, wenn sie sich unbeobachtet wähnten.

Im Herbst 2019 erzählen zwei junge Erwachsene dem angesehenen schwedischen Magazin Filter , wie sie als Kinder von ihren Eltern gezwungen worden seien, das Resignationssyndrom zu simulieren. Einer der beiden ehemals «Kranken» schildert, wie er von seinem Vater geschlagen worden sei, wenn er nicht gehorcht habe. Die Schauspielerei dauerte Jahre, bis die Familie die Aufenthaltsbewilligung erhielt.

Der Bericht erregte Aufsehen. Das Tabu ist gebrochen. Wie viele der tausend «Schneewittchen» waren falsch? Lange hielt sich das Land an das Motto von Pippi Langstrumpf, der berühmtesten Schwedin: «Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt.» Nun ist die reale Welt zu Besuch gekommen. Und sie ist nicht unschuldig wie Bullerbü.

Psychofantastik und Opferpoesie treten an die Stelle fehlender wissenschaftlicher Erklärungen.

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