Die Weltwoche

10.12.2020

Eine Frage der Moral

Eugen Sorg

Vor wenigen Wochen zog der zwanzigjährige Kujtim Fejzulai schwer bewaffnet durch die Wiener Innenstadt, tötete vier Menschen und verletzte dreiundzwanzig zum Teil schwer, bis ihn die Polizei erschoss. Der junge Österreicher mit albanischen Wurzeln war den Behörden bekannt. Er war im April 2019 von einem Wiener Gericht zu 22 Monaten Gefängnis wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation verurteilt worden. Fejzulai hatte sich dem Islamischen Staat (IS) anschliessen wollen, war aber auf dem Weg nach Syrien verhaftet worden.

Nach knapp acht Monaten kam er wieder frei, denn er hatte sich vor Gericht reuig gezeigt. Er sei leider schon früh in die «falsche Moschee» geraten und habe beim IS lediglich «ein besseres Leben» erwartet, «eine eigene Wohnung, ein eigenes Einkommen». Ein typischer «Jugendlicher» eben, fasste sein Anwalt zusammen, «der seinen Platz in der Gesellschaft gesucht hat». Wer könnte ihm deswegen einen Vorwurf machen?

Als ein psychologischer Gutachter auch noch eine günstige Prognose stellte, stand der vorzeitigen Entlassung nichts mehr im Wege. Auflage war, dass Fejzulai an einem Deradikalisierungs-Programm teilnimmt, das er bereits im Gefängnis begonnen hatte, veranstaltet von einer NGO mit dem imponierenden Namen «Derad – Netzwerk sozialer Zusammenhalt für Extremismusprävention, Dialog und Demokratie».

Der Zwanzigjährige erschien pünktlich zu den Sitzungen und Workshops. Er «veränderte sich», stellte sein Derad-Betreuer fest, und entwickelte «starke Zweifel am eigenen rechten Glauben». Der letzte Zwischenbericht von Derad an die Justiz, abgefasst einen Monat vor dem Terroranschlag, gab weitere Entwarnung. Fejzulai sei «gemässigter» als andere «Klienten» im Deradikalisierungs-Programm. Er lehne gemäss eigener Aussage Demokratie und Rechtsstaat nicht grundsätzlich ab. Und der Gründer von Derad, der Extremismusexperte und Fachmann für «interreligiöses Lernen» Moussa Al-Hassan Diaw, bilanzierte, es habe «keine Hinweise auf die bevorstehende Bluttat gegeben».

Fejzulai hatte sie alle getäuscht – die Richter, Psychologen, Sozialpädagogen, Terrorsachverständigen. Er kooperierte scheinbar ernsthaft an den Deradikalisierungs-Treffen mit seinem Betreuer, «nie emotional und aufbrausend», während er Kontakte zu Radikalmuslimen in halb Europa pflegte. Er versuchte in der Slowakei Munition für seine Kalaschnikow zu beschaffen, pumpte seinen Körper mit Gewichtstraining zur Kampfmaschine auf, posierte bewaffnet vor der Kamera und stellte die Bilder ins Netz. Er hatte gegenüber den Autoritäten den einsichtigen, suchenden Jugendlichen gegeben und war in Wirklichkeit ein todesbereiter Krieger des Kalifats.

Wie ist es möglich, dass ein halbwüchsiger Schulabbrecher mit einem archaischen Weltbild aus dem siebten Jahrhundert eine ganze Phalanx akademischer Spezialisten und Stützen der Gesellschaft hinters Licht führen konnte? War er besonders raffiniert oder schlau?

Dies war nicht nötig. Man machte ihm die Maskerade leicht. Laut Derad-Gründer Diaw reisen junge Männer zum IS, weil sie «Identitätsprobleme» haben, um zu «helfen», aus «Neugierde», um «etwas Sinnvolles» zu tun und weil sie sich «als muslimische Menschen abgelehnt fühlen». Sie sind Opfer der Umstände, orientierungslos wie ausgesetzte Hundewelpen. Fejzulai erzählte den Richtern und Betreuern nur, was sie hören wollten. Und um das herauszufinden, musste man kein Genie sein.

Der flache Psychologismus der Deradikalisierer kennt keine Kategorie des Bösen, der Verworfenheit, der Sünde. Er ist blind für die Motive der Grausamkeit, des Blutdurstes, für das Geheimnis von Fejzulai. Die aus der halben Welt ins Kalifat geeilten Gotteskrieger waren keine Identitätstouristen. Sie beflügelte die Aussicht auf strafloses Töten, auf moralische Entgrenzung, auf Entfesselung der Triebe. Die Köpfungsvideos, die Nachrichten von der Frauenversklavung, das Theater eines sakralen Todeskultes hatten sie erregt. Und sie waren schuldig geworden, indem sie aus eigenem Entscheid den Kräften des Chaos und der Anti-Zivilisation nachgegeben hatten, die in den Herzen aller Zivilisierten lauern.

Die Idee der «Deradikalisierung» verhilft vielen Sozialberuflern in ganz Europa zu lukrativen Staatsaufträgen. Die Gesellschaft muss nüchtern untersuchen, ob deren Arbeit etwas nützt oder ob eine gefährliche Illusion finanziert wird. Der Fall Fejzulai ist nicht der einzige, bei dem Menschen tragisch starben, weil sogenannte Experten eine tödliche Gefahr systematisch verkannt hatten. Und es geht auch um die Frage, wie sich eine freie Gesellschaft gegen deren Feinde wehrt. Es gibt unzählige weitere Fejzulais.

Der flache Psychologismus der Deradikalisierer ist blind für die Motive des Blutdurstes.

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