Die Weltwoche

05.11.2020

Eine Frage der Moral

Eugen Sorg

Es gibt viele überflüssige Dinge in dieser Welt, und zu diesen gehört der Menschenrechtsrat der Uno. Entstanden nach der Idee eines Schweizer Juristen und hartnäckig gefördert von der damaligen Aussenministerin der Schweiz, Micheline Calmy-Rey, wurde der Rat im Jahre 2006 von der Uno-Generalversammlung feierlich ins Leben gerufen. Herzstück des neuen Gremiums war eine periodische und wechselseitige Überprüfung der Menschenrechtslage in allen 193 Uno-Mitgliedstaaten. Jedes Land sollte sich als gleichwertiger Teil der Menschheitsfamilie in den globalen interaktiven Dialog über die unveräusserlichen Rechte des Menschen einbringen können. In dieser Atmosphäre des Respekts und der Begegnung auf Augenhöhe, so die Fantasie, würden sich auch die verstocktesten Regimes dem Geist der Verständigung und der heilenden Toleranz zugänglich zeigen.

Die Gründer waren geleitet von der Lieblingsreligion der postreligiösen westlichen Moderne: dem utopischen Therapeutismus. Sie glaubten, das Böse sei weder eine eigenständige Macht noch das Resultat eines freiwilligen Entscheides gesellschaftlicher Akteure, sondern die Folge von früher erlittenem Unrecht. Viele Drittweltstaaten mochten von üblen Cliquen und Figuren kaputtregiert werden, aber der Grund für deren Misere liege in historischen Kränkungen wie Kolonialismus, weissem Rassismus, Ausbeutung. Die heutigen Täter seien selber Opfer, und jedes Wiederaufleben vergangener Demütigungserfahrungen müsse verhindert werden.

Die Arbeit des Menschenrechtsrates lief von Beginn weg schief. Ein naiv-illusionäres Menschen- und Weltbild, gepaart mit westlichem Schuldkomplex, hatten die stolzen Erfinder des Rates blind für die Realitäten gemacht. Die Schurkenstaaten dachten keinen Moment daran, sich heilen zu lassen. Vielmehr nützten sie die neuen Mitsprachemöglichkeiten aus, um eigene politische Sonderinteressen durchzudrücken.

So forderte der Menschenrechtsrat schon ein Jahr nach seiner Gründung ein Verbot von Islamkritik. Dass ein zur Verteidigung der Menschenrechte geschaffenes Gremium ausgerechnet mit einem mittelalterlichen Blasphemiegesetz die Meinungsfreiheit unterbinden wollte, konnte jedoch nicht erstaunen, wenn man dessen Zusammensetzung kannte. Islamische Staaten hielten mit anderen Halb- oder Ganz-Diktaturen wie Kuba die Stimmenmehrheit im 47 Länder umfassenden Rat. Dies sollte sich nicht mehr ändern.

Bis heute hat der honorige Rat neunzig verurteilende Resolutionen gegen Israel erlassen, die einzige Demokratie im Nahen Osten – das sind mehr als alle Resolutionen gegen Syrien, Nordkorea und den Iran zusammengenommen.

Und erst vor kurzem wählte die Uno-Vollversammlung in New York fünfzehn neue Mitglieder in den Menschenrechtsrat. Unter den Erkorenen sind schlimme Grundrechtsverletzer: Zum Beispiel das tropische Inselgefängnis Kuba; oder das orwellsche China, das an den Tibetern und den Uiguren kulturellen Genozid verübt; oder Russland, das seine Oppositionellen mit Gift tötet; oder Pakistan, das Journalisten foltert und verschwinden lässt und Christen jagt.

Die Hoffnung auf die sanfte Heilkraft eines globalen Dialogs «auf Augenhöhe» muss als gescheitert betrachtet werden. Es ist ein Hohn, wenn korrupte Unrechtsstaaten wie Venezuela im Rahmen der periodischen Länderüberprüfung anderen Unrechtsstaaten wie dem Gottesstaat Iran ein «unerschütterliches Engagement für den Schutz der Menschenrechte» attestieren können. Ebenso wie es ein schlechter Witz ist, wenn dieses Venezuela an die Adresse der Schweiz «Besorgnis» äussert über deren «Förderung von rassistischen Stereotypen durch rechtsextreme Parteien und Medien». Es ist unwürdig, wenn die Schweiz einwilligt, «geeignete Massnahmen gegen die Verantwortlichen von Polizeibrutalität gegen Asylsuchende und Migranten» zu ergreifen, wie es der Delegierte aus dem Banditenstaat Zentralafrikanische Republik empfahl.

Der Menschenrechtsrat ist eine Farce. Seine Existenz hängt von der Uno ab, deren Vollversammlung die Ratsmitglieder wählt. Die Menschenrechte sind eine westliche Errungenschaft, die Mehrzahl der 193 Uno-Mitgliedstaaten jedoch sind autoritäre oder diktatorische Politgebilde, antiwestlich, antiamerikanisch, antiisraelisch.

Die Uno zählte bei ihrer Gründung nach der Katastrophe des Nazismus 51 Länder. Sie verstand sich als Hüterin der Freiheit. Die Neumitglieder der Folgezeit, hauptsächlich aus Asien und Afrika, veränderten den Charakter der Organisation. Sollen die moralisch korrumpierten Ursprungsideen gerettet werden, müssen sich die demokratischen Nationen zusammentun. Sonst geht es ihnen wie dem Frosch aus der Fabel, der vom Skorpion gefragt wurde, ob er ihn über den Fluss bringen könne. Frosch: «Ich traue dir nicht. Du bist ein Skorpion und wirst mich töten.» Skorpion: «Keine Angst. Ich kann nicht schwimmen und will nicht sterben.» Als sie in der Mitte des Flusses sind, sticht der Skorpion zu. Frosch: «Warum hast du dies getan? Jetzt müssen wir beide sterben.» Skorpion: «Ich kann nichts dafür. Es liegt in meiner Natur.»

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