Die Weltwoche

08.10.2020

Eine Frage der Moral

Eugen Sorg

H elden sind in Verruf geraten. Wer Leben und Gesundheit für eine Gemeinschaft oder eine Idee aufs Spiel setzt, gilt bei uns bestenfalls als quijotesker Narr, eher aber als trüber Fanatiker. Tugenden wie Risikobereitschaft, Mut, Stoizismus, Abenteuerlust oder Schmerzresistenz wurden von Generationen feministischer Akademikerinnen neu definiert als Konstrukte einer patriarchalen Machtstrategie, verhöhnt als Verbrämung eines faschistoiden Mentalpanzers. Der kleine Junge, der davon träumt, ein Held zu werden und einen Drachen zu töten, leide an der geschlechtsspezifischen Erbkrankheit «toxische Männlichkeit» und sei ein Fall für die Gender-Nacherziehung.

Doch wer sollte sich nach einer solchen Entgiftungskur, falls erfolgreich, noch dem Drachen entgegenstellen wollen, tauchte dieser tatsächlich auf? Wer hätte noch die Kraft zum Helden? Auf diese Frage haben die Männeroptimierer keine Antwort, obwohl sie sich im realen Leben immer wieder stellt, so zum Beispiel im nordirakischen Mosul im Juni vor sechs Jahren.

Die Stadt am Tigris-Ufer war von den Kriegern des Islamischen Staates (IS) gestürmt worden, ohne dass diese auf ernsthaften Widerstand gestossen waren. Die Offiziere der Regierung hatten ihre Truppen im Stich gelassen, die Mehrzahl der Bevölkerung war starr vor Schreck. Dem IS eilte der Ruf erbarmungsloser Grausamkeit voraus.

Einer der fast drei Millionen Stadtbewohner war Omar Mohammed, damals 28, seit kurzem Dozent für Geschichte an der Uni Mosul. Er ist Sunnit, wie die Eroberer der Stadt, aber religiöse Fakultätskollegen hatten seine Auffassungen schon früher als säkular kritisiert. Omar hätte Grund zu fliehen, aber er beschliesst zu bleiben. Er will über das Leben unter der Herrschaft des IS berichten, die Wahrheit festhalten – für die Leute in Mosul, für die Aussenwelt und für die Zeit nach der Katastrophe. Auf dem Blog, den er einrichtet, gibt er sich den Namen «Mosul Eye».

Es gibt viel zu berichten. Als Erstes werden Frauen gesteinigt und erschossen, die man der Prostitution beschuldigt. Dann werden Homosexuelle von Hochhäusern geworfen. Die Schiiten werden ausgeraubt und getötet, die Christen ausgeraubt und getötet oder vertrieben, die Jesiden ausgeraubt und getötet und deren Mädchen und Frauen auf öffentlichen Sklavenmärkten verkauft. Der IS ist eine «Tötungsmaschine», konstatiert «Mosul Eye», «gierig nach Blut, Geld und Frauen».

O mar zwingt sich, öffentlichen Köpfungen, Kreuzigungen, Amputationen und Auspeitschungen zuzusehen. Er merkt sich Ort, Datum, Strafvorwurf, die Namen von Opfern und Tätern. Auch die Auslöschung der Geschichte protokolliert er, die Sprengung von Museen, Bibliotheken, Denkmälern und Grabstätten, wie derjenigen des Propheten Jonas oder Yunus, der laut Bibel sowie Koran von einem Wal verschluckt worden war, bevor er nach drei Tagen dank Gottes Gnade lebendig wieder ausgespien wurde.

Wie im Inneren eines Wals fühlt sich auch Omar, nur dass er als Agnostiker auf keine Erlösung hoffen darf. Er ist auf sich gestellt. Weder seine besten Freunde noch seine Mutter noch seine zehn Geschwister dürfen wissen, dass er «Mosul Eye» ist. Dokumentiere alles, vertraue niemandem, lautet sein Arbeitsprinzip. Sein Blog ist eine der wenigen unabhängigen Stimmen aus dem Blutkalifat. Medien aus der ganzen Welt orientieren sich daran, Geheimdienste konsultieren ihn. Auch der IS liest ihn aufmerksam. Würden sie seiner habhaft, teilt man ihm mit, würde er sich wünschen, so sterben zu dürfen wie der jordanische Pilot. Dieser war vom IS bei lebendigem Leibe in einem Käfig verbrannt worden.

T odesangst ist Omars ständiger Begleiter. Er lässt Haare und Bart wachsen, schreibt unter verschiedenen Identitäten, bis er nicht mehr weiss, wer er ist. Er halluziniert, sieht die Seelen der Hingerichteten durch die Strassen irren, auf der vergeblichen Suche nach ihren verstümmelten Körpern. Er schwankt zwischen Auflehnung und Verzweiflung. Aber er gibt nicht auf. Nach zwei Jahren lässt er sich aus Mosul schmuggeln, im Gepäck seine Daten, der Beweis für die Existenz der Hölle. Omar führt den Kampf von der Türkei aus weiter. Sein Blog bedeutet für viele Leute in Mosul die Hoffnung auf ein menschliches Leben.

Im Sommer 2017 wird Mosul befreit. Omar Mohammed, der mittlerweile Asyl in Europa bekommen hat, gibt sich als Mann hinter «Mosul Eye» zu erkennen. Er hat den Kampf mit dem Drachen aufgenommen und diesen unter Einsatz seines Lebens besiegt, mit Kühnheit, Selbstkontrolle, Leidensbereitschaft – mit den Tugenden eines Helden.

Der Junge, der davon träumt, ein Held zu werden, sei ein Fall für die Gender-Nacherziehung.

Your Attractive Heading

Nach oben scrollen