Basler Zeitung

29.07.2012

Warum die Menschen in Aurora sterben mussten

Werden wie Gott

Von Eugen Sorg

Während dreier Jahrzehnte versuchten die amerikanischen Kriminologen James Alan Fox und Jack Levin anhand von Dutzenden von Fallstudien die Motive von Serienmördern und Amokläufern zu ergründen («Extreme Killing: Understanding Serial and Mass Murder», Sage Publications 2005). Ihre Schlussfolgerungen sind banal und letztlich nichtssagend. Massenmörder seien, schreiben die Autoren unter anderem, mehrheitlich enttäuscht und hoffnungslos, was ihr Leben betreffe, isoliert von Familie oder Freunden, und sie würden sich als Opfer ungerechter und unglücklicher Umstände sehen. Sie machten andere – wenn nicht die ganze Gesellschaft – für ihr Scheitern verantwortlich, und diese zu töten erscheine ihnen daher als gerecht­fertigt. Menschen mit einem erfolgreichen und erfüllten Leben hingegen verspürten kaum den Wunsch, sich an ihren Zeitgenossen auf eine derart verheerende Art zu rächen.

Nun wissen natürlich auch Fox und Levin, dass es unzählige Individuen gibt, die, innerlich einsam und vom Leben frustriert, allen anderen und nur nicht sich selber die Schuld an ihrer Lage geben. Warum aber nur eine verschwindend kleine Minderheit von ihnen sich ein Gewehr beschafft und damit loszieht, darauf kann auch die Studie keine Antwort liefern. Dies hat damit zu tun, dass menschliches Verhalten letztlich unvorhersehbar ist, da der Mensch als «losgelöstes Tier» über Wahlmöglichkeiten und einen freien Willen verfügt. Es hängt aber auch mit der «Defizittheorie» der beiden Autoren zusammen. Sie teilen die im Westen vorherrschende therapeutische Weltauffassung, dass das Böse eine Reaktion auf erlittenes Unrecht sei. «Das Problem der bösen Leute» sei, fasst der amerikanische Philosoph Richard Rorty diese Sicht zusammen, «dass sie nicht so viel Glück gehabt haben wie wir selbst hinsichtlich der Umstände, unter denen sie aufgewachsen sind». Ein schneller Blick auf die Biografien einiger ­Massenmörder der letzten Zeit genügt, um diese Meinung zu widerlegen. Der 24-jährige James Holmes, der vor zehn Tagen in einem Kino in Aurora, Colorado, zwölf Leute erschossen und 58 verletzt hatte, stammt aus einer fürsorglichen Mittelstandsfamilie. Die Mutter ist Krankenschwester, der Vater Mathematiker, Holmes selber ein hoch ­begabter Doktorand in Neurowissenschaften. Niemand konnte sich erklären, weshalb der höfliche, freundliche junge Mann, der seine Semesterferien auch schon als Helfer in einem Camp für unterprivilegierte Kinder verbracht hatte, plötzlich in einer Filmvorführung auftauchte, schwer bewaffnet, mit brandrot gefärbtem Haar, Maske und schwarzer Körperrüstung, und ein Massaker veranstaltete.

Oder der Norweger Anders Breivik, der vor einem Jahr in Oslo zuerst eine Bombe gezündet und danach 77 Jugendliche eines Sommercamps mitleidlos hingerichtet hatte. Was trieb den 32-jährigen Kleinunternehmer zu seiner Bluttat? Er lebte in einem der reichsten und friedlichsten Länder dieses Planeten, einem Sehnsuchtsort für Legionen aus der südlichen Hemisphäre. Dass er ohne Vater aufgewachsen war, wie einige Kommenta­toren spekulierten? Dass er im sozialen Umgang gehemmt war? Dieses Schicksal teilen Millionen andere, ohne deswegen zum Killer zu werden.

Massenmörder stammen aus wohlhabenden Ländern wie Finnland oder der Schweiz und armen Ländern wie Mexiko oder Algerien. Sie sind hoch intelligent und politisch links-grün, wie der Una-Bomber Ted Kaczynski, ein Mathematiker aus Chicago, der während 17 Jahren Briefbomben verschickte, die 26 Menschen verletzten oder töteten, bis er 1995 aufgespürt und verhaftet wurde. Oder sie sind intellektuell sehr bescheiden und politisch indifferent, wie der blonde 29-Jährige Surfer Martin Bryant, der 1996 im Touristenort Port Arthur auf Tasmanien ein Schnellfeuergewehr aus seiner Sporttasche zog und ohne Begründung 35 Menschen erschoss. Sie sind rechts und islamfeindlich und schreibwütig wie Breivik. Oder sie sind islamisch und schreibschwach wie der Banlieu-Schläger und junge Kleinkriminelle Mohammed Mehra aus Toulouse, der sich zum Jihadisten wandelte und im Frühling dieses Jahres drei französische Soldaten, zwei davon ebenfalls Muslime, und einen jüdischen Lehrer mitsamt drei neben ihm stehenden Kindern aus nächster Nähe exekutierte.

Es gibt keine soziologischen, psychologischen, politischen oder medizinischen Besonderheiten, die den Amokläufern oder seriellen Killern gemeinsam wären. Die Manifeste oder das welt­anschauliche Geschwätz, die einige von ihnen als Rechtfertigung nachreichen, erhellen nichts. Sie töten nicht aus irgendwelchen ideellen Gründen. Sie töten, weil sie sich dazu entschlossen haben und weil es ihnen wilde Freude bereitet. Denn eines zeichnet sie alle aus: Sie sind während des Tötens hoch konzentriert, zielsicher, manche mit einem Lächeln im Gesicht. Sie hatten sich lange auf die Tat vorbereitet, technisch und vor allem mental, sie Tausende Male in der Fantasie durchgespielt, wie Zen-Mönche, die Angst, Selbst­zweifel, Ärger, Mitleid und andere menschliche Schwächen durch Meditation zu überwinden trachten. Zielen, abdrücken, Magazin auswechseln, neues Objekt aussuchen, der Schütze ist stolz, dass seine Hand nicht zittert, dass ihn das Weinen und Bitten der Opfer im Kinosaal oder auf der Urlaubsinsel nicht berührt, im Gegenteil, es erfüllt ihn mit Genugtuung, die Askese hat sich gelohnt. Er ist dort angekommen, wo er hinwollte: Er steht über dem jämmerlichen Flehen, er fühlt sich komplett frei und allmächtig, er allein entscheidet über Tod und Leben. Er ist wie Gott.

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