Basler Zeitung

01.07.2016

Eine Frage der Moral

Arabische Herrlichkeit

Von Eugen Sorg

Riad Sattouf, 38-jährig, ist einer der bekanntesten Comicautoren Frankreichs. Während zehn Jahren zeichnete er für das Satiremagazin Charlie Hebdo, verliess dieses, kurz vor dem Anschlag, um eine Autobiografie zu verfassen, eine Graphic Novel über seine Kindheit im Nahen Osten: «Der Araber von morgen». Sattouf, Sohn einer Bretonin und eines Syrers, hatte die ersten zwölf Jahre seines Lebens in Libyen und darauf in einem syrischen Dorf verbracht.

Der Comicroman eröffnet eine einmalige und beklemmende Nahsicht auf den Alltag in arabischen Gesellschaften der 80er-Jahre. Gewalt durchwaltet alle Beziehungen. In Städten wie Homs werden zum Tode Verurteilte öffentlich hingerichtet und die Leichen zur Abschreckung tagelang hängen gelassen. Die Lehrer des kleinen Riad terrorisieren ihre Zöglinge mit Stock und sadistischen Strafen. Brutale Schläge gibt es, wenn einer mit dem ­Nachbarn flüstert, einen Koranvers nicht auswendig zitieren kann, vor Angst in die Hosen scheisst. Väter verprügeln die Söhne, diese ihre jüngeren Cousins, und wer niemanden hat, den er peinigen kann, nimmt sich ein wehrloses Tier vor. In einer ­unerträglichen Szene schildert Sattouf, wie eine lachende Horde Kinder einen Hundewelpen jagt, tritt, mit Steinen bewirft und auf eine Mistgabel spiesst, bis ein Erwachsener kommt und der wimmernden Kreatur mit einer Schaufel den Kopf abschlägt.

Am liebsten aber spielen Riad und seine ­Kollegen Krieg, und Krieg bedeutet Juden töten, dem hinterlistigen Juden unter Allahu-Akbar-­Rufen den Kopf abschneiden. In der Schule lernen Riad und seine Mitschüler Arabisch lesen und schreiben anhand von Gedichten, die die Vernichtung Israels ankündigen. Nur Juden rangieren noch tiefer als Hunde und Schweine.

Auch Riads Vater erklärt seinem Sohn, die Juden seien «die schlimmste Rasse, die es gibt». Er stammt aus einer ärmlichen sunnitischen Familie und hat dank einem Stipendium an der Sorbonne in Paris Geschichte studiert und mit einem Doktorat abgeschlossen. Doch die Bildungsjahre im ­aufgeklärten Westen haben keine tieferen Spuren hinterlassen. Er verachtet zwar die «Frömmelei» der ungebildeten Dorfbewohner, aber das einzige Buch in seinem syrischen Haus ist der Koran. Er verehrt die Diktatoren Hafiz al-Assad, Saddam Hussein und Gaddhafi und er ist ein Anhänger des Panarabismus, der die Überlegenheit des Westens brechen und zur Herrschaft und Glorie der arabischen Völker führen soll. Und er nimmt es hin, dass seine Cousine Laila von zwei nahen männlichen Verwandten erdrosselt und auf einem Acker verscharrt wird, weil sie unehelich schwanger geworden war. «Bei uns das schlimmste Verbrechen», meint er nur.

Sattouf erzählt aus der Perspektive des Kindes, subjektiv, ohne Wertung. Die Figuren wirken flüchtig aufs Papier skizziert, minimalistische, ­lustige Comic-Männchen, aber sie sind akribisch genau gezeichnet. Mit wenigen kunstvollen ­Strichen werden Motive und Seelenzustände ­evoziert: Boshaftigkeit, Schadenfreude, Stolz, Missgunst, Staunen, Angst, Gefühllosigkeit. Die Dinge sind, wie sie sind, empfindet der Protagonist, man kann sie nicht ändern, aber man muss sie genau beobachten, will man bestehen.

«Der Araber von morgen» ist nicht nur eine grossartige Autobiografie, der Prolog zu einer berührenden psychokulturellen Emanzipation eines Sohnes von seinem Vater, sondern auch eine intime ethnografische Reise in ein trostloses, aber faszinierendes Gebiet, über das heute die ganze Welt redet, das aber kaum jemand kennt. Damals herrschten dort noch die alten arabischen Autokraten, aber die Saat für ihre noch schrecklicheren Nachfolger keimte bereits.

Ein Rezensent der Zeit bemerkte zu Recht, dass man in Riad Sattoufs Comic «reichlich fündig» würde, suchte man nach «Erklärungen für die fatalen Entwicklungen in Syrien». Um sogleich anzufügen, man hoffe, dass das Buch «nicht die falschen Leute in die Hände bekommen». Die «falschen Leute» sind jene, die die Merkel’sche Politik einer ungebremsten Einwanderung ablehnen. Die Bemerkung des

Zeit-Mannes ist der Ausdruck eines jämmerlichen Journalismus, der in moralische Schief­lage geraten ist, weil er nicht mehr aufklären will, sondern als obrigkeitliche Erziehungsanstalt für ein dummes, unmündiges Volk agiert. Nichts könnte falscher sein. Sattoufs Buch eröffnet neue Horizonte, schenkt Weltbildung und berührt mit seiner Menschlichkeit. Es macht klüger, und es ist zu hoffen, dass das Buch in möglichst viele Hände gerät.

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