Basler Zeitung

03.06.2016

Eine Frage der Moral

Liebe und Terror

Von Eugen Sorg

Am Abend des 13. Novembers letzten Jahres ­wartete Antoine Leiris in seiner Pariser Wohnung vergeblich auf seine Frau Hélène. Sie war an ein Rockkonzert im Lokal Bataclan gegangen, das fatalerweise von islamischen Terroristen als Anschlagsziel auserkoren worden war. Diese ermordeten 90 Personen, unter ihnen Hélène. Antoine Leiris (35), Radiojournalist, blieb zurück mit dem gemeinsamen Sohn Melvil, gerade 17 Monate jung.

Nur vier Tage nach dem Massaker wandte sich der Neo-Witwer auf Facebook an die Mörder seiner Frau. Er bezeichnete jene als «tote Seelen», die «die Liebe meines Lebens geraubt» hätten, und er gestand ein, dass der «Kummer mich zerreisst». «Aber», schloss er, «ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen.»

Der offene Brief an die Terroristen, eigentlich als Nachricht an seine Freunde gedacht, um ­diesen und wahrscheinlich auch sich selbst zu ­versichern, dass er nicht aufgeben werde, ging um die Welt. Der trauernde Leiris wurde zum «Mann ohne Hass» gekürt, zur noblen Seele, zum ­modernen Heiligen, der den urmenschlichen ­Instinkt der Rache überwunden und so die «alt­testamentarische Kriegslogik von Auge um Auge und Zahn um Zahn» durchbrochen habe. Die erlösungs­süchtigen Journalisten von Paris bis New York feierten den apolitischen Mann, als würden seine Zeilen das Rezept liefern, wie man das Krebsgeschwür des globalen islamischen ­Terrors mit positivem Denken besiegen könne.

Einige Wochen später legte er nach mit einem schmalen Buch, das den Titel seines Briefes aufnimmt: «Meinen Hass bekommt ihr nicht», einem Protokoll der dreizehn Tage nach der Nacht vom Bataclan. Es erzählt, wie er ins Nichts stürzte, als nach 24 Stunden fiebriger Ungewissheit der Tod von Hélène schliesslich bestätigt wurde. Wie er sich danach während Tagen wie betäubt durch den Alltag bewegte, ein sprachloser Zombie, der die Lebendigkeit der Unversehrten als unerträglich grobschlächtig und vulgär empfindet. Seine übermenschlich anmutende Weigerung zu hassen, wird nachvollziehbarer, wenn er schreibt, dass der Zorn auf die Schuldigen nur dazu diene, «seinem Leid auszuweichen». Er aber wolle das Leid und den Kummer «umarmen» als einzige und letzte Verbindung mit Hélène, «als lebendige Spiegelung der erlebten Liebe». «Nichts ist verziehen oder vergessen», hält er fest, und vom «Tod kann man nicht geheilt werden», doch Wut und Hass würden ihn nur von seiner Geliebten wegführen.

Leiris schildert, wie er sich im Leichenschauhaus von der Frau verabschiedet, «sie ist so schön, wie sie es immer war», wie er ihre Kleider für die Bestattung aussucht, wie er sich an alles erinnert, an den ersten Kuss, an ihr Lachen, an ihren Geruch, an das Wagnis ihrer Liebe. Er darf nicht verzweifeln, er muss weitergehen, und sitzt er ab, das weiss er, steht er nie mehr auf. Im Nebenzimmer schläft der kleine Melvil, der nur drei Worte spricht, Mama, Papa, Schnuller, aber alles versteht, und dem er sagen muss, dass Mama nie mehr kommen wird, und dabei nicht zusammenbrechen darf, obwohl er kaum mehr die Kraft zum Atmen hat.

Wie schon der Facebook-Text ist auch das Büchlein kein «politisches Manifest gegen den Hass», keine «Botschaft der Humanität», kein «Gegenstück zur Kriegslogik der Politik», wie die angesichts der jihadistischen Gewaltexzessen ratlosen westlichen Medien erneut fantasierten. ­Leiris’ Text ist weder Programm noch Aufruf, sondern vielmehr das ergreifende, intime Tagebuch eines ­Mannes, der jählings aus der Welt geschlagen wurde und es sich nicht leisten kann, im Schmerz zu versinken, weil er einen kleinen Jungen schützen muss, der ohne ihn verloren wäre; der einem existenziellen Moralimpuls nachkommt und dabei über sich hinauswächst und Energien mobilisiert, von denen er nicht wusste, dass es sie gibt. Es ist ein Logbuch der Verzweiflung und des Aufbäumens dagegen. Und vor allem ist es eine herzergreifende Liebesgeschichte und das Zeugnis einer alchemistischen Umwandlung von unsagbarer Trauer in ­Literatur, eine Umwandlung, die den Vater und den Jungen rettet, fürs Erste zumindest.

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