Das Magazin

04.09.1999

Aus dem Innern des Gulag

Während 34 Jahren arbeitete Dancik Baldajew für das sowjetische Strafsystem. Nach seiner Pensionierung begann der ehemalige Geheimdienstoffizier zu zeichnen, was er in den Todeslagern Stalins gesehen hatte. Seine Bilder dokumentieren den Horror der kommunistischen Weltbeglückung.

Eugen Sorg undNikolai IgnatieW, Network/Lookat (Bild)

«Dancik Sergejewitsch Baldajew, haben Sie Mitleid mit den Gefangenen empfunden?»

«Als ich dreizehn war, kam ich in ein Waisenhaus für «Kinder von Volksfeinden» in Sibirien. Meine Mutter war vor drei Jahren gestorben, und mein Vater, der berühmte Gelehrte Sergej Petrowitsch Baldajew, wurde von Stalin ins Lager gesteckt. Es war 1938, und die anderen Kinder im Heim waren grausam. Eines Nachts steckten sie mir Papier zwischen die Zehen und zündeten es an. Ich erwachte und schüttelte meine Beine. Man nannte diesen Streich «Rad fahren». Ich holte einen Stock und schlug auf die Kinder ein. Eines brach ein Schlüsselbein, ein anderes blutete am Kopf. Als man mich zur Rede stellte, antwortete ich, wenn sie es noch einmal tun, hole ich die Axt. Darauf hiess es: Jetzt ist der Mongole verrückt geworden.»

«Das ist schlimm. Aber als Sie selber Gefängnisaufseher wurden, haben Sie Mitleid mit den Insassen gehabt?»

«Ich musste jeden Tag kämpfen, das hat mich hart gemacht. Und unsere Schule war die beste in der Region. Ich habe gut gelernt und wurde in die Eliteschule von Irkutsk aufgenommen, obwohl ich das Kind eines «Volksfeindes» war.»

Die Küche des ehemaligen Majors der sowjetischen Geheimpolizei ist nicht viel grösser als eine Umkleidekabine. An der Wand zwischen einem Katzenbild und einem abgelaufenen Kalender hängt ein altes Telefon. Auf der Wählscheibe steht: «Sei vorsichtig, dieser Apparat gibt keine Sicherheit bei Geheimgesprächen.» Unter Baldajews Stuhl schläft ein Hund, auf dem Fenstersims gurrt ein Taubenpärchen, von irgendwo her tönt Kinderlärm. Es ist ein warmer Sommertag in Kuptschino, einer Trabantenstadt St. Petersburgs, wo Baldajew mit seiner Frau in einer 1-Zimmer-Wohnung lebt.

«Nochmals, Dancik Sergejewitsch, haben Sie Mitleid empfunden?»

Der alte Mann mit dem breiten asiatischen Gesicht lächelt mich kurz an, stopft eine neue Zigarette in den Halter und zündet sie an. Dann nimmt er einen Zettel und zeichnet darauf eine Tafel. Diese unterteilt er in Felder, und in die Felder schreibt er Zahlen. Seine Hände sind fein, und deren Haut ist glatt und fleckenlos wie die eines 25-Jährigen.

«Dies war das Brett, auf dem die Zellen mit meinen Häftlingen aufgezeichnet waren. Wenn zum Beispiel drei Häftlinge zum Verhör abgeführt wurden, habe ich die alte Zahl ausradiert und die neue mit Bleistift hingeschrieben. Ich bin sehr gewissenhaft, nie habe ich eine Vorschrift übertreten. Eine Vorschrift war, die Häftlinge nicht zu quälen. Eine andere, alle gleich zu behandeln. Ich hatte Mitleid. Aber nur mit den ehemaligen Polizisten. Diese wurden eingesperrt, weil sie beim Verhör übertrieben hatten. Zum Beispiel einem den Unterkiefer herausgebrochen. Oder aus Versehen jemanden getötet. Ich verlegte unsere Jungs in Einzelzellen, nie zu den Kriminellen, dort wären sie getötet worden. Und ich gab ihnen zwei Decken anstatt eine. Sie haben sich aber auch gut benommen.»

Vor zehn Jahren ging der pensionierte Polizist Baldajew an ein Treffen ehemaliger Lagerinsassen in der Peter-und-Pauls-Festung in Leningrad, das kurze Zeit später wieder St. Petersburg heissen sollte. Es war die Zeit von Gorbatschows Perestroika, und die Leute wussten, dass es mit der kommunistischen Diktatur zu Ende ging. Baldajew hatte Bilder dabei, die er im letzten Jahr gezeichnet hatte, und als die Versammelten diese sahen, stockte ihnen der Atem. Die rund hundert Tuschzeichnungen im Format 20¥24 Zentimeter zeigten Szenen, die jeder von ihnen kannte. Man sah folternde Wächter, gedemütigte Gefangene, vergewaltigte Frauen. Man sah Verhungerte, Erfrorene, Erschlagene. Szenen aus der Welt der stalinistischen Gefängnisse und Strafkolonien, aus dem Inneren des sowjetischen Gulags.

Der Zeichner war mit einer seltsamen Besessenheit für Details zu Werke gegangen. Die Schrauben am Gestell des Folterapparates, die Knöpfe und Epauletten an der Uniform des Folternden, die Tätowierung auf der Hand des Kriminellen, der einen Mithäftling bei lebendigem Leib auf einem Holzbock zersägt, die in der Form eines schlaffen Ballons heraushängende Gebärmutter einer geschundenen Gefangenen, die Zahl der Rippen auf den ausgemergelten Körpern, das Grinsen im Gesicht des Quälers, der Horror in den Augen des Opfers, die Form der Stahlnägel, die dem Gefangenen beim Verhör in die Hände geschlagen wurden – es schien Baldajew wichtiger zu sein, alle diese Einzelheiten korrekt wiederzugeben, als mit den Bildern anzuklagen. Gemalt mit emotionsloser Akribie, mit dem Blick eines Kindes oder eines Tieres, auf eine Art unschuldig und ohne Anteilnahme, wirken sie wie primitive ethnologische Porträts. Es gibt kein Warum, keine Frage nach dem Sinn, nur die reine Abbildung, unvermittelt wie ein Schock und obszön in ihrer Nacktheit. Die alptraumhaften Bildchen sind ein einzigartiges Zeugnis. Sie sind Piktogramme eines Systems, in dem ein Menschenleben nicht mehr Wert hatte als eine Kakerlake, in dem ein Schmerzensschrei so bedeutungslos war wie das Summen eines Insekts, bevor man es zerquetscht. Kurze Zeit nachdem die Bilder in der Peter-und-Pauls-Festung ausgestellt worden waren, tauchten Beamte der Staatssicherheit auf. Das sei Pornografie, befanden sie und hängten die Bilder wieder ab.

«Was hat Ihr Vater gemeint, als Sie bei der Polizei zu arbeiten begannen?»

«Ich kämpfte als 18-Jähriger in der Armee gegen die Japaner. Ich leistete guten Dienst und wurde deswegen nach dem Krieg zur Polizei geschickt. Ich wurde Aufseher und stieg zum Gebäudeblockleiter im Gefängnis 1 in Leningrad auf. Ich hatte meinen Vater vorher gefragt, was ich tun sollte. Er hatte mir gesagt: «Widersetze dich nicht. Du bist sicherer innerhalb des Systems. Die Macht bricht das Heim.» Mein Vater war Ethnograf und Schriftsteller, der erste Wissenschafter unseres Volkes, des Volkes der Burjaten, Verwandte der mongolischen Nation. Seine riesige Sammlung ist heute ein Prunkstück des Instituts für Gesellschaftswissenschaften in Ulan Ude. Er war nach zwei Jahren Lager wieder freigekommen. Der neue Geheimdienstchef Berija hatte angeordnet, dass die Gebildeten und die hohen Offiziere wieder entlassen werden sollten, weil es fast keine mehr davon in Freiheit gab. Mein Vater hatte Glück. Ihm waren nur die Zähne herausgeschlagen worden. Wer mehr zerschunden war, wurde erschossen, damit man draussen nicht erfuhr, wie man in den Lagern die Leute plagte.»

«Wie kam es, dass sie angefangen haben, die Lager zu zeichnen?»

«Es begann alles mit den Tätowierungen.

Als ich 1948 als Aufseher anfing, sah ich Gefangene beim Waschen, und ich war erschüttert, als ich ihre Tätowierungen sah. Ich musste sie abzeichnen.»

«Warum erschüttert?»

«Sie waren wunderschön. Ich war ein junger Mann und zeichnete selber, aber ich hatte nie vorher etwas Ähnliches gesehen. Ich brachte einige Tätowierungen meinem Vater, und er sagte: Dancik, das ist interessant, sammle das, es wird eines Tages verschwinden.»

Baldajew steht auf und quetscht sich in der engen Küche an mir vorbei. Auf Kühlschrank, Kommode und Gestell stapeln sich Kartonschachteln. Er holt sich eine der Schachteln und stellt sie vor mich hin. Darin befinden sich Kopien von Tattoos, Hunderte von Motiven – Rosen, Raubtiere, gekreuzigte Heilande, Meerjungfrauen, Stacheldrahtherzen, Basiliken, Fregatten, Sinnsprüche, alle gezeichnet mit derselben Genauigkeit wie die Lagerbilder. 3200 Kärtchen, nummeriert und geordnet nach einem ausgeklügelten System. «Mein Lebenswerk», sagt der Exoffizier würdevoll, «aufgebaut in 50 Jahren, die grösste und umfassendste Sammlung in der ganzen Sowjetunion, noch dieses Jahr wird sie in Russland in einem Buch publiziert werden. Da, schau, dieses brennende Kreuz oder diese Krone oder dieser Kater.» Die Ganoven trügen ihre Geschichte auf der Haut, sagt er weiter, jedes Symbol habe eine Bedeutung, und er, Baldajew, unbestrittene Autorität auf diesem Gebiet, kenne den Code.

«Das ist eindrücklich. Aber was hat es mit den Lagerzeichnungen zu tun?»

«Die Gefängnisinsassen sagten, ich solle in die Lager gehen, dort würde ich noch mehr Tätowierungen sehen. Ich ging also in die Lager, jeden Urlaub fuhr ich dahin, viermal bis Wladiwostok und zurück. Es gab viele Lager damals. Von den 250 Millionen Einwohnern der Sowjetunion waren 23 Millionen eingesperrt. Die Lager waren am Weg, aufgereiht wie Perlen auf einer Kette.»

«Die Lager waren streng bewacht. Niemand konnte einfach so hineinspazieren.»

«Ich hatte Papiere und eine Uniform der Geheimpolizei. Damit war es einfach. Und ich konnte es gut mit den Leuten. Ich stellte mich dem Leiter vor, man plauderte und trank ein Gläschen, wir gingen in die Baracke, und er gab den Insassen den Befehl, sich auszuziehen. Ich sah Leute, die waren von Kopf bis Fuss tätowiert. Heute ist das anders. Ich muss die Häftlinge fragen, und wenn einer nicht will, darf ich ihn nicht zeichnen.»

«Was haben Sie dort sonst noch gesehen?»

«Ich besuchte Lager mit deutschen Kriegsgefangenen. Hier, diese Tätowierungen, aussergewöhnliche Raritäten, das Schlachtschiff «Kaiser Wilhelm», oder da, auch sehr schön, die «Prinz Eugen», auf Russisch «Jewgeni», nicht wahr, wie dein Name. Nur einmal hatte ich Pech. Ich wollte in ein Japanerlager, aber der Leiter schickte mich weg. Er war ein Russe, und er sagte zu mir, einen Mongolen lasse er da nicht herein. Deswegen habe ich so wenige japanische Tätowierungen.»

«Die Lagerzeichnungen, Dancik Sergejewitsch, die Lagerzeichnungen, erzählen Sie mir darüber.»

«Ich wollte auch ein Wörterbuch machen.

Ein vollständiges Verzeichnis aller «Fenia»-Ausdrücke, der Sprache der Ganoven. Ich musste daher mit den Häftlingen sprechen, und so erfuhr ich einiges.»

«Was?»

«Sie erzählten unmögliche, schlimme Dinge. Ich durfte dies nicht zeichnen. Das wäre gefährlich gewesen. Aber ich schrieb mir einiges davon auf, in meiner burjatischen Sprache, damit niemand es verstand. Erst nach meiner Pensionierung habe ich die Aufzeichnungen wieder hervorgeholt, zusammen mit ein paar Skizzen. Die Gefangenen hatten auf die Toilettenwände verschiedene Szenen gekritzelt, und die hatte ich abgezeichnet.»

«Dancik Sergejewitsch, was bringt einen Menschen dazu, seinen Urlaub in Stalins Straflagern zu verbringen, anstatt sich am Schwarzen Meer zu erholen?»

«Ich bin ein Fanatiker. Wenn ich mir ein Ziel gesteckt habe, habe ich keine Ruhe, bis ich es erreicht habe.»

Diesmal steht Baldajew auf, um mit einigen Büchern wiederzukommen. Ein zweibändiger «Diktionär des Kriminellen- und Diebesargot» und ein schmales Büchlein mit dem Titel «Notizen eines Kynologen». Alle 1997 veröffentlicht. «Von mir geschrieben», sagt er nicht ohne Stolz, wobei das Wörterbuch nur den St. Petersburger Jargon berücksichtigt habe. Die Moskauer Gauner wiederum hätten nämlich ihre eigenen Ausdrücke. Und im anderen Werk schildere er die Ausbildung seines Schäferhundes Sultan zum erfolgreichen Kriminellenjäger. Er habe 1957 vom Gefängnis zur Kriminalpolizei gewechselt und sei zum «Inspektor für die Aufzucht von Milizspürhunden» ausgebildet worden. «Ich habe bis zu meiner Pensionierung 6000 Kriminelle eingelocht, davon 341 Schwerverbrecher wie Mörder und Vergewaltiger. 1967 wurde ich als erfolgreichster Beamter bei der Verbrecherbekämpfung ausgezeichnet.»

Der deutsche Verlag Zweitausendundeins hat Baldajews Bilder unter dem Titel «Gulag-Zeichnungen» herausgegeben. Das Buch liegt ebenfalls auf dem Tisch. Ich öffne es und bitte Baldajew, mir die Bilder zu erläutern.

«Haben Sie alles selber erlebt, was auf Ihren Lagerzeichnungen gezeigt wird?»

«Etwa bei einem Fünftel war ich selber dabei. Der Rest wurde mir erzählt.»

Er beginnt zu blättern. Er kommentiert die Abbildungen nüchtern und sachlich, als ob er vor Schulwandbildern stehen würde. Eine Zeichnung zeigt den Abtransport von Leichen aus einer Strafkolonie. Es ist Winter, die bewaffneten Aufseher tragen Pelzmützen mit Sowjetstern, über dem geschlossenen Lagertor hängen die Porträts von Marx und Lenin und der Spruch: «Als besserer Mensch in die Freiheit». Die Leichen sind auf einem Pferdewagen aufgeschichtet. Daneben steht ein Aufseher mit erhobenem Arm, in der Hand eine Spitzhacke. Die Toten haben Löcher in den Schädeln. Das, erklärt Baldajew ungerührt, das habe er oft gesehen. Man habe den Toten vor dem Wegschaffen sicherheitshalber noch den Schädel eingeschlagen. Denn immer wieder sei es vorgekommen, dass sich Lebende unter den Leichen versteckt hätten.

Auf einem anderen Bild sitzen Offiziere an einem Tisch. Sie gaffen mit lüsternen Gesichtern. Vor ihnen aufgereiht in Einerkolonne steht eine Gruppe nackter Frauen. Die Legende zum Bild: «Die oberen Ränge der Lagerhierarchie lassen die Frauen von «Volksfeinden» zur Mätressenschau antreten.» Das habe er nicht selbst gesehen, sagt der alte Mann, aber man habe es ihm erzählt.

«Wer?»

«Aufseher, Lagerleiter, vor allem ältere. In den staatlichen Erholungsheimen habe ich einige von ihnen gut kennen gelernt. Jeden Abend ist man zusammengesessen, hat getrunken, sich befreundet und von der Arbeit erzählt.»

So habe er auch erfahren, was mit einzelnen Frauen passierte, die sich weigerten, die Geliebte eines Lagerchefs zu werden. Baldajew kramt aus einer Mappe eine Zeichnung hervor, die im Buch nicht abgedruckt wurde. Eine junge Frau starrt dem Betrachter entgegen. Sie sitzt. Auf einem Ameisenhaufen. Ihr Oberkörper ist an einen Baum gefesselt. Die Beine sind an einen Pflock gebunden und gespreizt. In ihre Scheide hat man ein kleines Rohr gesteckt. Im Hintergrund sieht man Aufseher mit Gewehren und andere Frauen bei Holzarbeiten.

«Was haben Sie empfunden bei solchen Schilderungen?»

«Die Leute erzählten diese Geschichten mit grösstem Vergnügen. Sie fanden es richtig, was sie getan hatten. Ich war erstaunt, dass es so viele grausame Menschen gibt. In meiner Seele hat es gearbeitet, aber ich habe nicht dagegengeredet. Die Aufseher waren brutal und ungebildet, wer nicht mitmachte, war in Gefahr, selber getötet zu werden.»

«Haben Sie mitgemacht?»

«Ich war anders, ich hatte die Matura und redete auch nicht so grob. Es gab einige weiche Wächter, die soffen sich zu Tode. Ich bin stark. Vor einem Jahr sagte mir mein Arzt, ich hätte Blutkrebs. Das kann nicht sein, antwortete ich, mein Vater war reich und unsere Familie seit Generationen gesund. Sie untersuchten mich und testeten mich und nahmen mein Blut. Und nach zwei Monaten sagte der Arzt: Dancik, Sie haben Recht gehabt, Sie sind kerngesund.»

«Die Gräuel auf Ihren Bildern spielten sich vor Jahrzehnten ab. Sie zeichneten sie vor zehn Jahren. Wie kann sich jemand nach so langer Zeit derart präzis an alle Details erinnern?»

«Ich hatte meine Aufzeichnungen. Und ich bin wie eine lebende Kamera. Ich sehe etwas, und es ist gespeichert. Dein Gesicht zum Beispiel.» Er mustert mich kurz mit einem intensiven, prüfenden Blick. Ein kalter Fahnderblick. «Ein gutes Gesicht», fährt er fort, «aus einer intelligenten Familie. Ich werde es nicht mehr vergessen.» Er sagt es lächelnd. Ich fühle mich, als wäre ich soeben fotografiert und heimlich registriert worden.

Auf einer weiteren Zeichnung ist eine verschmutzte Zelle zu sehen. Die Wände sind voller Kritzeleien, und auf dem Boden sitzt ein Häftling. Seine Haltung ist verkrümmt, die Hände sind auf den Rücken gefesselt, die Arme in unnatürlicher Weise verrenkt. «Ha», lacht Baldajew plötzlich, «diese Methode haben wir bei schlimmen Kriminellen angewandt. Ei, wie es geknackt hat, wenn die Gelenke auskugelten. Und wie schnell die Hände schwarz wurden. Nie mehr hat so einer nachher die Faust gegen einen Aufseher erhoben.» Die Erinnerung an die alten Zeiten scheint ihn in gute Laune zu versetzen. Lachend berichtet er von anderen Disziplinierungsmassnahmen, aber auch von derben Streichen und Scherzen, die sich die Kollegen untereinander geleistet hätten. Heute jedoch, schliesst er nach einer Weile nachdenklich, könnte er nicht mehr bei der Polizei arbeiten. «Keine Ordnung, kein Zusammenhalt, jeder bestiehlt jeden.»

«War der Vater zufrieden mit Ihnen?»

«Er war wahrscheinlich stolz auf mich. Seine Kollegen im Institut sagten, es sei doch unmöglich, dass der Sohn eines Wissenschafters bei der Polizei arbeite. Mein Vater antwortete, wenn nicht Leute wie sein Sohn dort arbeiten würden, müssten sie Angst haben, abends alleine auf die Strasse zu gehen.»

«Wenn Sie einen Sohn hätten, was würden Sie ihm über Ihr Leben erzählen?»

«Ich würde ihm alles erzählen, alles. Und ich würde es ihm so erzählen, dass er weiss, dass man nicht ein wildes Tier sein darf.»

«Wenn jemand Sie fragen würde, ob Dancik Sergejewitsch ein guter Mensch sei, was würden Sie ihm antworten?»

«Jeder hat sein Leben. Und jeder hat sein Lebensbuch.»

«Konkreter bitte.»

«Ich bin ein Sowok (Abkürzung für Sowietskij ogranitscheny kollega, ein etwas naiver sowjetischer Kumpel; nicht sehr schmeichelhafte Bezeichnung, die gleichzeitig Müllschaufel bedeutet). Ich wäre gerne ein Gelehrter geworden, wie mein Vater, aber ich habe nicht studiert und bin daher beschränkt. Mein Leben lang habe ich das eine gedacht und das andere gesagt. In der Kriminalpolizei gab ich zum Beispiel Wandzeitungen heraus, man musste ja gesellschaftliche Arbeit leisten, alle machten das, also ich war Maler und Texter, und ich habe mich verachtet für den Blödsinn, den ich da geschrieben habe.»

«Sind die Gulag-Bilder eine Rache?»

«Nein, die nächste Generation soll wissen, wie fürchterlich wir gelebt haben. Ein Alptraum. Das darf nie mehr passieren.»

Baldajew klopft die niedergebrannte Zigarette aus dem Halter und steckt eine neue hinein. Er nimmt das Buch über seinen Spürhund Sultan und schreibt mit makellosen Buchstaben einige Zeilen auf die Innenseite des Umschlags. «… vom Autor dieses nebenliterarischen Opus in freundschaftlichem Gedenken an unser Treffen. 16. August 1999.» Dann hält er inne, schaut auf die Armbanduhr und vervollständigt die Widmung. «20.31 Uhr, St. Petersburg». Feierlich überreicht er mir das Bändchen. Ü

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