Das Magazin

24.06.2000

Die Schlange

Zwischen Romanshorn, Biberist und Zürich wurde die Befreiung Kosovos mit Waffengewalt geplant. Unter Anleitung von Hashim Thaci. Ein Zwischenbericht.

von Eugen Sorgund Tom Haller (Bilder)

Gut möglich, dass Hashim Thaci mit einer Kugel im Kopf enden wird wie etliche seiner ehemaligen Mitkämpfer. Aber politische Prognosen sind nicht viel mehr wert als Zahlen, die man auf den Lottozettel schreibt. Speziell auf dem Balkan. Denn wer hätte voraussagen können, dass ein Student aus Kosovo innert kurzer Zeit eine Politkarriere absolvieren würde, wie sie in einem ganzen Jahrhundert nur wenige Male vorkommt?

Das Erste, was auffällt, ist der schlaffe Händedruck. Den hätte man nicht erwartet, nicht bei einem Mann wie Hashim Thaci. «Bitte, nehmen Sie Platz», sagt er daraufhin mit leiser Stimme, schlüpft in das dunkle Anzugoberteil, knöpft es zu und lässt sich auf der anderen Seite des Tisches nieder. Sein Blick weicht bei jeder Begegnung ins Unverbindliche aus, wie wenn man sich zufällig im Tram gegenübersitzen würde. Kaum schaut man jedoch woanders hin, glaubt man seine prüfenden Augen auf sich zu spüren. Dann streift er die schwere Uhr vom Handgelenk und legt sie vor sich auf den Tisch. Der proper-smarte Kosovare wirkt wie ein mittlerer Angestellter einer Bankfiliale, der einem wenig attraktiven Kunden eine Routineanlageberatung verpasst.

«Herr Thaci, Ihr politisches Ziel und das Ihrer Mitkämpfer ist selbstverständlich die Demokratie. Haben Sie bestimmte Modelle vor Augen?»

«Meine Ideologie ist die Freiheit und die Unabhängig… (er korrigiert sich schnell) Demokratie von Kosova. Wir arbeiten in Richtung einer parlamentarischen Regierungsform.»

«Welcher? Mit einem starken Präsidenten wie in den USA? Oder eher wie die Schweiz?»

«Mit starkem Premierminister.»

«Also sitzt der künftige Premier Kosovos vor mir?»

Thaci lacht. Dann redet er viel von Freiheit, von Demokratisierungsprozessen, von Fortschritt, von der Arbeit an einer Verfassung, von der Uno-Resolution 1244, welche die staatliche Souveränität Kosovos einschränken würde. Sein Deutsch ist begrenzt, wirkt eher angelesen als im Gespräch erprobt. Er spricht tonlos, einschläfernd und formelhaft, als würde er einen oft wiederholten Pflichtstoff herunterleiern.

Als der junge Kosovare Hashim Thaci vor acht Jahren sein Geschichtsstudium an der Universität Pristina abgeschlossen hatte, gab es für ihn wenig Anlass für einen frohgemuten Blick in die Zukunft. In weiten Teilen des auseinander brechenden Jugoslawien regierte die Politik des Massakers, und in Kosovo setzte Belgrad die Bevölkerungsmehrheit der Albaner immer stärker unter Druck. Sie wurden systematisch aus allen Ämtern und Institutionen hinausgeworfen, in ihren Rechten verletzt und von den serbischen Medien verhöhnt und beschimpft.

Thaci hatte sieben Geschwister, und seine Familie war arm. Er hatte zwei Möglichkeiten. Er konnte als Arbeitsloser in den Kaffeehäusern Pristinas herumsitzen und vom Geld leben, das seine älteren Brüder in Österreich als Fremdarbeiter verdienten. Oder er konnte selber auswandern, um den sporadischen Prügeln der serbischen Polizisten zu entgehen und als Bauarbeiter oder Buffetbursche sein Glück zu versuchen. Thaci entschied sich für eine dritte Variante. Er werde eine Armee gründen, verkündete er eines Tages im Café, er werde kämpfen und sein Land von den Serben befreien. Die Kollegen antworteten mit einem müden Lächeln.

Zwei Jahre später, 1995, flüchtete Thaci in die Schweiz, schrieb sich an der Universität Zürich ein, erhielt politisches Asyl und ein Stipendium. Kosovo ist klein, und den Spitzeln des serbischen Geheimdienstes war nicht entgangen, dass sich Thaci und einige andere an den Aufbau einer «terroristischen Organisation» gemacht hatten, wie es in der Diktion Belgrads hiess. Die Befreiungsarmee Kosovo, UCK, so taufte sich die Truppe stolz, bestand anfänglich aus einer Hand voll Genossen, die Geheimtreffen abhielten, Geheimpapiere verfassten, ein paar Waffen über die albanische Grenze schmuggelten, diese an geheimen Orten lagerten und sich Verschwörernamen gaben. «Grosser Onkel» zum Beispiel oder «Schlange», wie Thaci sich nannte. Ausserhalb der eigenen Reihen und des serbischen Geheimdienstes wusste längere Zeit kaum jemand um die Existenz der UCK. Sie war allenfalls ein Gerücht.

«Die UCK-Elite, die Jungen wie Sie und auch die Älteren sind in einem diktatorischen Regime aufgewachsen. Später habt ihr in konspirativen, militaristischen Kommandos politisiert. Keine gute Schule der Demokratie. Diese aber braucht Personen und Gruppen, welche diese Idee verkörpern und vorleben.»

«Wovon Sie sprechen, ist das Malaise Südosteuropas. Aber wir haben viel gelernt, wie man arbeiten, wie man kämpfen und wie man einen Staat lenken kann. Die meisten politischen und militärischen Leiter der UCK haben im Westen studiert. Darum haben wir eine ganz klare demokratische Ausrichtung. Und darum hat uns die internationale Gemeinschaft auch unterstützt in unserem Befreiungskampf.»

«Noch vor zwei Jahren hat der damalige amerikanische Sonderemissär für den Balkan die UCK als terroristische Organisation bezeichnet. Wie hiess der Mann schon wieder?»

Thaci schweigt.

«Ach ja, Gelbard, er hiess Robert Gelbard, und er hat…»

Jetzt fällt Thaci ins Wort. Er redet immer noch leise, aber sehr bestimmt. «Wir haben immer die Regeln des Krieges respektiert. Wir haben gegen serbische Uniformen gekämpft, aber nie gegen Zivilpersonen.»

Die Wahl der Schweiz als Asylland war konsequent. Hier lebten schätzungsweise 130 000 Kosovo-Albaner, die nach Italien grösste Diaspora-Gemeinde. Deren Bedeutung als «Steuerzahler» für die UCK war erstrangig. Hier lebten aber auch zum Teil seit Jahren eine Reihe anderer Verfolgter des Belgrader Regimes, Altverschwörer sozusagen, Träumer eines Grossalbaniens, die mit dem «Zeri i Kosoves» (Stimme des Kosovo) auch über eine eigene Zeitung verfügten.

Tagsüber besuchte Thaci Vorlesungen über Aussenpolitik, Vergleichende Regierungslehren, Afghanistan-Krieg. Er suchte das Gespräch mit den Professoren, die ihn als aufmerksamen, höflichen, aber letztlich undurchsichtigen Studenten in Erinnerung behielten, während er keinerlei Interesse an näheren Kontakten zu Mitstudenten zeigte. Seine zweite, inoffizielle, aber richtige Existenz begann, sobald er das Uni-Gelände verliess. Mit seinen Gesinnungsgenossen baute die «Schlange» die Kommandostruktur der UCK auf, trieb die Mittelbeschaffung voran, fädelte Waffentransfers zwischen Romanshorn, Biberist, Zürich und Lausanne ein, längere Zeit unbemerkt von den schweizerischen Behörden.

Der von Thacis UCK verachtete, aber übermächtige Konkurrent war Ibrahim Rugova. Der in Pristina lebende Literaturwissenschafter wurde von den Kosovaren als legitimer Führer, als nationaler Vater anerkannt. Seine Partei LDK predigte den gewaltfreien Widerstand und die Macht der Geduld. Als Belgrad die Autonomie Kosovos 1990 gewaltsam zerstörte, antworteten die Kosovaren auf Rugovas Anregung mit der Errichtung eines Schattenstaates, das heisst einer Parallelgesellschaft. Regierung, Parlament, Schulen, Spitäler, kulturelle Einrichtungen wurden geschaffen, grösstenteils in Privathäusern und mit den Mitteln eines Solidaritätsfonds, in welchen jeder Albaner drei Prozent seines Einkommens einzahlte.

Die Albaner waren im Laufe ihrer Geschichte verschiedensten Fremdherrschaften unterworfen gewesen. Alle hatten versucht, ihre Rechtsordnung durchzusetzen, meistens mit roher Gewalt, manchmal mit Versprechungen, und alle waren sie gescheitert – die Römer, die Byzantiner, die Türken, die Serben, die Kommunisten und zuletzt wieder die Serben. Die Albaner entwickelten die Kunst der Doppelexistenz zur Perfektion. Gegen aussen schienen sie die jeweiligen Gesetze zu akzeptieren, in Wirklichkeit aber ignorierten sie diese. Bindend blieb für sie das uralte Gewohnheitsrecht, der Kanun, ein archaisches Regelwerk, das die sozialen Beziehungen innerhalb der zutiefst patriarchalen Familien und zwischen denselben regelt.

Vor 70 Jahren wurde der vom Vater auf den Sohn überlieferte Verhaltens- und Moralkodex erstmals gedruckt. Er umfasst 1260 Gesetze, davon 22, die sich auf die Blutrache beziehen. Durch den ganzen Kanun zieht sich das Thema der Ehre. Zentrum der albanischen Gesellschaft ist die Familie. Die Unabhängigkeit und die Ehre des Hauses zu erhalten, ist die vordringlichste und alleinige Aufgabe des Oberhauptes. Es existierte nie eine übergeordnete gerichtliche Instanz, und sie wäre auch nie akzeptiert worden. Ehebruch etwa ist strengstens verboten. Die Braut überreichte ihrem Mann bei der Heirat eine Patronenkugel. Für den Fall, dass sie ihn seiner Ehre berauben sollte.

Die Wiederherstellung der Ehre eines Hauses konnte sich über mehrere Generationen hinziehen, bis zur Auslöschung sämtlicher männlicher Mitglieder einer Sippe. Die Tradition sieht aber auch vor, dass Familienstreitigkeiten für eine bestimmte Zeit beigelegt werden, wenn Gefahr von einem äusseren Feind droht. 1990 wandten sich angesehene Persönlichkeiten an die Familienältesten des Landes und riefen mit einer allgemeine Besa, einem Eid, die grosse Versöhnung, aus. 1000 Fälle von offenen Blutfehden zwischen Familien wurden daraufhin vorübergehend begraben. Die gleichen Sozialstrukturen, die für das Verharren im Clandenken verantwortlich waren, ermöglichten aber auch diese erstaunliche Leistung der Kosovaren: innerhalb kürzester Zeit und unterhalb der serbischen Gewehrläufe eine funktionierende Gegengesellschaft aufzubauen. Die Selbstverantwortlichkeit für die häusliche Souveränität hatte die entsprechenden Fähigkeiten hervorgebracht.

Die Stunde Thacis und der UCK schlug 1996. Der Daytoner Friedensvertrag für Bosnien-Herzegowina behandelte Kosovo nicht. Die Enttäuschung bei den Kosovaren war gross. Der Westen hatte die Politik der pazifistischen Verweigerung nicht honoriert, die Serben durften weiterhin Albaner zusammenschlagen, und Dr. Rugova konnte sie offenbar nicht schützen. Gab es wirksamere Wege und mächtigere Führer?

Im April 1996 wurde in Pristina ein albanischer Student von einem Serben erschossen. Darauf wurden in den nächsten zwei Monaten einige serbische Zivilisten und Polizisten umgebracht. Die bislang weitgehend unbekannte UCK übernahm die Verantwortung. Sie liess ein Bombenattentat auf den ultranationalistischen Rektor der serbisierten Universität Pristina folgen. Im November 1997 wurde in Thacis Heimatregion, in Drenica ein Fahrzeug der serbischen Miliz beschossen. Im anschliessenden Scharmützel kam der albanische Dorfschullehrer Halit Gecaj zu Tode, wahrscheinlich zufällig. Er wurde zum Märtyrer verklärt, und zu seinem Begräbnis erschienen 20 000 Menschen. Darunter drei vermummte Kämpfer in UCK-Tarnuniformen. Mit der Kalaschnikow vor der Brust versprachen sie, dass das Blut des Ermordeten nicht umsonst geflossen sei. Es war der erste öffentliche Auftritt der Guerilla. Kein serbischer Uniformierter zeigte sich an diesem Tag.

Mit jedem weiteren Anschlag wuchs die Popularität der UCK. Sie schien Rache und Rettung und mythisches Heldentum zu versprechen, und immer mehr junge Burschen wollten sich ihr anschliessen und kämpfen. Im Frühsommer 1998 prahlte die UCK in Communiqués, dass sie bereits 40 Prozent des Territoriums Kosovos beherrschen würde. Rugova geriet in Bedrängnis und liess verbreiten, die UCK sei eine Erfindung des serbischen Geheimdienstes. Andere Exponenten seiner pazifistischen Partei LDK wiederum suchten das Schwinden ihres Einflusses aufzuhalten, indem sie selber eine Armee auf die Beine stellten: die bewaffneten Kräfte der Republik Kosova, die FARK. Sie hatten keinen Erfolg.

Thaci, immer noch Student in Zürich, und seine Kommandanten duldeten keine inneralbanische Konkurrenz. Die FARK-Offiziere traten entweder der UCK bei, oder sie wurden wie der angesehene Militärexperte Ahmet Krasniqi «von Unbekannten» liquidiert.

Die serbischen Machthaber ihrerseits wurden nervös und antworteten auf die bewaffneten Provokationen mit gewohnter Brutalität und Massakern. Und im Sommer 1998 lancierten sie eine Grossoffensive. Innerhalb weniger Wochen kontrollierten ihre massiven Truppen wieder ganz Kosovo. Die Kalaschnikow-Krieger der UCK waren angesichts des waffentechnisch weit überlegenen Feindes davongerannt. Zurück blieb die schutzlose Zivilbevölkerung. Die serbischen Milizen fackelten über 400 albanische Ortschaften ab – oft unter Mithilfe von serbischen Dorfbewohnern -, und 300 000 Kosovaren wurden vorläufig vertrieben.

Es kann nicht sein, dass die UCK-Führer nicht um ihre krasse Unterlegenheit gewusst hätten. Ebenso war jedem von ihnen klar, wie Belgrad auf den Aufstand reagieren würde. Warum also liessen sie sich trotzdem auf eine Konfrontation ein, deren Ausgang von vornherein festgelegt war?

Dr. Rugovas Politik hatte ihm den ehrenvollen Titel «Gandhi des Balkans» eingetragen. Die Serben aber waren immer noch in Kosovo und demütigten die Albaner. Aus eigener Kraft konnten diese die Situation nicht umkrempeln. Der Westen musste eingespannt werden. Nicht nur mit Beobachtern und gütigen Hilfswerken, sondern mit seiner militärischen Macht.

Dies würde er aber nur tun, wenn den internationalen Medien Bilder von einer bedrohten Nation geliefert werden konnten. Bilder von geschändeten Frauen, massakrierten Grossmüttern, verstörten Kindern. In Bosnien hatte der Westen drei unerträglich lange Jahre zugewartet, bis er eingegriffen hatte. Noch einmal so lange zuzuschauen, wie ein europäisches Volk vor den Kameras der Welt offenbar wie Robbenbabys erschlagen wurde, konnten sich die demokratisch gewählten Politiker nicht leisten. Dies dürften in etwa die Überlegungen der in der Schweiz und in Tirana sitzenden UCK-Strategen gewesen sein, als sie ihre Soldaten in einen scheinbar aussichtslosen und heldenmütigen Waffengang mit der jugoserbischen Militärmaschine schickten.

Ende November 1998 meldete sich der Thaci bei seinen Professoren in Zürich ab. Er habe in der Heimat zu tun. Drei Monate danach, im Februar 1999, riefen diese aufgeregt ihre Frauen vor den Fernseher. Der 30-jährige Student war in den Nachrichten zu sehen. Er war Chef der albanischen Delegation, die im Schloss Rambouillet mit den serbischen Abgesandten über die Zukunft Kosovos verhandelte.

Die Serben hatten in Racak ein weiteres Rachemassaker verübt. Darauf waren die Gegner unter Androhung eines Nato-Angriffs von den Weltmächten an den Verhandlungstisch gezwungen worden. Einen Monat später, am 24. März, bezeichnete Milosevic den Rambouillet-Vertrag als «Betrug» und kündigte alle weiteren Kontakte mit der Friedensrunde auf. Die Nato musste angreifen, wollte sie die Glaubwürdigkeit nicht verlieren. Noch am selben Tag starteten ihre Bomber gegen Serbien.

«Sie waren noch Student, als Sie plötzlich mit den Lenkern dieser Welt über die künftigen Geschicke Ihres Volkes entscheiden mussten. Was waren die wichtigsten Dinge, die Sie in dieser Zeit lernen mussten? Sie waren ja nicht vorbereitet für diese Aufgabe.»

«Ich war vorbereitet. Ich hatte seit zwölf Jahren Politik gemacht. Ich war bei der UCK-Gründung dabei und habe deren politische Orientierung mitformuliert. Und ich habe auch mit meinem Zürcher Professor, Herrn Goehrke, über die historischen und politischen Probleme des Balkans diskutiert.»

«Trotzdem, die Verantwortung für ein ganzes Volk ist noch etwas anderes.»

«Wir haben diese Verantwortung übernommen, als wir die UCK gegründet hatten.»

Das Kalkül war aufgegangen. Man könnte es als taktische Meisterleistung bezeichnen, was Thaci als politischem Kopf der UCK gelungen war. Das mächtigste Militärbündnis der Geschichte erledigte die Arbeit einer dubiosen nationalistischen Guerilla in einer kleinen, randständigen Region. Nach zweieinhalb Monaten Bombardement gab es keine serbische Uniform mehr in Kosovo, und Serbiens militärisch-wirtschaftliche Infrastruktur war schwer beschädigt. Belgrad kapitulierte.

«Sie sind ein junger Führer, speziell für kosovarische Verhältnisse. Was bedeutet das für Ihre Gesellschaft?» ·

«Die Welt gehört den jungen Leuten. Ich bin stolz, dass ich auch jung bin.»

«Heisst das, dass ein Wandel…?»

Thaci unterbricht ungeduldig.

«Es ist ein Wandel in der Mentalität von Kosova, ein Wandel zu einer modernen Mentalität. Die jungen Leute versuchen, die Zukunft des Landes in die Hand zu nehmen und den politischen Prozess der Veränderung zu leiten.»

«Andererseits hat man aber den Eindruck, dass gerade die UCK mit archaischen Bildern gearbeitet hat. Beispielsweise die legendäre Szene mit dem Lehrer Gecaj: ein klassischer Ursprungsmythos. Am Grabe des Opfers wird ewige Rache für das vergossene Blut eines der Unseren geschworen.»

«Die UCK war nie Mythos. Sie ist modern und progressiv.» Thaci lacht triumphierend. «Die UCK war immer Realität. Darum hat sie gewonnen.»

«Sie hat gewonnen, weil die Nato Flugzeuge geschickt hat.»

«Die Nato war auch Realität.»

800 000 der etwa 1,4 Millionen Flüchtlinge (Kosovo hat 1,8 Millionen Einwohner) kehrten gleich nach Ende des Krieges wieder zurück. Die allermeisten waren übrigens, gemäss der Logik der Vergeltung, erst mit dem Beginn der Nato-Schläge vertrieben worden. Jetzt flohen die Serben, die Roma, die Bosniaken, die Nichtalbaner, ihre ausgeraubten und brennenden Häuser hinter sich lassend. Heute, ein Jahr später, lebt noch knapp die Hälfte der vormals über 200 000 Serben in Kosovo. Vor allem ältere Leute, Tag und Nacht in Enklaven, bewacht von den internationalen Kfor-Truppen.

«Die westliche Bevölkerung hatte während des Krieges grosse Sympathien für das albanische Volk. Dann kippte die Stimmung wieder, als die Zeitungen berichteten, wie die Sieger ihrerseits auf die Serben losgingen, auf die Zigeuner und auf alle anderen Minderheiten.»

«Die westlichen Medien haben ein bisschen übertrieben. Ein paar Serben gingen weg. Ich kann sie verstehen. Sie haben eben am Krieg teilgenommen.»

«Es wurde Ihnen auch der Vorwurf gemacht, dass Sie als politischer Leader zu wenig gemacht hätten, um die Verfolgungen zu stoppen.»

«Die Frage stellt sich, welche Kompetenzen wir hatten. Die ganze Macht lag bei der Kfor und der Unmik. Und wir Kosovaren hatten keinen einzigen Polizisten.»

«Aber die Leute hören auf ihre Führer.»

«Sie hören auf uns, sonst wäre es noch viel schlimmer gekommen. Aber ich hoffe, Sie haben auch gehört, dass in Serbien immer noch Leute von uns im Gefängnis sind und dass deren Angehörige hier sehr wütend darüber sind, auch auf uns, weil sie denken, wir würden nicht genug für sie machen.»

An den Racheakten waren nebst Plündertouristen aus dem benachbarten Albanien auch UCK-Mitglieder beteiligt. Aber nicht nur Minderheiten, auch Albaner wurden deren Opfer. Nach dem Abzug der Serben gab es keine Verwaltung, keine Instanzen, die Regeln durchsetzen konnten, es gab keinen Staat. In das Vakuum stiessen die siegreichen UCK-Kommandanten vor. Sie betrachteten die von den Serben hinterlassenen Geschäfte, Restaurants, Tankstellen, Unternehmen, Gebäude und gesellschaftlichen Schlüsselpositionen als ihre natürliche Beute, die sie je nach Ranghöhe und Einfluss in Besitz nahmen. Dies führte selbstverständlich auch zu Konflikten, die nach Mafiamanier mit Liquidationen gelöst wurden.

Das öffentliche Ansehen der UCK-Führer sank schnell. Auch Fälle von Schutzgelderpressung sprachen sich herum. Es nützte nichts, dass Thaci zum Beispiel verbreiten liess, diese kriminellen Aktivitäten seien von Leuten mit gefälschten UCK-Ausweisen begangen worden, um gezielt den Ruf der Befreiungsorganisation zu zerstören und damit Kosovo zu destabilisieren. Woher, fragten sich die Leute, hatte denn der aus einer Bauernfamilie stammende Thaci selber plötzlich dieses viele Geld? Sein Bruder war mit einem Koffer mit einer Million Dollar von der Uno-Polizei vorübergehend festgenommen worden.

«Vor dem Krieg hatte man Angst vor den Serben. Nun sind sie weg, und alle sind froh. Dafür hört man, dass neuerdings Albaner Angst vor Albanern haben.»

«Das ist eine Sache, die man hier nicht hört. Aber natürlich kann man es schreiben. Ein Albaner hat keine Angst vor einem Albaner. Das ist serbische Propaganda.»

«Ehemaligen UCK-Kommandanten sagt man nach, sie seien brutal und skrupellos.»

«Vor UCK-Leuten kann niemand Angst haben. Sie haben für die Freiheit von Kosova gekämpft und nicht, um Angst zu bringen.»

«Auch Ihr Name wird immer wieder erwähnt. Man wundert sich, wie Ihr Bruder zu so viel Geld kommen konnte.»

«Das ist Propaganda, die nach dem Krieg von Belgrad aus gestartet wurde.»

«Wenn wir im Kaffeehaus anfingen, über Politik zu sprechen, schauten sich die Leute an unserem Tisch verstohlen um und sagten, pscht, die Wände haben Ohren.»

«Ich antworte nicht auf die Meinung der Strasse.»

«Die sollte Sie aber interessieren. Dort sind Ihre Wähler.»

«Es interessiert mich, aber ich kann nicht jedem Einzelnen antworten.»

«Sicher. Aber die Leute glauben, dass der UCK-Geheimdienst immer noch existiert.»

«Der Geheimdienst der UCK? Sicher nicht.»

«Viele Leute denken, er sei verantwortlich für die Ermordung einer Reihe ehemaliger UCK-Kommandanten. Zum Beispiel von Kommandant Drini, der als Letzter dieser Serie vor einigen Tagen in Prizren am helllichten Tage erschossen wurde. Es ist allgemein bekannt, dass er ein politischer Konkurrent von Ihnen war.»

«Dieselben Leute, die unsere Kommandanten während des Krieges erschossen haben, haben auch Drini erschossen.»

Ein Jahr nach der Befreiung kursieren in der Bevölkerung wieder tausendundeins Gerüchte. Über Auftragsmorde, über sagenhafte Gewinne einzelner Profiteure, über Korruption. Niemand glaubt, dass die UCK wirklich alle Waffen abgegeben hat. Nur schon, weil die meisten selber eine Waffe zu Hause haben. Alles ist möglich, alles ist allen zuzutrauen, und jeder ist sein eigener Verschwörungstheoretiker.

Auch die multinationale Uno-Verwaltung, die Unmik, steht längst unter Korruptionsverdacht. Zudem ist sie wirklich schwach. Zu wenig Polizisten, noch weniger Richter, ein exotisches Element im Stadtbild, aber keine Ordnungsmacht. Die uralte balkanische Krankheit des Argwohns hat sich wieder breit gemacht. Wer könnte einen schützen? Wo niemandem getraut werden kann, bleibt nur die eigene Familie, der eigene Clan.

«Herr Thaci, kennen Sie den Ausdruck «ausknipsen»?»

«Ausknipsen?» Er wiederholt das Wort leise und schaut ratlos suchend, beinahe theatralisch auf einen imaginären Punkt im Raum.

«Ausknipsen. Das Wort kommt von Schalter ausknipsen.»

«Sagen Sie ausknipsen? Ich verstehe nicht.»

«Ausknipsen. Ein Freund hat mir erzählt, dass er mit einigen ehemaligen UCK-Kämpfern zusammengesessen sei, man habe getrunken, und auf einmal hätten diese erzählt, wie sie diesen ausgeknipst hätten und jenen. Es bedeutete, einen Gegner auslöschen, und sie hätten das Wort so selbstverständlich gebraucht wie essen oder trinken oder Zigaretten kaufen gehen.»

«Das habe ich nie gehört. Ausknipsen, sagen Sie?» Und wieder macht er ein staunendes Gesicht und schüttelt entschuldigend den Kopf, als ob er nach dem Weg gefragt worden wäre, aber leider nicht weiterhelfen könne.

Staat war für die Kosovaren immer etwas Fremdes, Feindliches, Abstraktes. Diesen auszutricksen und dessen Vertreter zu belügen, war ein Gebot der Schlauheit und eine Frage der Identität. Ohne ihn ging es besser. Tatsächlich funktioniert das tägliche Leben in den Städten trotz weitgehender Abwesenheit von Staat erstaunlich gut. Nun sollen sie mit Hilfe des Westens zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen eigenen Staatsapparat aufbauen. Gegen die eigene Tradition gewissermassen.

Einen ersten Traditionsbruch haben Thaci und seine jungen Kommandanten bereits vollzogen. Sie haben Rugova angegriffen. Sie haben das Vorrecht der Alten, zu reden, so lange sie wollen, und die letzten Entscheide zu fällen, missachtet. Sie haben als Söhne gegen den Vater geputscht. Nur: Bei den letzten Meinungsumfragen bekam Rugova die Hälfte der Stimmen, viel mehr als Thaci, der weit hinten abgeschlagen landete.

Im Herbst sind Kommunalwahlen. Eine ganze Anzahl ehemaliger UCK-Kommandanten hat eigene Parteien gegründet. Deren Programme sind mehr oder weniger identisch. Alle reden von Demokratie, wollen die Freiheit, stehen ein für den Fortschritt. Und alle haben eine ähnliche Struktur. An der Spitze steht ein autokratischer, männlicher Führer, umgeben von einer loyalen Gefolgschaft, welche aus der gleichen Region stammt wie der Chef. Die Parteien gleichen grossen Clans. Unmik und Kfor werden noch eine Weile im Land bleiben.

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