Das Magazin

25.08.2001

Die Spur des Löwen

Der legendäre Guerillaführer Ahmed Shah Massud ist der Todfeind der Taliban. Er hat bisher verhindert, dass ganz Afghanistan von den rabiaten Koranschülern in einen trostlosen Gottesstaat verwandelt wurde. Massuds Lage ist aber prekär. in Besuch bei einem grossen Krieger.

Text Eugen Sorg Bilder Nathan Beck

«Als Allah die übrige Welt erschaffen hatte, sah Er, dass noch viel Abfall übrig geblieben war, Teilchen, Stücke und Sachen, die nirgendwo gepasst hatten. Er sammelte sie alle ein und warf sie hinunter auf die Erde. Das war Afghanistan.» (Afghanische Weisheit)

«Warum, Ahmed Shah Massud, sind Sie eigentlich immer noch am Leben?»

«Ich weiss nicht, warum ich überlebt habe. Unser Schicksal liegt in Gottes Hand.»

Der afghanische Kommandant, laut «Wall Street Journal» der «Mann, der den Kalten Krieg beendete», auch «Löwe vom Panshir» genannt, seit sechsundzwanzig Jahren an der Front, Anführer der letzten Bastion gegen die Taliban, die von Pakistan gelenkten Brutal-Islamisten, Kommandant Massud lachte zum ersten Mal seit einer Stunde. Ein bubenhaftes Grinsen, das ein wenig an Robert De Niro erinnerte und das nicht recht zum fatalistischen Verweis auf den Allmächtigen passte.

«Vielleicht haben Sie auch gut aufgepasst.»

«Früher bewegte ich mich ständig. Nie blieb ich zwei Nächte am selben Ort. Noch vor dem ersten Gebet, noch bevor mich der erste Lichtstrahl des Tages für einen Piloten sichtbar gemacht hätte, war ich wach und bereits unterwegs. Ich wusste am Morgen nie, wo wir mittags und abends das Essen einnehmen und wo wir übernachten würden. Nichts wurde vorgeplant. Und wenn ich an einem Ort ankam, unter einem Baum oder in einem Garten, und mit den Leuten sprach, um zu hören, was sie dachten, bewegten wir uns gleichzeitig langsam weiter. Darum verfehlten mich die russischen Bombenangriffe immer um sechs, zehn Stunden.»

Wir hatten Massud in seinem momentanen Hauptquartier in Khwaja Bahauddin getroffen, einem staubigen, heissen, Skorpion- und Malariaverseuchten Kaff im Nordosten Afghanistans. Bis hierhin hatten ihn die vordringenden Truppen der Koranschüler, der Taliban, gejagt. Der Ort liegt an der Schwemmebene des Amu Darya, auf dessen anderen Seite Tadschikistan beginnt. Von dort werden die für Massuds Nordallianz wichtigsten Güter angeliefert: Waffen und Munition aus dem Iran und Russland.

«Ein Taliban-Sprecher liess neulich verlauten, dass seine Männer noch vor Ende dieses Jahres das ganze Land erobern würden. Was ist Ihre Prognose?»

«Es ist nicht machbar, was er sagt, und es ist unvernünftig. Wir haben es früher angekündigt, und wir wiederholen es heute: Es gibt keine militärische Lösung für Afghanistan.»

«Sie selber setzten aber seit jeher auf Krieg.»

«Wir wehren uns gegen fremde Einmischung, gegen die Einmischung Pakistans, und unser Widerstand soll die Taliban zwingen, sich auf Verhandlungen einzulassen.»

Er würde sich irgendwann in den nächsten Tagen Zeit für ein Interview nehmen, hatte Massud uns ausrichten lassen. Um den Termin auf keinen Fall zu verpassen, bezogen wir Stellung unter einem schattigen Ahornbaum im Garten des Hauptquartiers. Noch andere sassen da mit uns. Es spricht sich jeweils sofort herum, wenn Massud wieder im Ort ist, und alle, die irgendein Problem zu lösen haben, versuchen bei ihm vorzusprechen. Wie bei einem Khan, einem traditionellen Stammesvorsteher.

Ein Mujaheddin in abgewetzten Turnschuhen beispielsweise wollte die Bitte vortragen, dass er und seine Kameraden das Essen für die Front nicht mehr selber von zu Hause mitbringen müssen. Ein anderer benötigte einen Transport in sein Dorf in einer entfernten Provinz, da sein Vater gestorben war. Ein Bauer mit einem fleckigen Turban wollte eine Bestätigung in einer verwickelten Geschichte um einen zu hohen Brautpreis. Ein zweiter wollte seinen Sohn, wegen Diebstahls in Haft, nach Hause holen, da er ihn dringend für die Feldarbeit brauchte. Und ein aus Kabul geflüchteter Schauspieler, der die ganze Runde mit einer grimmigen Parodie auf Mullah Omar, den Chef der Taliban, zum Lachen brachte, wollte die Unterstützung für einen Film über die Gotteskrieger.

Immer wieder stiessen neue Leute hinzu. Und die meisten wurden im Laufe dieses oder eines der folgenden Tage in ein kleines Lehmgebäude geführt, das als Massuds Büro dient. Zwischen Kriegsplanung mit den Frontkommandanten, Unterredungen mit verschiedensten Emissären, langen Gesprächen am Satellitentelefon hörte sich Massud die Anliegen der eingeschüchterten Bittsteller an. Oft kamen Letztere mit einem Fetzen Papier in der Hand nach einigen Minuten wieder heraus. Massud hatte persönlich eine Anordnung oder eine Bewilligung darauf gekritzelt.

Einige Male sahen wir Massud kurz, wenn er Besucher zum Abschied zur Tür geleitete oder wenn er das Büro verliess, um zu beten oder irgendwohin zu fahren. Er bewegte sich nie schlendernd oder plaudernd, sondern immer zielstrebig und äusserst konzentriert. Wenn er stehen blieb, dann um einen Soldaten zurechtzuweisen oder um den neuen Uniformstoff, den ihm jemand hinstreckte, zu überprüfen oder um einem Kommandanten einen Auftrag zu erteilen. Er war zweifellos ein Mensch, der keine Sekunde seiner Lebenszeit an eine Handlung verschwendete, die nicht einem klar definierten Zwecke diente. Und er schien sämtliche Dinge selber kontrollieren zu wollen. Von der Wahl neuer Uniformknöpfe bis zum Entscheid über Krieg und Frieden.

Der rote Prinz

Massud kam vor 49 Jahren in Jangalak zur Welt. Jangalak heisst «kleine Welt» oder «kleiner Dschungel», und es liegt im Panshir, einem fruchtbaren, sanft ansteigenden, rund 100 Kilometer langen Tal im Hindukusch nördlich von Kabul. Sein Vater war Offizier in der königlich-afghanischen Armee und hatte elf weitere Kinder mit drei Frauen. Massud absolvierte in Kabul das französische Gymnasium, begann ein Ingenieurstudium, das er nach einem Jahr wieder abbrach. Es war Ende der Sechzigerjahre, und auch der Campus von Kabul war von der damals weltweiten Unrast befallen. Für die umsturzfreudigen Studenten gab es zwei Optionen: Kommunismus oder politischen Islam. Massud wählte Letzteren und schloss sich dem Kreis um Professor Rabbani an, dem Islamisten, Schriftsteller und Führer der Partei Jamiat-i-Islami.

1973 putschte sich Mohammed Daud, ein Cousin des Königs Zahir Shah, mit Hilfe der Kommunisten an die Macht. Der diktatorische rote Prinz verjagte seinen Onkel ins italienische Exil, schaffte die Monarchie ab, belohnte die Kommunisten mit Ministersitzen und begann bald mit dem Bau des berüchtigten und gigantischen Gefängnisses von Pul-i-Charkhi, wo er seine islamistischen Feinde einkerkern wollte. Diese hatten 1975 einen bewaffneten Aufstand angezettelt, der aber in einem Debakel endete. Die Bevölkerung schloss sich den jungen Rebellen nicht an, und Daud nahm furchtbare Rache. Der 23-jährige Massud war einer der Anführer gewesen. Er konnte mit Glück sein Leben retten und tauchte unter. Sein langer Krieg hatte begonnen.

Apokalyptische Ängste

Daud wurde erst drei Jahre später gestürzt. Im Frühjahr 1978 wurden er, seine Familie und seine Leibwache von den Kommunisten erschlagen, welche den Staatsapparat übernahmen, um kurz darauf anzufangen, sich mit einer suizidal anmutenden Energie selber gegenseitig abzuschlachten. Gleichzeitig leiteten sie die marxistische Beglückung des Volkes derart ignorant und brutal ein, dass sich eineinhalb Jahre später zwei Drittel des Landes in offenem Aufruhr befanden. Nur an wenigen Orten waren die Erhebungen organisiert. So im Panshirtal, wo Massud mit einer Hand voll Getreuen ein geheimes Widerstandsnetz aufgebaut hatte.

Am Morgen des vierten Wartetages wurden wir in Massuds Büro gebeten, einen kahlen, provisorisch möblierten Raum. Der Kommandant werde gleich hier sein, beschied uns ein junger, smart wirkender Mitarbeiter in perfektem Englisch. Zehn Minuten später stand er plötzlich vor uns. Ich hatte kaum bemerkt, wie er zur Tür hereingekommen war und uns alle blitzschnell gemustert hatte, mit einem Blick so intensiv, dass man ihn beinahe körperlich spüren konnte. Doch als ich seinen Blick erwidern wollte, schaute er an einem vorbei und gab sich einen abwesenden, fast schläfrigen Ausdruck. Wie einer, der sich nicht in die Karten schauen lassen will. Einer, der sehen, aber nicht gesehen werden will.

Massuds schlanke Erscheinung war von einer herben Eleganz: das volle, sorgfältig frisierte Haar; der melierte Kinnbart; das dezent abgestimmte Graubraun seiner Feldkleidung; die Hände, gepflegt wie diejenigen eines Pianisten; die Stiefel aus weichem Leder; das herrisch-scharf geschnittene Gesicht. Sobald das Gespräch begann, verschwand seine offensichtlich gespielte Schläfrigkeit sofort, und er wirkte präsent und konzentriert.

Als das kleine afghanische Bruderregime gefährlich zu wanken begann, fällten die Herren in Moskau einen folgenschweren Entscheid. Um den Einfluss an der Südflanke des Imperiums zu sichern, überquerte an Weihnachten 1979 die Rote Armee den Amu Darya und besetzte Afghanistan. Der Westen war schockiert, und die Nato konterte mit der Stationierung einer neuen Generation Langstreckenraketen mitten in Europa, deren Atomsprengköpfe gegen die Sowjetunion zielten. Apokalyptische Ängste machten sich breit.

Kurz nach dem Einmarsch erhoben sich in sämtlichen Regionen, in allen Talschaften, Hochebenen, Oasen die Männer zum Jihad, zum Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen. Die Bewaffnung war anfänglich völlig ungenügend, oft abenteuerlich, mit Büchsen sogar aus der zaristischen Zeit. Es gab keinerlei einheitliche Kommandostrukturen, keine strategische Planung, keine taktische Koordination. Der Aufstand war völlig spontan.

Afghanistan war bis anhin ein unbekanntes orientalisches Märchenland gewesen, wo Hippies hinreisten, um Haschisch zu rauchen, und von wo sie den seltsamen Brauch importiert hatten, die Matratze ohne Bettgestell direkt auf den Boden zu legen. Jetzt war es mit einer dramatischen Beschleunigung zum Zentrum der Weltpolitik, zur heissesten Zone des Kalten Krieges geworden. Mit angehaltenem Atem verfolgte der Westen die Ereignisse. Naturgemäss zeigten die Militärs ein besonderes Interesse.

«Der Afghane ist äusserst zäh»

Die Widerstandskraft und der tollkühne Mut der afghanischen Mujaheddin weckten bewundernde Fantasien. «Der Afghane», schrieb beispielsweise die Zeitschrift «Afghanistan» (herausgegeben vom Schweizer Militärwissenschaftler Albert A. Stahel und von Paul Bucherer, Verwalter des Afghanistan-Archivs in Liestal), «ist äusserst zäh und überlebt selbst schwerste Verwundungen wie Kopfverletzungen, grossflächige Verbrennungen und Verstümmelungen.» Dort schien edelstes Kämpfertum, hochwertigstes soldatisches Rohmaterial zu existieren, von dem man in den hiesigen Kasernen mit ihren verweichlichten Rekruten nur träumen konnte.

Im Büro anwesend war nebst mir der Moskau-Korrespondent des Pariser «Figaro». Bevor wir mit dem Interview beginnen konnten, wies uns Massud mit einer kaum merklichen, aber trotzdem unmissverständlichen Geste an, die Tonbandgeräte noch nicht einzuschalten. Dann fing er an, den Franzosen über die Situation in Tschetschenien auszufragen.

Ob es einfach sei, nach Grosny zu gelangen. Ob dort immer noch gekämpft werde. In welchen Stadtteilen. Welche Partei die Leute wirklich unterstützen würde. Ob die Russen immer noch die gleiche Taktik wie in Afghanistan anwenden würden, also klassische Konterguerilla. Ob sie erfolgreich seien. Wer der Führer der Wahabiten sei. Ob es einen politischen Führer gebe.

Er stellte kurze, zielgerichtete und präzise Fragen, ohne die Antworten zu kommentieren und ohne preiszugeben, was er bereits darüber wusste. Wie ein vorgesetzter Offizier, der einen Lagebericht abnimmt. Und der Franzose, den ich eben noch als ausserordentlich redseligen Menschen kennen gelernt hatte, redete plötzlich ein auf die reine Information verknapptes Stakkato, als müsste er militärischen Rapport erstatten.

Es ging etwas Zwingendes, Ernstes von Massud aus, etwas, das jede Leichfertigkeit, jedes Fraternisieren oder Augenzwinkern verbot. Die Bediensteten wagten nicht, ihm in die Augen zu schauen, aber auch die abgebrühten Frontgeneräle entwickelten eine nervöse Beflissenheit, wenn sie ihm gegenüberstanden. Eine Fotografie aus dem Jahre 1985 zeigt im Vordergrund einen unbewaffneten Massud, während hinter ihm seine Truppe mit Kalaschnikows posiert. Fünfzig Krieger, grimmige, wilde, abenteuerlich gewandete Bergler, Männer, die den Tod als Feigling verspotten, unbeugsame Hotzenplotze, aber ohne die Gemütlichkeit des Räubers aus dem Kinderbuch. Sie alle gehorchten Massud, waren ihm ergeben, verrieten ihn nicht. Das hatte natürlich mit seinem Rang und Ruf zu tun, aber nicht nur. Massud strahlte eine innere Kraft, eine magnetische Autorität, einen überlegenen Willen aus, denen sich keiner entziehen konnte und vor denen auch die Hunde instinktiv den Schwanz einzogen. Der Mann hatte Charisma.

Die westlichen Militärexperten mussten allerdings auch feststellen, dass den bärtigen Helden der letzte Schliff fehlte. Zwar wurden die Angriffe mit Unerschrockenheit vorgetragen, aber die Verluste waren entsprechend hoch. Es wurde auch viel geschossen – mit magerem Resultat. Der «afghanische Individualismus» verhindere die Bildung einer «organisierten Armee», meinte die besagte Zeitschrift und verglich die afghanische Kriegsführung mit den Schweizer «Saubannerzügen des 14. und 15. Jahrhunderts».

Mit einer Ausnahme. Im Panshir war es Kommandant Massud gelungen, eine moderne Truppe aufzubauen, mit modulartigen Einheiten, die auch weit ausserhalb der eigenen Stützpunkte eingesetzt werden konnten. Zum Beispiel auf der Route von Mazar-i-Sharif nach Kabul, der wichtigsten Versorgungsachse von Moskaus Armee. Die tödlich präzisen Schläge der professionellen mobilen Kommandos begeisterten die westlichen Beobachter, die in Massud einen «genialen Strategen», einen «Napoleon des Hindukusch» erkannten. Die Russen trieben sie zur Raserei. Sechs Mal versuchten sie, das Panshirtal einzunehmen; jedes Mal scheiterten sie. Massud wurde ihr grösster Alptraum.

Gelebte Kriegskunst

Die Kommunisten probierten es mit einer subtileren Taktik. In Geheimverhandlungen schlossen sie mit Massud einen Waffenstillstand und boten ihm Autonomie für sein Tal an. Sie hofften ohne Zweifel, dass er dafür auf seine Ausfälle verzichten würde. Bei den meisten anderen Kommandanten wäre die Rechnung aufgegangen. Die afghanische Gesellschaft gliedert sich nach Familien, Clans und Stämmen. Diese bilden den politischen Horizont, für diese kämpft man, und nicht für eine abstrakte Idee wie Nation oder Demokratie. Massud erwies sich auch hier als aussergewöhnlich. Er liess sich ausgiebig Zeit mit einer Antwort, nützte aber die Waffenruhe sofort, um über seine Region hinaus politisch-militärische Allianzen im ganzen Nordosten zu knüpfen.

Als die Sowjets ihren Irrtum bemerkten, schworen sie, Massud endgültig zu vernichten. Der siebte Vorstoss im Frühjahr 1984 war ihre grösste Operation seit Beginn der Okkupation. Während fünfzehn Tagen und Nächten deckten sie das Panshir mit einem dichten Bombenteppich zu. Der Höllenlärm der explodierenden Geschosse, verstärkt durch die Trichterform des Tales, musste auf dem Mond zu hören gewesen sein. Dann fielen 25 000 Rotarmisten, die man mit Helikoptern auf den seitlichen Gebirgshöhen abgesetzt hatte, in die Dörfer ein. Von den Enden des Tales bewegten sich gepanzerte Wagenkolonnen langsam aufeinander zu. Keine Maus hätte mehr entkommen können.

Mit einem Kopfnicken signalisierte Massud, dass er bereit sei, auf unsere Fragen einzugehen. Er war ein genauer Zuhörer. Wenn er glaubte, etwas nicht ganz verstanden zu haben, hakte er nach. Seine Antworten kamen meistens prompt, er formulierte gradlinig, verständlich, ohne zu stocken. Man konnte mit ihm über alles reden, er war beweglich, aufmerksam, aber früher oder später landete er immer wieder beim selben Thema: Massud sprach am liebsten über Taktik und Strategie. Über Offensiven, Allianzen, taktische Rückzüge, Truppenmassierungen, Frontverschiebungen, Überläufer, Kriegslisten, Hinterhalte, Niederlagen des Feindes. Und immer wenn er vom Feind redete, früher von den Russen, dann von Hekmatyar, heute von Pakistan, bekam er für einen kurzen Moment ein hartes Gesicht.

Beim Anschauen von Fotos und Dokumentarfilmen hatte ich mich immer gefragt, was wohl in Massuds Kopf vorgehe. Er wirkte oft nachdenklich, versonnen, konzentriert wie in einem Gebet. Er hatte ein Geheimnis. Nun schien mir plötzlich alles ganz einfach. Massud dachte über den Krieg nach. So, wie ein Heiliger über Gott nachdenkt. Unablässig, bei jeder Gelegenheit, mit jeder Faser seines Körpers. Was sind die Absichten des Gegners, wie kann ich ihnen zuvorkommen, wo kann ich ihn treffen? Massud, das war gelebte Kriegskunst.

Dies zeigte sich in den kleinsten Dingen. An einem der Abende hatte man uns im Hauptquartier zum Essen eingeladen. Im Nebenzimmer sass Massud, die Türe war offen, und er unterhielt sich mit dem Frontkommandanten Fahim, einem dicken, kleinen Mann mit weissem Gewand und Kartoffelnase. Draussen war es schon ziemlich dunkel, als ein Soldat Massud eine Dose Anti-Brumm hinstreckte. Massud schüttelte die Dose, drehte sich nach links, sprayte gezielt einmal hinter und einmal vor sich auf den Boden, drehte sich nach rechts und tat nochmals dasselbe. Ich brauchte zwei Sekunden, bis ich verstand. Er hatte soeben ein Abwehrdispositiv errichtet. Sogar für den Kampf gegen die Mücken entwickelte er ein strategisches Konzept.

Das leere Tal

Die Sowjets stiessen auf keine Gegenwehr. Das Tal war komplett leer. Gewarnt durch seine Agenten, hatte Massud einige Tage vor dem Bombardement die gesamte Bevölkerung evakuieren lassen. 50 000 Leute waren seinen Männern in die umliegenden Berge gefolgt. Und noch im selben Jahr trieben die Mujaheddin die Besatzer wieder hinaus. Diese verloren 2000 Soldaten und versuchten nie mehr, auch nur einen Fuss ins Panshir zu setzen. Die zurückkehrenden Bewohner fanden dafür ein Desaster vor. Obstkulturen waren abgeholzt worden, Bewässerungsanlagen gesprengt, und von allen Häusern im Tal waren noch drei Stück intakt. Der Rest war zerbombt, gesprengt und mit Flammenwerfern ausgebrannt worden.

Aber Massud hatte seine Leute beschützt. Im ganzen Land wurde an der Legende vom Löwen vom Panshir, vom Adler vom Panshir, vom unbesiegbaren Krieger weitergesponnen. Sein Bild hing nicht nur im Heimattal oder in Häusern von Tadschiken (Massud ist Tadschike), sondern auch in solchen von Paschtunen oder Usbeken oder Nuristani.

Der grösste Triumph

Die USA stellten dem antikommunistischen Aufstand insgesamt drei Milliarden Dollar zur Verfügung. Deren Verteilung delegierten sie bald an Pakistan. Das selber zutiefst zerrissene und von notorischen Dieben und skrupellosen Militärs regierte Land hatte alles Interesse an einem schwachen benachbarten Afghanistan. Gelder verteilte es nur an diejenigen Mujaheddinführer, die sich am gehorsamsten ihren aussenpolitischen Wünschen unterwarfen.

Im pakistanischen Peshawar sammelte sich mit der Zeit ein Heer von schmarotzenden Kommandanten, die nicht mehr kämpfen, sondern sich nur noch bereichern wollten. Zum Beispiel, indem sie die für den Widerstand bestimmten Waffen umgehend auf dem Schwarzmarkt weiterverkauften. Hauptgünstling der Pakistaner jedoch war der Paschtune Gulbuddin Hekmatyar, ein hochintelligenter, aber heimtückischer, unehrlicher und grausamer Kriegsherr, der dafür berühmt werden sollte, mehr eigene Landsleute umgebracht zu haben als kommunistische Besatzer.

Massud blieb den ganzen Jihad über im Lande. Er kämpfte zusammen mit seinen Leuten an der Front. Nie hätte er sich vor einen fremden Karren spannen lassen. Er war stolz, eigensinnig, nicht käuflich. Der militärische Geheimdienst der Pakistaner, ISI, nahm ihn nicht auf die Liste der Begünstigten. Die Waffen, mit denen Massud und seine Leute kämpften, waren grösstenteils eigenhändig vom Feind erbeutet worden. Die afghanische Bevölkerung wusste um die Machenschaften in Peshawar. Umso heller strahlte Massuds Stern.

Wir hatten uns bei Massud für das Interview bedankt, er hatte noch zwei, drei Zettel gelesen, die man ihm hingestreckt hatte und auf die er eine Antwort geben sollte, als er plötzlich aufstand und den Raum verliess. Schnell wie üblich, ohne rechts oder links zu schauen, eilte er durch den Hof, auf seinen japanischen Geländewagen zu. Die ganze Umgebung geriet augenblicklich in Bewegung. Bedienstete sprangen auf, seine Bodyguards spurteten los, ein ganzer Tross weibelte hinter ihm her, jemand riss die Türe seines Wagens auf, und er verschwand hinter den getönten Scheiben. Ein paar Sekunden später setzte sich eine Kolonne von fünf Autos in Bewegung. Im hintersten Jeep sassen wir.

Da Massud nie ankündigt, wann und wohin er geht, waren wir ebenfalls mit den anderen losgerannt, in der Hoffnung, ihn irgendwohin begleiten zu können. Es hatte geklappt. Nach einer stündigen Holperfahrt gelangten wir auf eine von Bergketten gesäumte Hochebene. Rund 300 Soldaten machten dort Schiessübungen. Es waren Neulinge, Dörfler mit sonnenverbrannten Gesichtern und struppigen Haaren. Massud nahm ein Gewehr, machte vor, wie man schiesst, liess zwei oder drei der Soldaten schiessen, kommentierte, korrigierte, lobte. Er spielte den General, der sich persönlich um seine Männer kümmert, und er schien gerne zu spielen.

Wir fuhren weiter zu einem Panzerübungsplatz. Massud kletterte auf einen Tank und sprach dort oben etwa zwanzig Minuten mit dem Kommandanten, einem jüngeren, dandyhaften Typ. Dem Tanz seiner Hände nach zu schliessen, erläuterte er Letzterem Gefechtssituationen, Angriffe, Zangenbewegungen, plötzliche Vorstösse. Der Auftritt wirkte leicht theatralisch, überinszeniert, aber wie schon bei den Schiessübungen schien sich Massud in der Rolle wohl zu fühlen.

Im Februar 1989, knapp zehn Jahre nach ihrem Einmarsch, traten die letzten kommunistischen Truppen wieder den Rückzug an. Die weltmächtigste und bis dahin ungeschlagene Armee war besiegt und gedemütigt worden von überwiegend analphabetischen Berglern und Wüstenbewohnern, einem Volk in Sandalen, das sich wie vor 2000 Jahren noch hauptsächlich auf Eseln fortbewegte. Und wenig später hörte auch das sowjetische Imperium auf zu existieren.

Der 1986 von den Sowjets installierte Präsident Najibullah, ehemaliger Chef des kommunistischen Geheimdienstes, konnte sich noch eine Weile halten. Dann wurde er verraten. General Dostam, die «eiserne Ferse» des alten Regimes, wechselte mit seinen Usbekenkriegern ins Lager Massuds. Jetzt war der Weg nach Kabul frei. Im April 1992 fuhren Massud und seine triumphierend lachenden Mujaheddin auf sowjetischen Panzern in die Hauptstadt ein. Najibullah war bereits gestürzt und verhaftet worden. Es war die Stunde von Massuds grösstem Triumph. Alles schien erreicht. Doch dann nahmen die Dinge einen fürchterlichen Verlauf.

In der Hölle

Afghanistan war nie eine Nation gewesen, sondern ein fragiles und kompliziertes Gebilde aus Clans, Stämmen, Ethnien, die argwöhnisch darüber wachten, dass keine der anderen dominieren konnte. Der Krieg hatte das Gleichgewicht der Eifersucht tief gestört. Neue Gruppen waren plötzlich mächtig geworden, andere hatten Einfluss verloren. Begehrlichkeiten waren geweckt worden, Machthunger, Gier, auch Angst, Rachegelüste, Hass. Keiner traute mehr dem anderen, jede Gruppe vermutete, die andere wolle sie übervorteilen, und umso stärker spielten die traditionellen Loyalitäten. Das Land war ruiniert, aber voller Waffen. Die Afghanen fingen an, aufeinander loszugehen, Afghanistan glitt in die Hölle der Gesetzlosigkeit.

Die neue Regierung mit Präsident Rabbani und Verteidigungsminister Massud war unfähig, für sichere Verhältnisse zu sorgen. Kaum waren die beiden Tadschiken vereidigt worden, begann der paschtunische Kriegsfürst Hekmatyar, Kabul zu bombardieren. Der brutale, bauernschlaue Usbekengeneral Dostam wandte sich ebenfalls plötzlich gegen Massud, und er bekam Waffenhilfe von Einheiten der Hazara, einer mongolischstämmigen Minderheit aus Zentralafghanistan.

Mitten in der Hauptstadt tobten Artillerieduelle und Mann-gegen-Mann-Kämpfe. Ruhigere Momente benützten die Krieger, um zu plündern und nach Frauen zu jagen. Massud konnte selbst mit ihm verbündete Milizen nicht daran hindern, in ein von Hazara bewohntes Quartier einzudringen, um unter den Zivilisten ein scheussliches Blutbad anzurichten. Und auch die eigenen, sonst für ihre Disziplin bekannten Truppen stahlen und marodierten. Kabul verwandelte sich zusehends in einen Geröllhaufen. Und Massuds Ansehen sank.

In einem Nachbardorf von Jangalak, Massuds Heimatort, wird jede Woche die «Botschaft des Mujaheddin» produziert, ein dünnes Blatt mit einer kleinen Auflage. Ich fragte den Herausgeber Afiz Mansur, welche Fehler Massud in Kabul gemacht habe. Mansur, ein Mann von etwa 40 Jahren, mit einem unwahrscheinlich schmalen Kopf und Brillengläsern so dick wie Butzenscheiben, hinter denen ein Paar streitlustige Augen blinkten, überlegte nicht lange. Etliche, sagte er.

Erstens habe Massud Kabul eingenommen, ohne vorher Beziehungen mit dem Ausland aufgebaut zu haben. Mit dem Resultat, dass Pakistan dachte, er habe Beziehungen zum Iran, und der Iran glaubte, er arbeite mit Pakistan zusammen. Also hätten sich alle eingemischt und ihre eigenen Fraktionen unterstützt, Pakistan zuerst weiterhin Hekmatyar, der Iran die schiitischen Hazara, die Saudis den Wahabiten Sayyaf, während Massud allein dagestanden habe.

Und stolz sei er geworden und arrogant, meinte Mansur. «Ich bin mächtig, ich habe die Russen besiegt, ich gebe die Befehle hier», so sei seine Haltung gewesen. Er sei wirklich der überragende Kommandant im Lande, auch der Einzige, der die gefangenen Feinde menschlich behandelt habe. Und der Einzige, der sich nicht persönlich bereichert habe. Aber er sei Kommandant geblieben und habe sich nie zum Politiker gewandelt. Dies habe aber zu Zwist mit Kollegen geführt, mit dem Präsidenten Rabbani beispielsweise. Und weil er viel befahl, aber wenig Rat einholte, sei er kein guter Politiker, kein guter Administrator gewesen. Aber Massud, sagt Mansur abschliessend, habe hinzugelernt.

«Kommandant Massud, sind Sie mitverantwortlich für die Zerstörung von Kabul?»

«Die Männer, die ich um mich hatte, waren überhaupt nicht vorbereitet, ein Land zu regieren. Die meisten unterbrachen wegen des Kriegs ihre Ausbildung. Es gab niemanden, der die Arbeit der Behörden hätte kontrollieren können. Die Polizei besass keinerlei Mittel, um dem Gesetz gegenüber all den Bewaffneten Respekt zu verschaffen.»

«Man hört, dass Ihre Männer von der Bevölkerung schliesslich genauso gehasst wurden wie die der anderen Milizen. Was war Ihre Rolle?»

«Ich war vollständig mit dem Krieg beschäftigt und konnte den Vorgängen in meiner Umgebung nicht genügend Aufmerksamkeit schenken.»

Als neue Kraft im afghanischen Bürgerkrieg tauchten im Frühjahr 1994 die Taliban auf. Von Kandahar im Süden herkommend, eroberten sie in verblüffendem Tempo Provinz um Provinz. Ohne Schüsse abzufeuern. Sie hatten anfänglich die Unterstützung der Bevölkerung, weil sie die räuberischen Warlords entwaffneten. Und sie hatten Geld, mit dem sie die gegnerischen Kommandanten kauften. Pakistan hatte den erfolglosen Hekmatyar fallen gelassen und alimentierte nun die Taliban.

Im Spätsommer 1996 kreisten diese Kabul ein. Massuds Abwehrfront im Südosten der Stadt war völlig überraschend zusammengebrochen. Die Taliban hatten den Befehlshaber mit angeblich zehn Millionen Dollar in bar bestochen. Massud realisierte, dass er die Stadt nur unter grössten Opfern würde halten können. Innert weniger Stunden organisierte er den Rückzug seiner Truppen und Waffen ins Panshir und überliess Kabul kampflos den Taliban.

Während die Taliban bereits an der Stadtgrenze angelangt waren und die Regierungstruppen ihren eiligen Abzug organisierten, schickte Massud einen seiner Generäle zu Dr. Najibullah. Der letzte Präsident der kommunistischen Regierung wurde seit vier Jahren unter Schutzaufsicht der Uno in Kabul festgehalten. Massud bot ihm an, mit ihm die Stadt zu verlassen und ihn sicher in den Norden zu bringen. Najibullah lehnte ab. Er vertraute darauf, dass ihn die Taliban verschonen würden. Er war schliesslich Paschtune, genau wie diese.

Die Taliban holten sich als Erstes Najibullah. Sie schlugen ihn und den anwesenden Bruder halb tot, warfen die beiden auf einen Pick-up und fuhren zum Präsidentenpalast. Dort kastrierten sie Najibullah, banden ihn mit einem Strick an den Pick-up und schleiften ihn mehrere Runden um den Palast herum. Dann endlich erlösten sie ihn mit drei Kugeln. Der Bruder wurde erdrosselt. Mit einer Drahtschlinge um den Hals hängten die Taliban die beiden Körper an eine Verkehrskanzel vor dem Palast. Sie steckten ihnen Zigaretten zwischen die Finger und in die Taschen ein Bündel Banknoten. Als Zeichen ihrer Verworfenheit und Korrumpiertheit.

Und als Zeichen für die Kabuler. Über Radio Sharia, wie Radio Kabul nun hiess, konnten diese schon 24 Stunden später die Gesetze der neuen Herren erfahren. Dieben würden Hände und Füsse amputiert, Ehebruch würde mit Steinigung und Alkoholbesitz mit Auspeitschen bestraft. TV, Video, Fotos, Musik, Spiele inklusive Schach, Drachensteigenlassen seien verboten. Jeden Tag kamen neue Erlasse. Den Männern wurde die Bartlänge vorgeschrieben (eine Handbreit), den Frauen das Tenü (Burka, das heisst Totalverhüllung von Kopf bis Fuss). Alle Mädchenschulen wurden geschlossen, Frauen durften nicht mehr studieren, nicht mehr arbeiten, nicht mehr ohne Ehemann oder männlichen Verwandten an die Öffentlichkeit.

Im ländlichen Süden entsprachen diese Vorschriften mehr oder weniger den Stammestraditionen. In der halbmodernen Millionenstadt Kabul lösten sie jedoch eine erneute Fluchtwelle aus. Vor allem die Leute mit Ausbildung verliessen die Stadt, unter ihnen viele Frauen, von denen das Bildungs- und Gesundheitswesen wesentlich abhing.

Ich hatte Asef K. vor sechs Jahren in Kabul kennen gelernt, und jetzt hatten wir uns wieder getroffen in Peshawar, wo er als Flüchtling lebte. Der ehemalige Bewunderer und Vertraute Massuds sprach nun schlecht über diesen. Irgendetwas war vorgefallen. Aus dem Löwen sei ein Fuchs geworden, höhnte Asef, er, der vorher immer der Jäger gewesen sei, habe aus Kabul davonrennen müssen. Dieser Macht- und Gesichtsverlust habe dessen Ehre zutiefst verletzt. Massud rede zwar von Frieden, aber er sei jetzt voller Hass. Er sei egoistisch, machthungrig und sinne nur auf Rache. Asef schimpfte weiter, bis er kurz innehielt und dann meinte, er sei böse mit Massud. Ich solle ihm einen Gruss ausrichten und sagen, solange er, Massud, Asef nicht anrufe, rufe dieser auch nicht an.

«Kommandant, welches war der Tiefpunkt in Ihrem Leben?»

«Da waren zu viele traurige Ereignisse, und jetzt sind wir gewöhnt an die Tragödie (lacht).»

«Welches war der grösste Fehler?»

«Wer handelt, macht Fehler. Das ist die Natur des Menschen.»

«Etwas konkreter, bitte. Was ist zum Beispiel mit den Entscheidungen, die zum Fall von Kabul führten? Sie wurden von den Taliban überascht.»

«Wir hatten das Wissen über uns selbst, das Wissen über den Feind, wir hatten eine Vorstellung von der Zukunft, und wir waren vorbereitet für die gefährlichen Situationen. Ich hatte absolute Kontrolle. Aber ich hatte sie nicht über die Verbündeten. Für einige war es schwierig, die erwähnten Punkte zu verstehen. Also machte ich einen Plan für sie. Aber anstatt ihren Beitrag zu leisten, suchten sie nur nach dem Vorteil, der für sie aus diesem Plan herausspringen könnte. Anstatt die Taliban zu schlagen, diskutierten sie, welche Posten sie übernehmen würden.»

Der weitere Durchmarsch der Taliban im nichtpaschtunischen Norden verlief zwar stockender. Begleitet von shakespearschen Intrigen, von Verrat und Gegenverrat, von verwirrenden Frontwechseln und unsäglichen Gräueln, profitierten die Turbankrieger aber von der notorischen Zerstrittenheit ihrer Gegner. Mazar-i-Sharif beispielsweise, die Hauptstadt des Nordens, wurde vom Usbeken Dostam kontrolliert. Wegen einer familiären Blutfehde verriet ihn dessen Stellvertreter an die Taliban. Im Frühjahr 1997 marschierten diese ungehindert in die Stadt ein, mussten aber bald wieder flüchten. Eine Revolte der Hazara war ausgebrochen, die sich auf die ganze Stadt ausweitete. Die Taliban verloren Tausende von Kriegern, die meist bestialisch umgebracht wurden.

Dostam, der den Taliban knapp entkommen war, sammelte seine Truppen und kehrte im Herbst nach Mazar zurück. Nach schweren Kämpfen konnte er seinen Stammesrivalen aus dem Land hinauswerfen. Inzwischen hatten aber Hazara-Milizen die Macht im Chaos von Mazar übernommen, und Dostam musste sich nach einem neuen Hauptquartier umsehen. Die Taliban warteten ab, bis der Feind sich genügend zerfleischt hatte. Dann, im Sommer 1998, marschierten sie ein zweites Mal in Mazar ein und nahmen entsetzliche Rache für ihre Getöteten vom Vorjahr. Zwischen 5000 und 8000 Leute wurden erschossen, erstochen, gehäutet, in Containern erstickt.

Massud hatte den Taliban-Vormarsch immer wieder gestört, vor allem aber unermüdlich versucht, die zersprengten und uneinigen Kräfte neu zu bündeln. Aber erst nach dem Fall von Mazar kam ein neues, fragiles Bündnis zu Stande. Im Dezember 1998 versammelte er sämtliche Anti-Taliban-Kommandanten im Panshir. Die ausgepowerten Usbeken- und Hazara-Führer ebenso wie verschiedene bekannte Paschtunen-Kommandanten hatten diesmal gar keine andere Wahl, als den Tadschiken Massud zum obersten Befehlshaber der vereinigten Nordallianz zu ernennen.

«In der Nordallianz sind die gleichen Kommandanten, die 1992 das Land in den Abgrund geführt haben. Wieso sollte es diesmal denn besser gehen?»

«Diesmal konnten sich alle Parteien darauf einigen, eine Verfassung auszuarbeiten, die soziale Gerechtigkeit bringt. Alle Volksgruppen und Stämme werden auf Grund von freien Wahlen proportional in der Regierung vertreten sein.»

«Was hat zum Beispiel das Wort eines Mannes wie General Dostam für einen Wert? Er war der Bluthund der Kommunisten. Dann wurde er Ihr Verbündeter, um Ihnen bald mit Hekmatyar in den Rücken zu fallen. Dann hat er sich mit den Taliban zusammengetan, und jetzt ist er wieder auf Ihrer Seite. Oder wie können die Hazara dem Alliierten Prof. Sayyaf trauen, einem Paschtunen, der sie in Kabul 1994 massakrieren und ihre abgeschlagenen Köpfe auf Stangen stecken liess?»

«Das Fehlen von Vertrauen ist ein Problem in Afghanistan. Die einen sind besorgt um ihre Zukunft, die anderen wollen mehr, als ihnen zusteht. Aber trotz der Vergangenheit haben wir uns für ein gemeinsames Programm entschieden. Dieses garantiert jedem der Führer seine künftige Rolle im Land. Auch weiss jeder, dass er alleine auf sich gestellt keine Macht ausüben kann. Dies kann er nur zusammen mit allen anderen. Im Moment geht es gut voran mit der Allianz. Ich habe die Situation unter Kontrolle, ich sage, wo die Kämpfe begonnen und wo sie gestoppt werden.»

Mit kräftigen Stössen paddelte der Halbwüchsige unser Floss, einen Lastwagenpneu mit aufgeschnürtem Bambusgestell, über den Kokcha. Rund drei Kilometer weiter unten, dort, wo sich ein kahler Felshöcker aus der Ebene erhob, mündete der Kokcha in den Amu Darya, den Grenzfluss zu Tadschikistan. Auf der anderen Seite erwarteten uns usbekische Reiter. Wir stiegen um auf ihre kleinen, beweglichen Pferde und ritten durch eine paradiesische Landschaft aus Reisfeldern und Schilfdickichts, Eichenwäldern und Gärten mit Granatapfel- und Aprikosenbäumen und kleinen Wasserkanälen. Schnatternde Kinder auf gescheckten Pferdchen trabten vorbei und winkten uns fröhlich zu. Und jedes Mal, wenn in der Nähe das Wummern der Geschütze zu hören war, drehten sich die Usbeken lachend zu uns um, um zu sehen, ob wir erschraken. Wir waren auf dem Weg zur Front, aber irgendwie war die Stimmung, als gingen wir auf eine Hochzeit.

Am Ausgang des Dorfes Kharokh stiegen wir ab. Während unsere Reiter im Schatten eines Baumes zurückblieben, führte uns eine Gruppe Mujaheddin über ein offenes Feld. Einer zeigte mit dem Finger nach rechts. «Dort drüben, etwa eine Minute entfernt», meinte er ungerührt, «sind die Taliban. Wäre heute die Sicht nicht so schlecht, könnten wir hier nicht durch.» Ich blinzelte seinen Finger entlang. In kaum 300 Meter Entfernung schwammen die Umrisse eines Unterholzes undeutlich im Dunst. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein.

«Auf beiden Seiten der Front stehen Krieger mit Bärten, auf beiden Seiten tragen die Frauen die Burka. Warum sollte jemand wie zum Beispiel ich für die Nordallianz des Kommandanten Massud Partei nehmen?»

«Wir haben eine sehr klare Botschaft.

Erstens: Wir sind für freie Wahlen. Und wir sind dafür, dass die Uno diese überwacht.

Zweitens: Wir lehnen den Terrorismus in jeder Form ab. Osama Bin Laden ist für uns ein Krimineller. Und Sie wissen, dass es nicht einfach ist, so etwas zu sagen. Ich habe mein Leben dem Jihad geweiht. Bin Laden war ebenfalls im Jihad. Er ist zum Führer von extremistischen Gruppen in der ganzen islamischen Welt aufgestiegen. Ich erhielt aus Dutzenden von Orten in der Welt Anrufe. Du bist Muslim, sagten sie mir, warum bekämpfst du Osama Bin Laden? Es wäre einfach für mich gewesen, ihm zu sagen, du bist nicht unser Feind, mache, was immer du machen willst, arrangiere dich mit uns. Aber wir sind zutiefst gegen seine Überzeugungen.

Drittens: Wir sind gegen das Phänomen Drogen. Zweifellos wird ein Teil der Drogen durch unser Gebiet transportiert. Sie werden aber noch durch viele weitere Länder befördert, welche im Gegensatz zu uns keinen Krieg haben.»

«In Ihrem Gebiet wird ebenfalls Opium angebaut. Wir haben in den Dörfern Felder gesehen.»

«In der Provinz Badachshan gibt es ein paar Kulturen. Ismaeliten leben dort, eine islamische Sekte, die seit Jahrhunderten süchtig sind. Sie pflanzen für den Eigenkonsum an. Aber wenn Sie nach Chay Ab ins Gefängnis fahren, finden Sie dort Rhollam Salim, den Tycoon des Drogenhandels. In einer einzigen Aktion beschlagnahmten wir bei ihm eine halbe Tonne Opium. Jetzt sitzt er bereits das dritte Jahr im Gefängnis. Trotz all seinem Geld und seinem Einfluss.»

«Die Drogenkontrollbehörde der Uno sagte neulich, dass die Taliban die Drogenproduktion eingestellt hätten. Aber Afghanistan ist weltweit immer noch Nummer eins der Opiumproduzenten. Woher kommt also das Opium?»

«Die Taliban haben ausreichend Vorräte, um noch zwei oder drei Jahre weiter zu exportieren. Es waren im Übrigen die grossen Drogenhändler, die den Produktionsstopp veranlassten, nicht Mullah Omar. Sie wollten, dass die Preise steigen. Ich habe genügend Informationen über die ganze Situation.

Die grossen Pflanzungen liegen im Taliban-Gebiet, in den Regionen von Jalalabad Kandahar und Helmand. Die Taliban ziehen zehn Prozent Landwirtschaftssteuern für die Opiumfelder ein. Dann kassieren sie eine Fabrikationssteuer: 180 Dollar pro Kilopaket, das offiziell abgestempelt wird. Dann folgen Verkaufssteuer und schliesslich noch eine Transportsteuer, wenn die Ware mit dem Flugzeug zuerst nach Kabul und dann nach Kunduz geflogen wird. Ohne Stempel und Deklarationen der Taliban passiert kein Paket die Grenze.»

«Aber lassen Sie uns noch von einem vierten Punkt sprechen: von den Menschenrechten und den Rechten der Frau.»

«Sie haben selber gesehen, dass hier im Norden oder im Pandshir Frauen arbeiten und Mädchen zur Schule gehen. Wir hindern niemanden daran. Wir haben auch einige Schritte unternommen, um die Lage der Frauen zu verbessern. Für Sie vielleicht kleine, für ein Land wie Afghanistan aber wichtige Schritte.

Wenn zum Beispiel ein Streit zwischen zwei Clans zu einem Toten führte, dann musste die schuldige Seite eine Wiedergutmachung leisten. Sie tat dies, indem sie der Opferseite ein Mädchen oder eine Frau gab. Das Mädchen wurde nicht gefragt. Ich war immer gegen diese Sitte und habe sie gestoppt. Eine Frau kann kein Abgeltungsmittel sein.

Oder ein anderes Beispiel: Wir erhielten die Information, dass ein Mädchen den Sohn eines Khans eines mächtigen Stammes heiraten sollte. Die junge Frau war aber absolut dagegen. Ich ordnete an, dass der Fall untersucht wurde. Der Khan war stark, er hatte 400 bewaffnete Männer, stand 3000 Familien vor, und er hatte das Mädchen für den Sohn ausgesucht. Ich sagte dem Khan, dass er das Mädchen nicht zwingen solle, seinen Sohn zu heiraten, und dass die Regierung ihm helfen würde, sein Gesicht zu wahren. Er aber kam zu mir und wollte meinen Stiefel küssen, und er sagte, tun Sie, was immer Sie wollen, aber tasten Sie mein Prestige und meinen Ruf im Dorf nicht an. Lassen Sie mich die Heirat durchführen. Immer wieder sagte er mir dies. Die Unterhaltung gelangte an einen toten Punkt. Logik und Commonsense halfen nicht mehr weiter. Wir mussten mit dem Einsatz von mehreren Hundert Bewaffneten drohen, um das Problem zu lösen. Er sah unsere Bereitschaft und änderte seinen Entschluss.»

«Und Sie haben einen Feind mehr.»

«Reden Sie von einem kleinen Dorftyrannen, der gegen eine reguläre Armee antreten will? Ich bitte Sie (lacht).»

Nach wenigen Minuten erreichten wir den Frontposten. Der Kommandant war ein zirka 40-jähriger Mann mit feinen, melancholischen Gesichtszügen. Er lud uns in sein Quartier ein, eine kleine Erdhütte mit einem staubigen Teppich auf dem Lehmboden, und servierte Tee. Er sei Bauer, erzählte er, und immer , wenn die Ernte eingeholt sei, gehe er in den Krieg. Seit zwanzig Jahren. Er wirkte ein wenig müde. Dann trat ein jüngerer Kämpfer in den Eingang. Er trug eine Rakete in den Händen und winkte uns heraus. Seine Kollegen standen um ihn herum, als er das Ding Richtung Feind abfeuerte, gut gelaunt wie Buben, die Schwärmer abbrennen. Sie blinzelten uns immer wieder zu. Ich hatte den Eindruck, dass die Übung einzig aus Freude über den seltenen ausländischen Besuch veranstaltet wurde.

Einige Minuten später meinte der Kommandant höflich, es sei besser, wenn wir jetzt wieder gehen würden. Bald würde nämlich zurückgeschossen. Eine Gruppe junger Mujaheddin spazierte mit uns ins Dorf zurück. «Habt ihr keine Angst?», wollten wir wissen. «Nein, nein», riefen sie, «die Taliban haben Angst.» – «Ihr wäret bereit zu sterben?» – «Wir sind bereit zu sterben.» – «Ihr seid verrückt.» – «Ja, wir sind verrückt», lachten sie frohgemut. Sie fühlten sich verstanden.

Die militärische Landkarte präsentiert sich heute gleich wie in den Achtzigerjahren. Die Taliban kontrollieren die Städte und die Verkehrsachsen wie damals die Sowjets, und Massuds Bündnis beherrscht das schwer zugängliche, gebirgige Landesinnere, von wo aus es einen Guerillakampf führt. Massud ist der Kopf, das Zentrum, der Motor. Fällt er, dann fällt die Allianz, und die Taliban verhängen ihr freudloses Gottesreich über ganz Afghanistan. Eine Fortsetzung des Bürgerkrieges wäre garantiert.

«Was ist das Wichtigste im Leben eines Mannes, Kommandant Massud?»

«Darüber habe ich noch nie mit jemandem gesprochen. Aber was mir als Erstes sofort in den Sinn kommt: Das Wichtigste im Leben ist der Entschluss.»

«Wie meinen Sie das?»

«Wenn man einmal den Entschluss gefällt hat, einen bestimmten Weg zu verfolgen, dann wird der Rest einfach. Zum Beispiel, die Russen zu bekämpfen. Als ich diesen Entscheid getroffen hatte, war es für mich nicht mehr wichtig, ob wir gewinnen oder verlieren, ob es schwierig sein wird und hart, ob es zehn oder zwanzig Jahre dauern würde. Die Bestimmung war, dass ich sie so oder so bekämpfe. Und jetzt ist unser Entschluss, dass wir nicht den Taliban weichen. Unwichtig, wie viel Land wir verlieren und wie sehr wir leiden.»

«Ist dieser Entschluss wichtiger als das eigene Leben?»

«Ich glaube, dass man das Leben einem Ziel verschreiben muss.»

«Sie haben eine junge Frau und fünf Kinder. Sie könnten mit der Familie nach Duschambe, London oder Paris gehen und dort in Frieden leben. Nie daran gedacht?»

«Nie.»

Von geschätzten 21 Millionen Afghanen leben ungefähr zweieinhalb Millionen in Pakistan, anderthalb im Iran und eine in Nordamerika und Europa. Unter ihnen die allermeisten Gebildeten des Landes. Neben den Hazara, Tadschiken und so weiter hat sich eine neue Volksgruppe herausgebildet, mittlerweile mit Abstand die grösste des Landes: die Eidipis. Dieser Begriff stammt aus der internationalen Hilfswerksprache und ist die Abkürzung von Internal Displaced Persons, I. D. P. (Vertriebene innerhalb des eigenen Landes). Die gesamte Bevölkerung Afghanistans ist nicht bloss einmal, sondern mehrmals vertrieben worden.

Die grösste und einzige funktionierende Fabrik des Landes steht in Kabul. Sie produziert Bein- und Armprothesen in allen Grössen für die täglich neuen Minenopfer. Zu der Geissel des ins vierundzwanzigste Jahr gehenden Bürgerkrieges sind seit drei Jahren noch die biblischen Plagen Dürre, Hungersnot und Erdbeben hinzugekommen. Wer immer die Macht in Kabul erringen wird, er wird eine Katastrophe erben. ·

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