Das Magazin

24.07.1999

Belgrad

Die malerische Skyline Belgrads blieb erhalten. Die Luftschläge der Nato hinterliessen minimale sichtbare Schäden. Was aber bewirkten sie in den Köpfen der Bodenbewohner? Wurden die Serben zur Vernunft gebombt? Spurensicherung in der Hauptstadt.

VON EUGEN SORG

Dragan kennt sich aus mit Autos. Wenn einer mit einem BMW herumfahre, sagt er, oder mit einem Mercedes oder mit einem dieser protzigen japanischen Ge- ländewagen, dann gehöre er zur Mafia. Oder zur Regierung. Oder zu beiden. Das könne man nicht so genau unterscheiden. Ob ich die Kerle hinter den Steuerrädern gesehen habe? Geschniegelte Bürokraten oder kahlgeschorene Leibwächter-Typen in teuren Anzügen. Hier in Belgrad sei es wie in Bagdad. Beide Städte wären mit Sanktionen belegt. Aber wenn im Mercedes-Katalog ein neues Modell gezeigt werde, dann tauche es in spätestens zwei Wochen auf den Strassen auf.

Dragan sammelt gut hörbar Speichel in seinem Mund, und das Sputum landet präzis neben dem Kopf eines friedlich schlafenden Hundes. Die normalen Leute hingegen, fährt er fort, müssten weiterhin mit dem alten, rauchenden Yugo oder Fiat Polski herumkutschieren. Ihm persönlich sei das zwar recht. Nun grinst er, und man sieht, dass ihm beide Vorderzähne fehlen.

Seit vier Jahren hat Dragan eine Autowerkstatt, eine kleine Bude, wo er aus Blech- und Metallschrott verkehrstaugliche Vehikel zusammenschweisst. Er hat eine Marktnische gefunden. Der Laden rentiert. Krieg, Embargo und Halunken-wirtschaft haben die Kaufkraft der Mehrheit erschöpft. Nur die wenigsten können sich einen Neuwagen noch leisten.

Die Bombardierung Jugoslawiens durch die Nato begann am 24. April und dauerte zweieinhalb Monate. Nach dem Ende der alliierten Luftschläge verglichen westliche Kommentatoren die Si-tuation auf dem Balkan mit derjenigen Deutschlands im Jahre 1945. Auch die serbische Seite benützt diese Analogie sehr gern. Belgrad sei das neue Dresden.

Eine kurze Fahrt durch Belgrad genügt, um diese These zu widerlegen. Die Stadt ist äusserlich grösstenteils intakt geblieben. Die Wohnquartiere sind unversehrt, ebenso die kulturellen Einrichtungen und die Einkaufszentren. Auf den Strassen flanieren modisch gekleidete Leute und studieren die Auslagen in den Läden, wo es alles zu kaufen gäbe, was in jeder anderen europäischen Metropole angeboten wird. Und über die fünf grossen Brücken über Save und Dona rollt dieselbe endlose Kolonne aus Autos, Lastwagen und Zügen wie vor dem Nato-Schlag. Sichtbare Spuren davon sind nur an wenigen Orten zu finden. Die Villa von Milosevic, wo vor ihm Tito und vor dem Hitlers Besatzungsoffiziere gewohnt hatten, wurde ausgeräuchert, einige Regierungsgebäude wurden zerstört, systemtreue Fernsehsender zerbombt und aus ungeklärten Gründen die chinesische Botschaft und ein Hospital beschossen.

Ein weiterer Unterschied zu Deutschland 1945 ist die Tatsache, dass der deklarierte Bösewicht der Alliierten immer noch an der Macht ist. Milosevic gebietet weiterhin über eine zwar angeschlagene, aber keineswegs aufgeriebene Armee, er kommandiert 100 000 hochgerüstete Polizisten, Angehörige von Sondereinheiten und Spitzel. Seine Familie und seine Freunde dirigieren Banken, kontrollieren den Schwarzmarkt und das Devisengeschäft, unterhalten Nachtklubs, Autofabriken und Sicherheitsfirmen. Der grossbusige Schlagerstar Svetlana, die Ehefrau des Killers und Kriegsverbrechers Arkan, tritt regelmässig in einem Fernsehsender auf, der einem Freund ihres Mannes gehört, während er selbst sich Fussball und Bankgeschäften widmet und unbehelligt in Belgrad residiert. Zwar sind die Rufe nach Slobo Milosevic› Rücktritt wieder lauter geworden, und auch das Oberhaupt der orthodoxen Kirche Serbiens, der schlaue Patriarch Pavle, ist jüngst in einem Interview in «El Pais» auf vorsichtige Distanz zum Regime gegangen. Was allerdings nicht verwundert nach vier verlorenen Kriegen in Serie.

Die allermeisten Serben hatten die Angriffe nicht erwartet. Vor allem nicht in Belgrad, wo man den Krieg mit einem gewissen Hochmut lange verdrängt hatte. Er fand weit weg statt, zuerst als Episode im fernen Slowenien, dann in Kroatien, schliesslich in Bosnien, was zwar schon ziemlich nahe war, aber immer noch fern genug, um so zu tun, als ginge er einen nichts an. Die Hauptstädter verachteten insgeheim diese bosnischen Provinzler, diese Mladic und Karadzic mit ihren bauernschlauen Gesichtern und ungeschliffenen Manieren, obwohl sie froh waren, dass jene für die Sache der Serben kämpften. Sie verachteten auch die zerlumpten Flüchtlinge, die immer zahlreicher herbeiströmten, zu Zehntausenden und bald zu Hunderttausenden, und die sie an ihre Herkunft und an ihr Versagen erinnerten.

Jetzt aber brach der Krieg plötzlich in die eigene Stadt ein, und die Belgrader verspürten nicht nur natürliche Todesangst, sie waren auch schockiert, beleidigt und gekränkt. Sie empfanden es als zutiefst ungerecht. Als Antwort verwüsteten auf- gebrachte Bewohner in der Innenstadt die Kulturzentren Deutschlands, Frankreichs, Eng-lands und der USA. Es war eine spontane Aktion. Die Regierung rief die zivilen Vandalen zur Vernunft. Die betroffenen Immobilien gehören immerhin dem serbischen Staat.

«Die Nato hat bei Novi Sad eine kleine Brücke bombardiert», erzählt Dragan, «Hunderte von Kilometern von Kosovo entfernt, die niemandem nütze ausser den dortigen Dörflern, die einander nun nicht mehr besuchen konnten. Absolut blödsinnig.» Die zwei oder drei Kollegen und Kunden, die immer in Dragans Werkstatt herumsitzen, nicken beifällig. «Etwas später», fährt Dragan fort, «hat das Fernsehen eine Nachricht gebracht. Die Regierung, wurde gemeldet, habe sofort eine neue Brücke errichtet, eine Pontonbrücke. In der Rekordzeit von nur einem Tag.» Er, Dragan, habe aber einen Freund beim Militär. Der habe ihm erzählt, dass sie solche Dinger in 20 Minuten hinstellen würden. Der wisse auch, dass die neue Brücke unbefahrbar gewesen sei. Sie sei zu tief im Wasser gelegen. «Und wisst ihr, was jetzt passiert ist?» Dragan legt den Schraubenzieher beiseite, nimmt einen tiefen Zug aus der Zigarette und geniesst die Vorfreude auf die Pointe. «Mein Freund hat gemeldet, dass die Brücke abgesoffen ist.»

Nachdem sich das Gelächter gelegt hat, fragt einer aus der Runde, ob sie diesen Witz schon kennen. «Es hat eine Brückeneinweihung stattgefunden, und Slobo Milosevic mischt sich unter die Jubelnden. Was denkt ihr über die Si- tuation?, fragt er die Leute, und alle antworten, Kosovo gehört zu Serbien, wir sind die Besten, es lebe die Regierung. Er kommt zu einem Zigeuner: Und was denkst du? Lang lebe Slobo, ruft dieser, wir geben Kosovo nicht her. Dann, mit leiser Stimme: Wer sieht, was wir hier sagen? Die ganze Welt, antwortet Slobo. CNN, BBC? Klar, sicher. Der Zigeuner zerreisst das Transparent mit Slobos Bild und schreit laut: Hilfe, Hilfe!»

«Was haben die Nato-Bomben in Serbien bewirkt?» Für einen kurzen Moment schauen mich die Anwesenden prüfend an. Auf ihren Gesichtern zeigt sich so etwas wie verletzter Stolz, Trotz und Verachtung. Die Stimmung wird schlecht. Ein neuer Hitler sei der Clinton, sagt einer, der Schröder sowieso, der Chirac ebenfalls, und der Blair dazu noch ein Schwuler. Ob ich ihm sagen könne, warum man nicht die Türken bombardiert habe, die mit den Kurden genau das machen würden, was man den Serben im Falle der Albaner vorwerfe? Eben, sagt er, als ich keine gescheite Antwort darauf habe, die Serben seien schon immer verfolgt worden. Es folgt ein längerer Vortrag mit vielen Beispielen aus verflossenen Jahrhunderten, in denen das serbische Volk von treu- losen Verbündeten und hinterlistigen Gegnern verraten wurde.

Bah, wechselt schliesslich einer das Thema, es sei im Übrigen keine Gross- tat, wenn sich die 19 stärksten Armeen der Welt zusammentäten, um ein kleines Land zu überfallen, dessen Waffen völlig veraltet seien. So gewinne jeder Idiot. Aber nicht einmal das hätten sie fertig gebracht. Und diesmal folgt eine Aufzählung von Beispielen, wie die allmächtige Nato Panzerattrappen und simulierte Strassen angegriffen hätte. Auf die simpelsten Bauerntricks sei sie hereingefallen und der grösste Teil der serbischen Armee unversehrt. Die Stimmung hebt sich ein wenig.

Ob jemand hier denn eine Antwort darauf habe, warum die Nato Jugosla- wien angegriffen habe? Jetzt werde ich ein wenig mitleidig abgemustert. Die typische Frage des naiven, weltfremden Westlers. Ich sitze einer Expertenrunde gegenüber, gewitzten Politfachleuten, jeder ein Schlaumeier, der weiss, wie die Dinge immer schon gelaufen sind. Hunderte von Jahren Erfahrung haben die Leute in dieser Erdengegend gelehrt, von einem Bösartigkeits-Apriori auszugehen. Was immer jemand mit dir tun oder lassen will, er macht es mit schlechter Absicht. Der Nachbar genauso wie die Mächtigen. Diese vor allem. Scheitert einer, so ist er dumm und gehört verhöhnt und erschlagen. Reüssiert er, ist er gefährlich und gerissen. Es ist von Vorteil, sich auf seine Seite zu schlagen. Anfang dieses Jahres jubelten 60 Prozent der Serben Milosevic zu. Seit Kosovo verloren ist und Jugoslawien gedemütigt, sind es noch 16 Prozent.

«Also, ich erzähle dir, warum die Nato uns angegriffen hat. Erstens: Die Nato ist Amerika. Zweitens: Amerika ist eine Grossmacht. Drittens: Jede Gross- macht muss von Zeit zu Zeit ihre Muskeln zeigen, um zu demonstrieren, dass sie immer noch die Nummer eins ist. Viertens: Amerika wollte seine neuen Waffensysteme austesten und brauchte dazu einen Vorwand. Und wie hat es diesen bekommen? Fünftens: Man hat Milosevic eine Falle gestellt. Und dieser Dummkopf fiel hinein. Man legte ihm in Rambouillet einen Vertrag vor, den er unmöglich unterschreiben konnte. Darauf startete man die Bomber.»

Der Vortragende war Leibwächter in Milosevic› Entourage. Als man ihn eines Tages während des Dienstes im Tiefschlaf erwischte, wurde er entlassen. Seine Kollegen malen sich diese Szene mit grösstem Vergnügen immer wieder neu aus. Aber nur wenn er nicht dabei ist.

«Natürlich ist Slobo dumm», sagt ein anderer, «aber er ist auch ein Verräter. Es ging ihm nie um sein Volk, immer nur um seine Macht. Habt ihr den schon gehört? Sohn Marko ging zu Slobo: Papi, kauf mir Zypern. Nein, sagte dieser, wir haben kein Geld. Marko ging zu Mira: Mami, kauf mir Zypern. Nein, sagte die Mutter, wir haben kein Geld. Aber hab Geduld. Wenn Daddy Kosovo verkauft, dann haben wir wieder welches.»

Aber was nun wirklich in Kosovo los gewesen sei?, will ich wissen. Jetzt mischt sich etwas Misstrauen ins Mitleid. Dann aber scheint man sich dafür zu entscheiden, dass ich wohl nur ein Ignorant sei. Unsere Zeitungen würden übertreiben, meint der ehemalige Leibwächter nachsichtig zu mir, 10 000 Tote habe es nie gegeben, sogar CNN habe dies zugeben müssen. Ja, ja, bestätigt sein Kollege, es sei alles viel komplexer. Die Kroaten beispielsweise seien Slawen, genau wie die Bosniaken, die nur wegen der Türken zum Islam übergetreten seien. «Dasselbe Volk, dasselbe Blut. Die Albaner aber, die sind anders.»

«Wie anders?»

«Die sind seit Urzeiten Muslime.»

«Und?»

«Alle haben sie mit ihrer Ehefrau zehn Kinder. Und neben der offiziellen Frau noch zwei weitere Frauen. Obwohl dies das Gesetz verbietet. Doch sie haben eigene, versteckte Gesetze. Und sie unterdrücken uns seit Jahrhunderten.»

«Genau», sagt der Leibwächter, «ihre Taktik ist folgende: Sie vergewaltigen eine junge Frau aus einer serbischen Familie. Und dann fliehen die Serben.»

«Wart ihr schon mal in Kosovo?»

«Nein. Nie. Was sollten wir unten? Wir haben die Albaner in Ruhe gelassen und uns nicht darum gekümmert, was in den Dörfern passiert.»

«Die Kosovari sind reich. Durch den Drogenhandel. Ihr Schweizer wisst das am besten.»

Als die Besucher gegangen sind und Dragan wieder allein ist, meint er, die meisten seiner Kunden seien sehr nationalistisch. Aber er denke nicht wie sie. Es töne vielleicht abgedroschen, aber er stehe nicht auf Waffen und Krieg. Dem Einberufungsbefehl nach Kroation entzog er sich durch einen Abgang in die Provinz. In Gamzigrad, einem Kaff nahe der bulgarischen Grenze, eröffnete er eine kleine Bar, die ihm als logistische Basis diente für seine Haupttätigkeit, das Schmuggeln von Benzin, Zucker und Salz. Halb Jugoslawien hing damals von den Waren ab, die an den Zollbeamten vorbeigeschleust wurden. Dragan dachte, auf diese Weise diene er seinem Vaterland und seiner Familie besser als mit einem Gewehr in der Hand. Viele dachten wie er. Die Auto- und Motorrad- kolonne vor der kleinen Grenzstation war oft drei Kilometer lang. Alle unterwegs nach der anderen Seite, um die versteckten Reservoirs mit den vermiss- ten Gütern aufzufüllen. Nach dem Abkommen von Dayton schloss Dragan seine Bar und kehrte zurück nach Belgrad.

Seine Generation, sagt er, habe sich für Motorräder interessiert und für Musik und für nichts anderes. Led Zeppelin, Deep Purple, Eric Clapton, das ganze Hippiezeugs aus den Siebzigern. Er sei Pazifist, eingetragener sogar. Er grinst und präsentiert sein Bein. Auf der rechten Wade prangt ein Peace-Zeichen. Dieses ritzte er als Junger aus Protest in die Haut, als er von der regulären Armee eingezogen wurde. Aus den Zeiten, als er noch mit seiner Motorrad-Gang unterwegs war, stammte das Adler-Tattoo auf dem linken Oberarm. Das hat er letztes Jahr herausbrennen lassen. Es erinnerte zu sehr an das albanische Wappen. Als die Nato-Angriffe begannen, entfernte er auch die Abzeichen amerikanischer Luftgeschwader auf seiner Bomberjacke. Und auf das Lieblingshalstuch seines neunjährigen Sohnes, ein Baumwollteil mit Sternenbannerdesign, malte er vorsichtshalber ein paar Hakenkreuze. Du weisst, die Leute, grinst er erneut und tippt sich an die Stirn.

In einem Biergarten im alten Stadtteil Belgrads hat sich eine Gruppe Journalisten versammelt. Alles Mitarbeiter von «Danas» oder «Vreme», zwei Zeitungen, die seit Jahren hartnäckig die Politik der Milosevic-Diktatur kritisieren. Trotz Schikanen, Bussen, Haftstrafen, Prügel, Todesdrohungen. Es ist früh abends und heiss, der Redaktionsdienst beendet und das Bier kühl. Die meisten haben bereits mehr als eine Bestellung aufgegeben. Man diskutiert über Privates, Politik und Krieg. Uros Komlenovic, ein jüngerer Kollege von «Vreme», der sich einen Namen erschrieben hat mit Artikeln über das Wirken der serbischen Paramilitärs, ist aufgebracht. Alles, was er übrigens sage, das will er festgehalten haben, sei seine persönliche Meinung und nicht diejenige seiner Zeitung.

«Wie konnte man im Westen nur so dumm sein», schnaubt er, «nichts hilft einem Diktator mehr als eine ausländische Bombe, die auf sein Volk geworfen wird. Überall auf der Welt hat man dies gesehen. Warum wird es in Serbien trotzdem gemacht? Keine der Bomben hat Milosevic getroffen, aber jede einzelne die Opposition. Wenn das Wolfsrudel in Gefahr ist, schart es sich um den Führer.» «Die Serben sind keine Wölfe, sie sind Schafe.» Die Entgegnung kommt von Vesna Ninkovic, einer Kollegin von «Danas». «Wir Serben sind Wölfe. Schlimmer als Wölfe.» Uros› Augen funkeln angriffslustig. Meine Bemerkung, das Nato-Bombardement sollte nicht in erster Linie Milosevic entmachten als vielmehr die Vertreibung der Albaner stoppen, bringt ihn noch mehr in Rage. «Es gab keine ethnische Säuberung. Erst die Bomben haben sie ausgelöst. Sie waren schlecht für die Albaner und die Serben. Es wurde viel gelogen. Oder was soll man von einem albanischen Mädchen halten, das dem CNN-Reporter erzählt, es sei vergewaltigt worden, und dabei sieht man die goldene Uhr an seinem Handgelenk? Jeder weiss: Wenn die Militärs ein Dorf überfallen, wird zuerst geplündert und dann vergewaltigt. Keine Frau wird ihre Rolex behalten dürfen. Und viele Serben würden nie vergewaltigen. Aus rassistischen Gründen.»

«Jeder Primitive mit einem Gewehr vergewaltigt.» Vesna ist sauer.

«Zu Titos Zeiten», fährt Uros unbeirrt fort, «hat sich niemand darum geschert, ob einer Kroate oder Serbe oder Bosniake ist. Aber jedermann kannte die Albaner. Sie waren gesellschaftlich ganz unten. Sie sind anders, etwas Wildes, eine andere Rasse. Kein Serbe würde einen Affen vergewaltigen.» Vesna verdreht die Augen, und der Tischnachbar tätschelt Uros freundschaftlich auf die Schultern. Er solle sich ein wenig zusammennehmen, wo doch dieser Schweizer den langen Weg gekommen sei, nur um höflich ein paar Fragen zu stellen. Die anderen lassen sich in ihrem Gespräch nicht stören. Sie scheinen an Uros› Ausführungen nichts Aussergewöhnliches zu finden.

«Die Armee hat sich kaum etwas zu Schulden kommen lassen. 90 Prozent der serbischen Verbrechen in Kosovo wurden von anderen Gruppierungen verübt. In den ersten sieben Tagen des Nato-Angriffs gab es zwei Amnestien für Kriminelle. Die Polizei bildete aus ih-nen Spezialeinheiten. Sie machten den Drecksjob, zusammen mit den Paramilitärs, die ebenso von Kriminellen kommandiert wurden. Von Killern wie Arkan oder Franco Simatovic, genannt Frenki. Das war schon in Bosnien so.»

Mit Uros› Trennung in gute Serben und böse Kriminelle ist Vesna nicht einverstanden. «Ich stamme aus Bosnien, aus einer zusammengewürfelten Familie. Meine vier Brüder kämpften alle für verschiedene Parteien. Für die Serben, für die Kroaten, für die Bosniaken. Ich sage dir: Der Krieg in Jugoslawien wurde in Serbien angezettelt. Als das Dorf meiner Mutter zerstört wurde und das Dorf meines Vaters, als Sarajevo und Bihac von serbischen Granaten zerschossen wurden, weinte hier niemand. Alle, die es wissen wollten, wussten die ganze Zeit, was passierte. Die Eroberungen und Vertreibungen, die Grausamkeiten, Omarska, Srebrenica. Jeder hatte Verwandte, Freunde, die nahe dran waren. Auch wir haben darüber berichtet. Aber die meisten akzeptierten es. Und jetzt, wo Kosovo dran ist, sind alle entsetzt und empört. Weil es unser Territorium ist. Das meine ich: Die Serben sind schuldig. Zu 100 Prozent. Ich bin Atheistin, aber ich sagte immer, eines Tages werden wir den Preis dafür bezahlen müssen. Jetzt ist dieser Tag gekommen. Es gibt eine Gerechtigkeit.»

Vor sechs Jahren besuchte ein Re- porterteam des «Magazins» den Maler Predrag Neskovic in seinem Belgrader Atelier. Der sanfte 61-Jährige, der aussieht wie der melancholische Bruder des Komikers Walter Matthau, kann sich noch bestens an die damaligen Gäste erinnern. Visiten aus dem Ausland sind in den letzten Jahren selten geworden. Wie es ihnen denn so gehe? Gut? Wunderbar. Danke, ihm gehe es auch gut. Die zweieinhalb Monate Bombardements?

«Ach, sehen Sie», stapelt der Künstler tief, «wir in diesem Teil der Welt sind an Katastrophen gewöhnt. Ich kenne das aus dem Zweiten Weltkrieg, als ich noch ein Junge war. Verglichen mit damals war es diesmal nett und kultiviert. Wir wurden vorher informiert, wo die Bomben einschlagen. Nur, irgendwie erniedrigend war es schon: Wir bombardieren, und ihr versteckt euch.»

Neskovic hatte 1991 an einem Kriegszyklus zu malen begonnen. Jeden Tag ein neues Bild. Er wollte sie ausstellen, sobald alles vorüber war. Beim fünfhundertsten Bild hörte er auf. Der Krieg ging weiter. Je näher er von den Rändern gegen das Zentrum vorrückte, desto weniger hatten die Leute ein Interesse, ihn auch noch auf der Leinwand zu sehen. Das Niveau der Galeriebesucher, lächelt Neskovic milde, sei mittlerweile unter aller Sau. Nur noch Kriegsgewinnler, Neureiche hätten das Geld, sich Kunst anzuschaffen, und deren Geschmack stünde nach etwas anderem. Figurati-ves, Stillleben, Naturidyllen mit prächtigen Goldrahmen, Kitsch. Seinen Kriegszyklus hat er in Mappen abgelegt. Momentan sammelt er Puppenteile. Köpfe, Torsi, Glieder. Er verschraubt sie mit Blechautos und Spielzeugrädchen. Die fahrbaren Apparate aus Kleinkindfragmenten und Maschinenbruchstücken wirken auf den ersten Blick drollig, auf den zweiten skurril und unheimlich.

«Welchen Einfluss hat der Krieg auf Ihre Kunst?»

«Ich versuche mich vor dem Horror zu retten, indem ich ihn in Bilder umwandle.»

«Was ist das Schlimmste?»

«Die eigene Hilflosigkeit, die Dinge zu ändern.»

«Glauben Sie an eine Kollektivschuld Ihres Volkes?»

«Die Serben müssen lernen, sich zu benehmen wie alle anderen Völker. Der Fortschritt in der Welt beruht auf Dis- ziplin und Arbeit. Wir müssen die Geschichte vergessen und zu Sklaven der Vernunft werden. Wie die Schweizer dies schon lange getan haben.»

«Zwischen schlechtem Benehmen und Massenmord ist ein Unterschied.»

«Absolut. Die Massen sind zwar primitiv und manipulierbar, aber nicht wirklich böse. Die Menschen in diesem Teil der Erde haben ein gleichsam genetisches Erbe: Misstrauen und Angst. Sie rechnen immer mit jemanden, der hinterrücks kommt und ihnen alles wegnimmt. Das macht sie nicht schlecht, sondern höchstens unberechenbar. Klar gibt es auch schlechte Menschen, Führer wie Milosevic, solche, die andere wie ihr Eigentum behandeln, Männer ohne Mitleid und Schuldgefühl, die getötet haben, als wäre es ihre Mission. Diese Leute müssen bestraft werden. Aber was fragst du mich. Ich bin ein unnützer Künstler, kein Richter.»

In Pancevo, einem Städtchen im Osten Belgrads, stehen eine Kunstdüngerfabrik, ein riesiger petrochemischer Komplex und die grösste Ölraffinerie des Landes. Noch in hundert Kilometer Entfernung waren die schwarze und die weisse Wolke am Horizont zu sehen, nachdem die Nato die drei Anlagen in Brand geschossen hatte. Mit Rauch- und Giftemissionen hatten die Einwohner Pancevos im Unterschied zu vielen Bosniern und Kroaten bisher keine Erfahrungen. Wohl aber mit der Situation, wie man sich in Zeiten der Knappheit durchmischelt. Spätestens während des Embargos der ersten Hälfte der Neunzigerjahre, als die rasende Inflation das Geld bis zur Lächerlichkeit entwertete und 8 000 000 000 000 000 Dinar einem US-Dollar entsprachen, als alles Lebensnotwendige schwierig aufzutreiben war, mussten neue Techniken des Überlebens erfunden werden.

Die Sanktionen wurden mit dem Kosovokrieg wieder verschärft, und die Nato-Bomben haben grosse Teile der industriellen Infrastruktur zerschlagen. In den kommenden Monaten oder Jahren wird in Pancevo, in Belgrad und im üb- rigen Serbien noch mehr Einfallsreichtum à la Dragan, dem Automechaniker und Schmuggler, gefragt sein. Und wer derart von der Bewältigung des Alltags aufgefressen wird, hat keine Zeit für Politik. Ein günstige Voraussetzung für Diktatoren – wie gehabt. ·

Ziele der Nato-Luftattacken: regierungstreue TV-Station (linke Seite unten); Kriegs- und Polizeiministerium in der Belgrader Innenstadt (links oben); petrochemische Anlage (oben) und Ölraffinerie (unten) in Pancevo, einem Vorort Belgrads.

«Ich habe kein Mitleid mehr mit irgendeinem Opfer irgendwo. Ich bin das Opfer. Weil ich Serbe bin. Weil ich im selben Land wohne wie Slobo Milosevic. Acht Jahre kämpften wir gegen diesen Blutsauger.

Warum half uns der Westen nicht?» Uros Djuric, Kunstmaler, Filmschauspieler, Mitarbeiter des oppositionellen Radiosenders Free B92.

In der Flanier- und Shoppingmeile im Herzen von Belgrad befanden sich die Kulturzentren Frankreichs und der USA. Sie wurden in den ersten

Tagen des Nato-Bombardements von wütenden Stadtbürgern verwüstet.

Predrag Neskovic ist einer der bekanntesten Künstler Exjugoslawiens.

Er hatte Ausstellungen in Paris, London, Venedig und Washington.

«Ich kann mich nicht in die Situation von Leuten hineinversetzen, die mit einem Grinsen im Gesicht töten und stehlen. Es gibt sie überall, gewiss, aber ich bin glücklich, sie nicht zu kennen.»Eugen Sorg ist «Magazin»-Redaktor. Seinen Belgrad-Besuch hat er mit einer Homevideokamera dokumentiert.

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