Das Magazin

15.05.1999

Wo gehts zum Krieg?

Täglich hören und lesen wir ihre Berichte über das Grauen auf dem Balkan. Doch wer sind diese Journalisten, wie arbeiten sie, was denken sie? Unterwegs mit Kriegsreportern im Grenzgebiet zwischen Kosovo und Albanien.

Auf der Suche nach News und Storys: TV-Team in Kukës.

Das beliebteste Sujet der Bildjäger: Frauen mit Kindern.

Wer über den Krieg berichtet, hält später oft den zivilen Alltag nicht mehr aus: Fernsehteam in Tirana.

Von Eugen Sorg

Das europäische 20. Jahrhundert brachte eine dämonische Abfolge von so genannten ethnischen Säuberungen hervor. Das Muster der Hatz ist immer dasselbe. Polizei, Militärs und Freiwilligentrupps dringen nach einem genau vorbereiteten Aktionsplan in die Häuser der anvisierten Minderheit ein, erschiessen Männer, vergewaltigen Frauen, erschlagen Kinder, transportieren das Eigentum ab und zünden die Häuser an. Die Massaker müssen möglichst widerwärtig und brutal sein, und die Anzahl Toten hoch genug, um die Übrigen in Panik zu versetzen. So wehren sich diese nicht gegen ihre beschlossene Verjagung. Wie Schafe zu Sammelstellen getrieben, werden sie von dort ausser Landes deportiert.

Wie viele der 1,8 Millionen Kosovo-Albaner von der serbischen Soldateska bis jetzt davongeprügelt und umgebracht worden sind, ist Gegenstand laufender Berechnungen, Spekulationen und propagandistischer Behauptungen.

Einzig etwas hat sich geändert seit dem Ausrottungsversuch an den Armeniern. Heute werden die Davongekommenen an der Grenze von einem Heer von Journalisten erwartet.

Kukës ist ein Städtchen im Norden Albaniens, 15 Kilometer von der Grenze zu Kosovo entfernt. Bis vor kurzem war es ein trostloses Nest mit zerfallenden Betonbauten, löchrigen Strassen, arbeitslosen Männern. Eine Szenerie, die halb an den Film «Mad Max», halb an einen Italo-Western erinnerte. Nach dem Beginn der Nato-Bombardierung Serbiens am 24. März setzte der Zwangsexodus der Kosovaren in die Nachbarländer ein. Drei Wochen später sollen allein nach Albanien bereits über 300 000 geflüchtet sein. Die meisten von ihnen über Kukës.

Als wir Mitte April dort eintrafen, hatten sich Tausende von Vertriebenen in den Parks, in Hinterhöfen, Schul- häusern, auf den Feldern am Stadtrand niedergelassen. Es roch nach verbranntem Holz, Kot und menschlichem Elend. Unter Plastikplanen und Traktoranhängern schauten teilnahmslose und erschöpfte Gesichter hervor, einige Frauen wuschen Kleider in Plastik- eimern, Kinder spielten zwischen den provisorischen Behausungen im Freien, obwohl der Regen den Boden in Matsch verwandelt hatte. Alle schienen zu warten. Auf die Weiterreise, auf Nachricht von Vermissten, auf ein Wunder, an das keiner glaubte.

Wie muss ein Flüchtling aussehen?

Etwas Leben kam auf, wenn sich Fotografen oder Fernsehleute einer Gruppe näherten. Beliebteste Sujets der Bild- jäger waren alte Frauen mit Babys, stillende Mütter, generell Frauen mit Kindern. Weniger gesucht waren Männer, wahrscheinlich weil sie eher missmutig als traurig dreinschauten. Ebenso selten wurden Kindergruppen abgelichtet. Kinder waren in der Regel zu fröhlich, tanzten vor dem Reporter herum und vermehrten sich innert Sekunden. Es war, als ob es eine geheime internationale Übereinkunft gäbe: Flüchtlinge müssen richtig deprimiert aussehen. Vielleicht weil man nur dann glaubt, dass diese Leute wirklich Hilfe brauchen. Und die Flüchtlinge schienen diese Regel ebenso zu kennen. Sie hatten schliesslich auch Fernsehen mit Satellitenanschluss gehabt. Kaum näherte sich eine Kamera, konnte es passieren, dass eine Frau, die soeben noch mit ihrem Kind geplaudert hatte, das Gespräch unterbrach, den Kopf mit der Hand aufstützte, den Blick senkte und eine eindrückliche Kummerpose präsentierte. Sie reagierte instinktiv richtig. Der Fotograf wollte einen Moment realer, unbeobachteter Traurigkeit, und sie lieferte ihm diesen Moment. Sie musste sich dafür nicht gross verstellen. Auch die Kinder wussten bereits um dieses Gesetz.

Im Gegensatz zur Lethargie in den Camps war die Stadt von einer eigen-tümlichen Geschäftigkeit erfasst. Mit den Flüchtlingen waren die Hilfsorganisationen mit ihren Toyotas und Last- wagen gekommen, die weissgekleideten OSZE-Beobachter, die Uno-Soldaten, die jungen Journalistinnen aus Holland und Frankreich, die vielen Reporter aus der ganzen Welt mit teuren Hightech-Geräten und überlegenem Auftreten. Und alle brauchten sie Benzin, Unterkunft, Essen, Fahrer, Übersetzer. Kukës war plötzlich gefragt, und die Aussicht auf das viele Westlergeld versetzte seine Einwohner in einen Schwindel. Jeder, der einen Grundwortschatz von min- destens 50 englischen Wörtern hatte, bot sich für 100 Deutschmark im Tag den Fremden als Führer an. Ehepaare zogen kurzerhand zu Verwandten, um ihre Wohnungen für 20 Dollar pro Nacht an Flüchtlinge zu vermieten oder, noch lieber, für 100 Dollar an Journalisten, welche im Hotel keinen Platz mehr gefunden hatten. Wer für 100 Mark einen Transport nach Tirana organisieren konnte, war ein Glückspilz. Vor dem Krieg bezahlte man dafür ein Zehntel. Hilfsgüter tauchten auf dem Schwarzmarkt auf, die für gutes Geld an die Vertriebenen verkauft wurden. Und es konnte passieren, dass man vor den Flüchtlingscamps von jungen Männern gefragt wurde: «Junge schöne Flüchtlingsmädchen. Du wollen ficken?» Der Krieg hatte das gottverlassene Bergkaff über Nacht in ein gespenstisches Weltdorf verwandelt.

Die Mediengemeinde beim Bier

Der einäugige Wirt des Hotels «Gjallica» schaute zufrieden in die Runde. Der Esssaal war bis auf den letzten Platz besetzt, und die Stimmung unter der anwesenden Mediengemeinde aufgeräumt. Bei Bier und «Skanderbeg», einem exzellenten hiesigen Cognac, feierten Berufskollegen ihr Wiedersehen, tauschten ihre Erlebnisse aus, mutmassten über die politische Entwicklung, versuchten herauszuhören, ob der andere Informationen hatte, die einem selber entgangen waren. Wahrscheinlich hatten die meisten einen erfolgreichen Tag gehabt. An Bildern herrschte kein Mangel, und fast jeder der Flüchtlinge hatte fürchterliche Geschichten zu erzählen. Von der alten Grossmutter, die mit Benzin übergossen und mitsamt dem Traktor verbrannt wurde, weil ihr 75-jähriger Mann nicht schnell genug aus dem Haus gekommen war. Von der jungen Mutter aus Djakovica, die ihren auf der Flucht erfrorenen Säugling drei Tage an der Brust getragen hatte und gegen alle vorsichtigen Einwände ihrer Familie behauptete, er sei bloss bewusstlos. Vom Onkel, der von den Serben abgeholt und zwei Tage später mit abgeschnittenen Ohren, Nase und ausgestochenen Augen in einem Strassengraben gefunden wurde. Geschichten voller scheusslicher Details, Wahnsinn und Horror, erzählt von einfachen Menschen in einer authentischen Sprache. Geschichten, die erschüttern und die sich gut verkaufen.

«Hier in der Hölle…»

Und es gab auch die herzerwärmenden Storys, wie diejenige des alten Mannes, der drei Tage durch Kosovo irrte, auf der Suche nach seiner Familie, alleine und ohne Schuhe, schliesslich an der Grenze ankam, von den Serben unbehelligt durchgelassen wurde, mitten auf der Brücke wieder umkehren wollte, vielleicht weil er die auf ihn gerichteten Kameras sah, sich doch noch anders entschied und nach Albanien hineinhumpelte. Der wortflinke italienische Fernsehreporter schaffte als erster ein Interview mit dem keuchenden Alten und war auch an dessen Seite, als dieser im italienischen Flüchtlingscamp bei Kukës, liegend auf einem Lazarettbett, endlich seinen Enkel in die Arme schliessen durfte. «Hier in der Hölle von Kukës», sagte der Moderator in die Kameralinse hinein, «hier in der Hölle von Kukës dürfen wir erleben, wie ein kleines Licht der Hoffnung angezündet wurde», und beinahe musste er selber weinen, so schön waren ihm seine Sätze geraten.

An einem dieser Tage war aus den Bergen der nahen Grenzregion das Wummern von schweren Geschützen zu hören gewesen, offenbar ein Artil- lerieduell zwischen der UCK, der Be-freiungsarmee Kosovos, und der jugo-slawischen Armee. Für Erich Rathfelder war sofort klar, dass er sich auf den Weg dorthin machen wollte. Wir hatten den 52-jährigen Deutschen mit dem gutmütigen, jungenhaften Gesicht im «Gjallica» getroffen und gefragt, ob wir ihn begleiten dürften.

Rathfelder ist Kriegsreporter, der dienstälteste der Jugoslawienkorrespondenten, ihr Doyen sozusagen. Seit acht Jahren, seit dem ersten Schuss, der das Auseinanderbrechen des ehemaligen Titoreiches eingeleitet hatte, berichtete er für verschiedene deutschsprachige Blätter, unter anderem für den «Tages-Anzeiger», aus dem Kriegsgebiet. Neben dem Laptop gehören ein Helm und eine kugelsichere Weste zu seinem Reisegepäck. 72 Journalisten verloren im Kroatien- und Bosnienkrieg ihr Leben – Rathfelder verlor sechs Autos. Drei davon wurden zu Schrott geschossen, wobei er zweimal drin sass und sich mit einem Sprung ins Freie retten konnte. Kriegsreporter sei kein gesunder Beruf, meinte er, man schlafe wenig, esse schlecht und rauche zu viel. Momentan steht er in Scheidung. Aber er würde uns gern in die Berge mitnehmen.

Zusammen mit zwei Kollegen von der Deutschen Nachrichtenagentur DPA quetschten wir uns in seinen Gelän- dewagen und fuhren los. Das Sträss-chen wand sich an den Hügelflanken empor, durchquerte kleine Ebenen, passierte armselige Bauerngehöfte, und Kinder mit struppigen Haaren starrten uns nach.

Kriegsreporter sei aber auch ein schöner Beruf, nahm Rathfelder den Faden wieder auf. Nirgends gebe es sinnvollere Aufgaben für einen Journalisten als bei den Opfern des Krieges. Diese gingen auf einen zu und seien dankbar. Ihnen gelte übrigens seine volle Sympathie, er schreibe nicht für irgendwelche Manipulatoren. Im Krieg würden sich auch dauerhafte Freundschaften entwickeln. Gerade die Erschütterung trenne den Spreu vom Weizen. Und im Krieg seien die normalen Mechanismen des Lebens ausgeschaltet, was durchaus lustig sein könne. Es gebe zum Beispiel keine funktionierenden Verkehrsampeln mehr. Oder er erscheine zum Treffen mit dem Minister unrasiert und in dreckigen Hosen, und das sei scheissegal, weil er direkt von der Front käme. Es gehe nicht mehr um die Form, sondern um die Sache, und alle würden dadurch etwas gleicher.

Allerdings sei es schwierig, wieder nach Hause zu kommen. Er habe davon geträumt, nach Berlin zurückzukehren, wenn der Krieg zu Ende sei. Ins Kaffeehaus sitzen, joggen, in Ruhe an seinem Buch schreiben. Aber als er dort war, sei er nach zwei Wochen hypernervös geworden. All die Fragen, wie: «Ach, wie war es da unten? War das nicht schrecklich?», auf die er nichts zu antworten wusste. Und das Geschwätz der Leute, ihr Jammern über Arbeitslosigkeit und ihr kleiner Kummer, und dies in einem der reichsten Länder der Welt, wo es Sicherheit gibt und man gegen Ungerechtigkeit anreden kann und erst noch mit Erfolg. Er habe das normale Leben nicht mehr ertragen und gemerkt, dass er sich von der eigenen Gesellschaft entfremdet habe. Den meisten seiner Kollegen aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg sei es ähnlich ergangen, und nur wenige hätten den Übergang geschafft, wie Pulitzerpreisträger Roy Gutman von «Newsday» beispielsweise, der heute als Redaktor arbeite.

Unterdessen hatten wir Krumë erreicht, das letzte grössere Dorf vor der Grenze. Bei einem Café am Dorfausgang hielten wir an. Der Fernseher zeigte Bilder von den Nato-Angriffen, und um einen Tisch sassen vier UCK-Soldaten, jüngere Typen in schwarzen Uniformen mit kahlrasierten Köpfen und grimmigem Gesichtsausdruck. Rathfelder wandte sich an sie, und es zeigte sich, dass einer von ihnen Luzerner Dialekt und ein anderer breites Schwäbisch sprach. Der Luzerner schien der Ranghöchste der Gruppe zu sein. Er übernahm das Gespräch, gab aber wie ein überheblicher Klubtürsteher zu verstehen, dass er keinerlei Wert darauf lege, Antworten auf irgendwelche Fragen zu geben. Die anderen drei imitierten die cool lümmelnde Haltung des Luzerners.

Rathfelder zückte die Visitenkärtchen von zwei Persönlichkeiten aus angesehenen kosovarischen Familien. Ob sie diese Männer kennen würden? Es seien gute Bekannte von ihm. Als ob ein Befehl gebellt worden wäre, richteten sich die Soldaten in ihren Stühlen auf, und ihre Mienen wurden mit einem Schlag freundlich und zuvorkommend. Er würde gerne mit ihrem Kommandanten sprechen, sagte Rathfelder, und der Luzerner antwortete, er würde gleich losgehen, um dies abzuklären.

Während wir auf den Bescheid warteten, fuhr auf dem Platz vor dem Café eine Kolonne Busse und Lastwagen vor. Sie waren voll mit UCK-Soldaten, junge Männer, einzelne noch halbe Kinder, alle frisch mobilisiert. «Wo kommt ihr her?» «Aus Berikon», rief einer mit langen Haaren und schmalem Gesicht. «Vo Aarau», ein anderer mit Mittelscheitel und rasiertem Nacken. «Aus Bielefeld», ein dritter mit Stoppelfrisur. «Wo fahrt ihr hin?» «I öisi Heimat. Nach Kosova.» «Uutscheekaa. Uutscheekaa. Uutscheekaa!» Dann scheuchte uns ein Uniformierter von den Bussen weg, verbot das Fotografieren, und die Kolonne setzte sich wieder in Bewegung. Aus den Busfenstern schauten uns einige der Burschen nach, unendlich ernst, fast schon abwesend, als ob sie zum letzten Mal in ein menschliches Antlitz blicken dürften. Nur auf dem hintersten Laster wurde gesungen, die UCK-Hymne von der Fahne und dem Blut. Laut wurde sie geschmettert, laut und euphorisch, um die Todesangst für einen Moment zu übertönen.

Bodenkrieg live

«Das ist die Vorbereitung für die Rück-eroberung. Es kommt zu einem neuen Krieg. Der Bodenkrieg der UCK. Ich spüre es. Und wir sind dabei, live sozusagen.» Rathfelder sprach leise, er war in Hochspannung. In den Achtzigern war er Osteuropakorrespondent der «taz» gewesen und hatte schon früh den Jugoslawienkrieg vorausgesagt. 1990 war er mit seiner Frau durch alle Städ- te Jugoslawiens gereist, Zagreb, Mostar, Sarajevo, Visegrad, Tuzla, Vukovar. «Schau sie dir an», hatte er ihr gesagt, «schau sie dir noch einmal an, das wird alles verschwinden.»

Ein alter Mann, der die Abfahrt der Soldaten beobachtet hatte, trat zu uns hin. Er hatte Tränen in den Augen. Gu-te Männer seien das, die jungen Soldaten, sagte er in gebrochenem Schwei-zerdeutsch, sie werden unser Land befreien. 20 Jahre habe er in Emmenbrücke gearbeitet und ein Haus gebaut in Orahovac, drei Stockwerke hoch. Vor zwei Jahren sei er dorthin zurückgekehrt, und jetzt hätten die Serben es zerstört, Benzin hinein gegossen und eine Handgranate hinterher. Und zwei seiner Söhne seien tot.

Die UCK würde sich überschätzen, sagte Rathfelder, nachdem der Alte wieder gegangen war. Letztes Jahr sei die ominöse Guerillatruppe eine News-Story geworden. Jeder Sender und jede Zeitung wollten Bilder haben, und schliesslich seien auf sämtlichen Programmen der Welt UCK-Männer mit Kalaschnikows zu sehen gewesen. Weil in den Medien die Analyse im Allgemeinen zu kurz käme, hätte dies die UCK stärker gemacht, als sie in Wirklichkeit sei. Und die UCKler hätten selber angefangen zu glauben, sie seien stark. Auch sie hätten Satellitenschüsseln.

Nach einer halben Stunde kehrte der Luzerner zurück. «Der Kommandant ist im Moment nicht zu sprechen.» «Wie können wir zu einem UCK-Lager gelangen?» Der Luzerner hob entschuldigend die Schultern. «Kein Kommentar.» Wir beschlossen, es auf eigene Faust zu versuchen. Wir stiegen in den Wagen und bogen in die Schotterstrasse, die zum Dorf hinaus führte. Nach einigen Minuten hielt Rathfelder bei einer Gruppe Kinder an. «UCK?», fragte er. Die Buben zeigten Richtung Norden in die Berge. «Danke», sagte Rathfelder und kurbelte das Fenster hoch. Kinder seien die bes-ten Auskunftspersonen, grinste er, sie wüssten immer Bescheid, auch über die geheimsten militärischen Positionen.

Rund zwanzig Minuten später tauchte hinter einer Hügelflanke ein Militärcamp auf. Rathfelder parkte, wir kletterten den Abhang hoch und stoppten hundert Meter vor den Wachtposten. Wir ahnten die auf uns gerichteten Maschinengewehre. «Hoffentlich sind das keine Serben», meinte einer der DPA-Journalisten. Es sollte ein Scherz sein, aber niemand fand ihn lustig. Nach einer Weile löste sich ein Uniformierter aus dem Camp und kraxelte uns entgegen. «Ihr müsst weg von hier», rief er plötzlich auf Englisch. Wir kehrten zum Wagen zurück und setzten die Fahrt fort.

Er glaube nichts, was er nicht mit eigenen Augen gesehen habe, meinte Rathfelder, während er zwischen den Schlaglöchern hindurchmanövrierte, die Lüge sei ein integraler Bestandteil der Kriegstaktik. Reingehen, miterleben, go for the story, wie es die angelsächsische Tradition verlange, heisse es daher in seinem Beruf. Wobei er den Kontext, die Analyse, den politischen Hintergrund und den menschlichen Aspekt immer mit einbeziehe. Aber ohne Risiko ginge nichts. Und ohne Adrenalinkick hätte man nur Angst. Es brauche einen Schuss Abenteuerlust, um die notwendigen Erfahrungen zu sammeln, und die Angst wiederum werde kleiner durch diese Erfahrungen. «Es ist wie bei den Frontsoldaten. Wer die ersten Stürme überlebt, überlebt den ganzen Krieg. Kanonenfutter sind die Frischlinge, die Nachschubsoldaten aus der Etappe.»

Wir waren bereits wieder einige Zeit unterwegs. Schon lange hatten wir keine Dörfer oder Höfe mehr gesehen. Auf einmal entdeckte Rathfelder breite Spuren im Geröll des Strässchens. Lastwagen? Panzer? Auf keiner der Karten war unser Weg eingezeichnet. Wo waren wir? Bereits in Kosovo?

Gestern war im Fernsehen gemeldet worden, dass ein norwegischer Journalist angeschossen worden war, weil er versehentlich auf die serbische Seite gelangt war. Wir begannen uns unbehaglich zu fühlen, und ich stellte fest, dass ich unwillkürlich den Kopf einzog. Wir beschlossen, noch bis zur nächsten Krete hochzufahren.

Wehe dem Schwachen

Im Tal auf der anderen Seite erblickten wir ein Bauerngehöft. Dort wollten wir hin, bevor wir wieder umkehrten. Als wir zum Tor einbogen, sahen wir, wie einige Gestalten im Gehölz verschwanden. Ein Mann kam uns entgegen, seinem Aussehen nach ein Bauer. Er blieb wortlos stehen und musterte uns voller Miss-trauen. Gazettara, sagten wir, Presse. Er nickte kurz, verschwand und kehrte wieder mit einem Begleiter. Der andere war, wie sich herausstellte, ein Kosovare, ein Flüchtling, der 15 Jahre in Bremgarten auf dem Bau gearbeitet hatte. Wir atmeten auf, wir waren noch in Albanien. Die Serben seien hinter dem übernächsten Hügelzug, erzählte der Bauarbeiter, sie hätten alles vermint, auch schon albanische Dörfer beschossen und angegriffen, Zogaj, Tropojë, Kamenicë, alle nicht weit von hier. Aber die UCK hätte zurückgeschlagen.

Während wir redeten, tauchten aus dem Wäldchen Leute auf, sieben oder acht Männer, alle mit Äxten in den Fäus-ten. Es waren dieselben, die wir bei der Ankunft gesehen hatten, Flüchtlinge aus Kosovo. Sie hatten geglaubt, die serbische Miliz sei im Anzug. Rathfelders Geländefahrzeug hatte die gleiche Farbe wie die Wagen ihrer Verfolger: dunkelblau. Jetzt standen sie um uns herum und drehten verlegen die Hauwerkzeuge in ihren schwieligen Händen.

Zurück in Kukës, traf Rathfelder im Hotel «Gjallica» den Holländer Harald Doornbosch, einen langjährigen Bekannten, einer aus dem vier- oder fünfköpfigen harten Kern der Kriegsreportergilde auf dem Balkan. Die beiden umarmten sich herzlich. Doornbosch, feingliedrige Finger, tadellose Manieren, blasierter Zug um den Mund, Freizeittenü wie von seiner Mutter ausgesucht, gemahnte eher an einen überspann- ten englischen Internatszögling als an einen, der seit Jahren seinen Kopf an den explosivsten Orten dieser Welt zu Markte trägt. Vor kurzem hatte er unter lebensgefährlichen Umständen Kosovo verlassen müssen. Sein Bericht darüber geriet zu einer Serie von haarsträubenden, wahnwitzigen und urkomischen Pointen. Doornbosch war ein begabter Erzähler, und der Krieg verwandelte sich in einen lunatischen Comicstrip. Vielleicht war dies die einzige Möglichkeit, jenen freiwillig auszuhalten.

Für beide, Doornbosch und Rathfelder, stand fest, dass die entscheidenden militärischen Vorstösse im Grenzgebiet zwischen Kukës und Tropojë lanciert würden. Von hier aus würde die Gegen-offensive der UCK gestartet, und von diesem Territorium aus würde die Nato ihre Bodentruppen losschicken, falls sie sich für diese entschliessen würde. Die Gegend war brandheiss. Es gab keine Wahl: Die zwei Reporter würden noch eine Weile in Kukës bleiben.

Als Rathfelder unsere Biers und Kaffees bezahlen wollte, fiel ihm ein, dass er kein albanisches Geld mehr hatte. Er war zuvor zufällig einem Mann aus Kosovo begegnet, der seit zehn Tagen im Flur eines Neubaus hauste. Der Familienvater, dessen Dorf abgefackelt worden war, war schwer traumatisiert, und er hatte nicht realisiert, dass sich 50 Meter von ihm entfernt eine Hilfsgüterstelle befand. Rathfelder hatte ihn hingeführt und ihm das Geldbündel zugesteckt, das er in der Hosentasche trug. «Auf dem Balkan gibt es keine Guten und Bösen», hatte ich neulich gelesen, «es gibt nur Starke und Schwache. Und wehe dem, der schwach ist.» ·

Im Grenzgebiet zwischen Kosovo und Albanien: Kriegsreporter Erich Rathfelder (vorne) mit zwei Berufskollegen.

Einfall der Medien: Der Krieg verwandelte abgelegene Orte in gespenstische Weltdörfer.Eugen Sorg ist redaktioneller Mitarbeiter des «Magazins». Nathan Beck arbeitet als freier Fotograf in Zürich .

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