Die Weltwoche / Eugen Sorg

09.06.2005

Balkankrieg

Das Hässliche im Spiegel

Warum erkennen die Serben die Gräuel ihrer «Helden» erst jetzt, wo sie diese auf Video sehen?

Die Ausschnitte aus dem Amateurvideo, welche Anfang Juni vom unabhängigen Belgrader Radiosender B92 ins Netz gestellt wurden, dauerten nur vier Minuten. Aber die verwackelten Bilder schüttelten nicht nur Serbien durch, sondern schockierten die ganze Welt. Sie zeigen gutgelaunte Angehörige der «Skorpione», einer dem serbischen Innenministerium unterstellten Sondereinheit, die im Juli 1995, kurz nach der Einnahme Srebrenicas, sechs gefesselte, vor Todesangst schlotternde und einnässende Zivilisten von einem Lastwagen zerren, verhöhnen, in den Kopf treten und schliesslich mit Gewehrsalven erledigen. Die Szene spielte sich in Trnovo ab, einem bosnischen Dorf in der Nähe von Pale, der Hauptstadt der bosnischen Serben. Alle Getöteten waren bosnische Muslime, vier von ihnen jünger als 18.

Spontanreinigung der Seele?

Das Video setzte die serbische Regierung unter gehörigen internationalen Druck. Die Belgrader Nomenklatura ­ vom gestürzten Slobodan Milosevic bis zur heutigen Führung ­ hatte bis anhin jegliche Verwicklung in die Massaker des Bosnienkrieges der neunziger Jahre abgestritten. Eine dreiste Lüge, die sich nun nicht mehr halten liess. Umgehend liess die Regierung einige ehemalige Skorpione verhaften, darunter deren Kommandanten Slobodan Medic. Serbiens Präsident Boris Tadic bezeichnete die Uniformierten aus dem Video als «Kriminelle», und auch der nationalistische Ministerpräsident Vojislav Kostunica sprach von einem «brutalen, gefühllosen und schändlichen Verbrechen». Dies waren neue Töne.

Carla Del Ponte, Chefanklägerin des Haager Uno-Tribunals für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, frohlockte. Nicht nur glaubte sie, mit dem Videoband den schlagenden Beweis gegen den Hauptangeklagten Milosevic in der Hand zu halten. Sie diagnostizierte darüber hinaus auch eine Spontanreinigung der serbischen Nationalseele, generiert durch den Schock der rohen Wahrheit. Für die Bevölkerung, sagte sie, seien nun die Herren des Bürgerkrieges, Männer wie Volkstribun Karadzic oder General Mladic, «keine Helden mehr».

Hat die Mehrheit der Serben nichts von den Untaten einiger ihrer Landsleute gewusst, wie die Aussagen der Politiker und Del Pontes suggerieren? Haben die Bilder die Leute wach gerüttelt, zu einer Einsicht gebracht? Nur weltfremde Zeitgenossen könnten solches annehmen.

Jugoslawien war das gelobte Land der menschlichen Linken: Sozialismus mit Selbstverwaltung und dezentralen Strukturen. Der Kollaps Anfang der neunziger Jahre vollzog sich ebenfalls nach diesem Prinzip, nur zynisch gedreht: selbstverwaltete Plünderungen, dezentrale Massaker. Dorf für Dorf, Kleinstadt für Kleinstadt wurde die jeweilige nationale Minderheit beraubt, vertrieben, erschlagen, vergewaltigt. Paramilitärische Einheiten wie die Tiger, die Weissen Adler, die erwähnten Skorpione, oft angeführt von Kriminellen oder ehemaligen Fremdenlegionären, lieferten logistischen und mentalen Support. Aber ohne die Arbeit der spontanen Bürgermilizen wären die «ethnischen Säuberungen» nicht durchführbar gewesen. Alles passierte öffentlich, es gab keine Geheimnisse. Wenn im ostbosnischen Bijeljina Köpfe von ermordeten Bosniaken herumgekickt wurden, schauten die Dorfkinder zu, und die in Belgrad lebenden Verwandten erfuhren davon noch am selben Abend.

Zudem gab es keine kämpfenden Einheiten ohne Videokamera. Vor allem die Scheusslichkeiten des Gegners wurden festgehalten. Die Kassetten kursierten in der weltweiten Diaspora und motivierten zu erheblichen Geldüberweisungen. Und an der Heimatfront dopten sie den Kämpfer für die Schlacht. Die Bilder von den verstümmelten Körpern seiner Kameraden, von den Leichen mit den in den Mund gesteckten Geschlechtsteilen weckten seine eigene Lust am Bösen und erteilten ihm die Absolution. Es war nicht mehr Gier, wenn er den bosnischen Nachbarn ausraubte, nicht mehr blosser Sadismus, wenn er sich an dessen Zittern und Flehen weidete, bevor er ihn umbrachte ­ es war ein Akt der Ehre und des Patriotismus.

Die Gleichschaltung von Gewissen und niederen Instinkten mobilisiert furchtbare Synergien und versetzt den Träger in Hochstimmung. In einer solchen Euphorie dürften die Skorpione gewesen sein, als sie das vor kurzem ausgestrahlte Video produzierten. Es war weniger als Propaganda gedacht, sondern eher als Dokument einer erhebenden, abenteuerlichen Tour, vielleicht auch verwendbar für Schulungszwecke. Das Original ist zwei Stunden lang, beginnt mit der Segnung durch einen orthodoxen Priester, zeigt, wie sie die Gefangenen quälen, endet mit deren Erschiessung.

Nachdem die Einheit zu ihrem Stützpunkt im serbischen Sid zurückgekehrt war, verfertigte einer der Helden zwanzig Kopien des Bandes und verteilte sie an die Kameraden. Als der Skorpion-Kommandant Medic davon hörte, liess er wütend alle Kopien wieder einsammeln und zerstörte sie. Er hatte nicht völlig vergessen, dass eine Welt ausserhalb seiner Truppe weiterexistierte. Einer der Männer jedoch hatte eine weitere, private Kopie hergestellt. Und diese Kopie gelangte über verschlungene Wege ein Jahrzehnt später an die Weltöffentlichkeit.

Man muss davon ausgehen, dass weitere Kassetten ähnlichen Inhalts existieren. Vielleicht werden noch einige auftauchen, vielleicht wird die Gesellschaft dadurch gar etwas klüger. Wahrscheinlicher ist: Wer nicht auf dem Bild erkennbar ist, wird abstreiten, je etwas mit der Sache zu tun gehabt zu haben. Welcher Mensch hält schon den Blick in einen Spiegel aus, der seine hässlichsten Seiten zurückwirft?

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