Die Weltwoche / Eugen Sorg

19.08.2004

Verstummendes Entsetzen

Das Köpfen Ungläubiger ist in der islamischen Welt bis heute nichts Aussergewöhnliches. Und der Westen blickt ratlos weg. Warum?

Nachdem der Kapuzenmann die Misshandlung der muslimischen Brüder durch die satanischen Amerikaner im Gefängnis von Abu Ghraib verflucht und die üblichen Lobpreisungen Allahs vorgetragen hat, packt er den vor ihm gefesselt am Boden sitzenden, wie versteinert wirkenden jungen Mann beim Haarschopf, kippt ihn seitwärts auf den Boden und beginnt ihm mit einem Messer den Hals durchzusäbeln. Nicht vorne bei der Kehle, sondern an der Seite. Vier Kollegen stehen um den knienden Kapuzenträger herum und beobachten, wie dieser innert 41 Sekunden den Kopf schliesslich ganz abtrennt, hochhebt, dem Betrachter entgegenstreckt und erneut fromme Drohformeln rezitiert, während Blut aus dem Rumpf quillt und sich über den Boden ergiesst.

Die Enthauptung wurde Anfang Mai dieses Jahres irgendwo im Irak vor einer laufenden Handkamera durchgeführt. Der Henker soll Terrorpate Musab Zarkawi, von seinen Anhängern «Habib» genannt (der Liebe), persönlich gewesen sein; sein Opfer war Nicholas Berg, 26, ein jüdisch-amerikanischer Geschäftsmann, den die Islamisten in der Umgebung von Bagdad verschleppt hatten.

Die Videoaufnahme wurde unter dem Titel «Scheich Abu Musab al-Zarkawi schlachtet eigenhändig einen amerikanischen Ungläubigen» ins Internet gestellt und kurz darauf überall auf der Welt heruntergeladen. In den USA beispielsweise wurde sie häufiger angeklickt als die Erotikclips mit Paris Hilton oder Britney Spears.

Das Schockierendste ist die unaufgeregte, beinahe gemessene Art, wie die Hinrichtung vollzogen wird. Keine Spur von Hass oder Blutrausch. Im Gegenteil, alles scheint wohlvorbereitet und eingeübt zu sein. Die Armbewegungen des Henkers sind kräftig, aber ohne Hast und routiniert, die Kameraden verfolgen seine Tätigkeit, als wäre er ein Schreinermeister und sie die Gesellen, und sogar der arme Nicholas Berg wirkt, abgesehen von einem kurzen Schreien beim Eindringen des Eisens ins Fleisch, als würde er sich widerstandslos in seine Rolle als Blutopfer fügen. Die eigentümliche Kälte des Geschehens erinnert an die rituelle Schlachtung eines Schafes. Auf genau dieselbe Weise war vor zwei Jahren der Journalist Daniel Pearl in Pakistan von Islamisten ermordet worden.

In Europa wurde Bergs Tötung von einigen Regierenden verurteilt: «Ein barbarischer Akt» (Jacques Chirac), «ein scheussliches Verbrechen» (Gerhard Schröder). Aber das etwas formelhafte Entsetzen verstummte auffällig rasch wieder. Als ob man die Verstörung nicht einzuordnen wüsste, als ob sie aus der falschen Richtung käme.Sogleich wandte sich die öffentliche Aufmerksamkeit wieder den Demütigungen von Irakern durch einige amerikanische Soldaten im Gefängnis von Abu Ghraib zu. Die Schweizer Aussenministerin Calmy-Rey etwa hatte die Botschafter der USA und Grossbritanniens deswegen zu sich ins Büro beordert und ihnen eine Standpauke über internationales humanitäres Recht gehalten, als wären sie Vertreter von randständigen, semizivilisierten Tropenrepubliken. Und via Sonntagsblick verkündete sie, sie empfinde «Abscheu und Wut» und fordere, die Taten der Gefängniswärter dürften «nicht ungestraft» bleiben.

Die verbale Intervention der Aussenministerin («Wir können nicht schweigen») eines eigentlich neutralen Landes wurde in der Presse von Manila über Xinhua, Dhaka, Riad, Damaskus bis London und New York zitiert und auf allen islamistischen Websites mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Zur rohen Tötung Bergs waren von Calmy-Rey keine Worte der Empörung mehr zu vernehmen. So wenig wie zu den nachfolgenden Gemetzeln.

Offenbar beflügelt vom medialen Welterfolg des Berg-Videos (der malaysische Provider brach zwischenzeitlich wegen Überbeanspruchung zusammen), entführten Islamisten in Saudi-Arabien den Amerikaner Paul Johnson, den man ebenfalls wenig später im Internet sehen konnte: mit frisch abgeschnittenem Kopf auf dem blutigen Rumpf. Wenige Tage darauf flehte im irakischen Falludscha der südkoreanische Übersetzer Kim Sun Il auf den Knien um sein Leben, bevor auch sein Haupt abgesäbelt und in die Kamera gehalten wurde. Neue Videos wurden in globalen Umlauf gebracht: die Hinrichtung zweier bulgarischer Lastwagenfahrer; die kürzlich durchgeführte Enthauptung eines angeblichen ägyptischen Spions.

Die Lebenslügen der Westler

Weiterhin werden die finsteren Metzger in vielen westlichen Publikationen als Widerstandskämpfer, Rebellen, Aufständische bezeichnet ­ fast Ehrbegriffe im linksliberalen Referenzsystem. Und wenn zwischendurch deren «Extremismus» oder «Fanatismus» verurteilt wird, schwingt gleichwohl viel therapeutische Empathie mit. Es seien «terroristische Reaktionen», drückte Calmy-Rey jene Überzeugung aus, die in muslimischen Ländern längst zur kulturellen Lebenslüge geworden ist, sich aber auch in Europa stark ausgebreitet hat: Primärursache allen Übels in der Welt ist die Politik der USA und Israels. Und Selbstmordattentäter, Autobombenbastler, Halsabschneider sind die brutale, aber letztlich verständliche Antwort des Machtlosen auf die Arroganz der Supermacht. Wenn Letztere nicht gar selber alle die Massaker eingefädelt hat. Wie im Fall Berg, wo sich gleich nach Auftauchen des Videos mindestens eine Milliarde Verschwörungstheoretiker an ihre gewohnte Arbeit machten. Das Video, wusste die Teheran Times sofort, sei «eine Fälschung». Berg sei ein Mossad-Spion gewesen, insinuierten die saudischen Arab News, als ob dadurch die Schlachterei gerechtfertigt gewesen wäre. Die Ermordung sei vom «CIA inszeniert» gewesen, beschied ein iranischer Politkommentator am Fernsehen. Scheich al-Fayoumi, leitendes Mitglied der Al-Azhar-Universität in Kairo, tat den Fall Berg ab «als amerikanische Propaganda, um von Abu Ghraib abzulenken». Es sei nämlich «nach islamischem Recht verboten», schlaumeierte er, «einer lebenden oder toten Person den Kopf abzuschneiden».

Natürlich wusste al-Fayoumi, dass Enthauptungen zur islamischen Rechtspraxis gehören. Auch der Informationsminister der Vereinigten Arabischen Emirate wusste dies, als er erklärte, Bergs Ermordung habe «nichts zu tun mit dem Islam oder unseren arabischen Werten». Und ebenso wussten dies die Millionen Zuschauer des Blutvideos, welches auf den arabischen TV-Sendern und Websites immer wieder abgespielt wurde ­ unzensiert und ohne verurteilende Kommentare. Bezeichnenderweise wurde bisher von keinem der religiösen Führer eine Fatwa, ein Rechtsgutachten, gegen irgendeinen der Massakerislamisten ausgesprochen. Ungleich empfindlicher reagierte man damals beim Schriftsteller Salman Rushdie, der 1989 wegen «Prophetenbeleidigung» von Ajatollah Chomeini zum Tode verurteilt und jahrelang von muslimischen Kopfgeldjägern verfolgt worden war. Dass der Islam nichts mit Kopfabschlagen zu tun habe, ist eine übliche Beruhigungspille für sensible, naive Westler.

In Saudi-Arabien, dem Kernland des Islam, gehört die Hinrichtung mit dem Schwert vor dem Freitagsgebet zu den wenigen öffentlichen Spektakeln. Tötungsgründe sind unter anderem Drogenschmuggel, Homosexualität, Hexerei, christliche Missionierung. 2003 wurden offiziell 53 Menschen geköpft. Der Gottesstaat Iran liess bis vor nicht allzu langer Zeit Todesurteile sogar im Ausland vollstrecken. Ein eigens hingeschickter Spezialist köpfte 1993 den persischen Popstar Fereidun Farrokhzad in dessen Exil in Deutschland. Zwei Jahre zuvor hatte den Ex-Premier Bakhtiar in Paris dasselbe Schicksal ereilt.

In den algerischen Wirren der neunziger Jahre meuchelten Islamisten Zehntausende von Landsleuten. Zu besonderem Ansehen unter den Strenggläubigen brachte es der ehemalige Metzgergeselle Momo le Nain (Mohammed der Zwerg). Er soll in der Nähe von Algier in einer Nacht 86 Köpfe abgeschnitten haben, unter ihnen viele von Kindern. Seine Organisation GIA (Bewaffnete Islamische Gruppe) belohnte ihn mit einer Pilgerfahrt nach Mekka. Geköpft wird im Sudan, in Pakistan, in Nordnigeria, in Kaschmir, in Afghanistan, in Tschetschenien, im Süden Thailands und der Philippinen ­ überall, wo Kampfmuslime das Sagen haben.

Islam breitete sich mit dem Schwert aus

Und aller Ideal ist das authentische Leben und Wirken des Propheten Mohammed. Jedes muslimische Kind kennt jene Geschichte, in der Mohammeds Truppen 627 in Yathrib, dem späteren Medina, die befestigte Siedlung des jüdischen Stammes der Quraiza belagerten. Als sich die Quraiza nach einem Monat schliesslich ergaben, wurden Kinder, Frauen, Schmuck und Waffen als Beute unter die Hauptleute aufgeteilt. Mohammed, dem ein Fünftel der Beute zustand, nahm sich von den Frauen nur die junge jüdische Schönheit Rayhana. Die Männer wiederum wurden zu frisch ausgehobenen Gräben geführt und «Gruppe um Gruppe […] enthauptet», wie Ibn Ishaq, der bekannteste Biograf Mohammeds berichtet. Mohammed wohnte der Auslöschung des Judenstammes ­ 600 bis 900 Tote ­ von Anfang bis Ende bei.

Die Ausbreitung des Islam erfolgte durch das Schwert. Ob beim Regieren Spaniens, bei der Unterwerfung des Balkans, dem Vorstoss nach Asien, immer wurde dem Bekenntnis des Propheten mit jenem rustikalen Mittel Nachdruck verschafft, das von Eroberer Babur (1483 ­ 1530), dem ersten muslimischen Grossmogul von Indien, in einer erstaunlichen Autobiografie verewigt wurde: «Jene, die überlebt hatten, wurden geköpft, und dann liess ich einen Turm mit Schädeln in meinem Lager errichten.»

Vor 100 Jahren erst wurde die vorläufig letzte Zwangsbekehrung einer ganzen Gesellschaft erfolgreich abgeschlossen. Der Gründer des modernen Afghanistan, Emir Abdurrahman, hatte 1895 seine Heere in Kafiristan (Land der Ungläubigen), einem abgelegenen Berggebiet im Osten des Landes, einmarschieren lassen. Dort lebten die Kafirn (Ungläubige), ein Volk von wilden Wegelagerern, lustigen Weintrinkern und Anhängern sechzehn antiker Hauptgottheiten. Seit je waren sie den Herrschern in Kabul ein Ärgernis gewesen. Des Emirs Soldaten zerschmetterten die widerständigen Heidenverbände, und die Überlebenden wurden in ein Tal gebracht, in dessen Mitte ein Fels mit einem Loch stand. Jeder Kafir musste seinen Kopf durch das Loch stecken und wurde gefragt, ob er den rechten Glauben annehmen wolle. Sagte er nein, wurde ihm der Kopf abgeschlagen. Seit diesem Tag sind die Kafirn gläubige Muslime, und ihr Land heisst Nuristan (Land des Lichts).

Die Legionen frommer Blutrichter konnten sich immer auf den heiligen Koran berufen. «Wenn ihr auf die stösst, die ungläubig sind, so haut ihnen auf den Nacken» (47, 4). Oder: «Der Lohn derer, die Krieg führen gegen Allah und seinen Gesandten und Unordnung im Lande zu erregen trachten, wäre der, dass sie getötet (durch Köpfen) oder gekreuzigt werden sollen oder dass ihnen Hände und Füsse abgeschnitten werden sollen oder dass sie aus dem Lande vertrieben werden» (5, 33). Denn: «Und nicht ihr habt sie getötet, sondern Allah» (8, 17).

Krieg und Grausamkeit waren und sind eine Konstante aller Kulturen. Jede Zeit kennt ihre Menschenjagden, jede Gesellschaft ihre geheimen Schrecken, und ob eine Gruppe auf Eroberungen ausgeht, scheint weniger von ihrer Weltanschauung oder Religion abzuhängen als vielmehr von der Frage, ob sie sich mächtig genug dazu fühlt. Die Menschen modellieren sich die Religionen nach ihren Bedürfnissen ­ ihrer Angst, ihrem Wunsch zu lieben, ihren Lügen, ihrer Lust zu herrschen und zu zerstören. Es ist müssig, nach dem wahren Christentum oder dem wahren Islam oder dem wahren Kommunismus zu fragen. Gott widerspiegelt den Zustand seiner Anhänger, und wenn diese sich wandeln, verändert sich mit ihnen Gott.

Vor allem der europäische Westen verharrt in Irritation und Ratlosigkeit angesichts des Phänomens der neuen Gotteskrieger. Lieber träumt man vom interkulturellen Dialog, besänftigt sich gegenseitig, dass der Islam im Grunde friedfertig sei, schimpft man über die tumben Amerikaner, als dass man sich mit der entschlossenen Bestialität einer wachsenden Bewegung befassen würde, welche zum Angriff auf den Okzident angetreten ist. Wieso dieses Ausweichen?

Vielleicht weil an den Türen zu den eigenen Dunkelkammern gerüttelt wird. Selber hervorgegangen aus einer Knochenbrecherreligion, versuchen die westlichen Gesellschaften seit Beginn der Moderne, sich zu zivilisieren. Das Verstümmeln von Körpern, der Kult des Blutes, die archaischen Veranstaltungen der Brutalität wurden zunehmend geächtet und ins Reich der Fantasie verbannt. Gleichzeitig wuchsen mit Wissenschaft und Technik die Möglichkeiten der «sauberen» Zerstörung auf nie gesehene Weise. Indem der soziale Nahbereich immer pazifizierter und die Gewalt immer abstrakter wurde, verflüchtigten sich auch die Kategorien von Freund und Feind, von Gut und Böse, von Sieg oder Tod zu Unwirklichkeiten aus märchenhaften Vorzeiten.

«Ich schoss, und sein Kopf explodierte»

Die heiligen Bärte bringen uns diese vergangen geglaubte Welt zurück. Noch ist es für die meisten hierzulande unvorstellbar, dass eine grosse Gruppe Menschen existiert, die uns hasst und uns unterwerfen und vernichten will. Egal wie wir uns verhalten, was wir von ihnen denken, wo wir uns hinstellen. Es ist ein europäisches Vorurteil, dass es einen Grund braucht, um jemandem die Kehle durchzuschneiden. Wir sind für diese Leute der Feind. Dies genügt ihnen, uns zu töten.

«Dann fanden wir einen amerikanischen Ungläubigen. Ich schoss ihm in den Kopf, und sein Kopf explodierte. Wir gingen in ein anderes Büro und fanden einen Ungläubigen aus Südafrika, und unser Bruder Hussein schnitt ihm die Kehle durch. Wir baten Allah, diese fromme Tat von uns anzunehmen. […] Dann fanden wir einen schwedischen Ungläubigen. Bruder Nimr schnitt ihm den Kopf ab und stellte diesen am Tor aus, so dass alle ihn sehen konnten. […] Wir fragten die Menschen, die wir trafen, nach ihrem Glauben. Wir fanden philippinische Christen. Wir schnitten ihnen die Kehle durch und weihten sie unseren Brüdern, den Mudschaheddin in den Philippinen. […] Danach begaben wir uns in ein Hotel. Wir fanden ein Restaurant, wo wir frühstückten und uns eine Weile ausruhten. Dann stiegen wir in den nächsten Stock, trafen auf einige Hindu-Hunde und schnitten ihnen die Kehlen durch. Ich sagte den Brüdern, sie sollen sie auf der Treppe liegen lassen, damit die Taghut-Truppen (islamische Verräter) sie sehen würden, wenn sie eindrangen, und einen Schrecken kriegten. Aber es scheint, dass ich zu gut von diesen Feiglingen gedacht hatte, denn sie drangen nicht ins Hotel ein, nachdem wir es verlassen hatten.» (Aus einem Interview auf einer islamistischen Website mit einem Anführer der Al-Quds-Brigaden. Die Terroristen waren am 29. Mai 2004 im saudischen al-Khobar in ein für Ausländer bestimmtes Wohnviertel eingedrungen und hatten 22 Menschen umgebracht.

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