Die Weltwoche / Eugen Sorg

06.05.2004

Partisanen des Nichts

Islamische Selbstmordattentate verdanken sich einer aggressiven Opferseligkeit. Nicht der Politik des Westens.

Bevor islamistische Selbstmordattentäter losziehen, um irgendwo auf der Welt sich und eine möglichst grosse Anzahl Leute in die Luft zu sprengen, nehmen sie häufig ein Video von sich selbst auf. Den Bart frisch gestutzt, das Stirnband sorgfältig gebunden, die Kalaschnikow vor der Brust, begründen sie mit religiösen Formeln die Bluttat ­ ein angekündigter warholscher Auftritt, terroristisch verkürzt von 15 Minuten auf eine Zehntelsekunde. Abgesehen von der Aufmachung à la mode jihad, erinnert die Pose der eitlen Lebendbomben stark an diejenige der Actionfilm-Ikone Rambo. Und der eingeübte Gesichtsausdruck der Verwegenheit verrät, dass ebenso auf die bewundernden Blicke der jungen Frauen wie auf das Wohlwollen Gottes geschielt wird.

Diesseitige Leidenschaften machen sich auch in anderen Äusserungen bemerkbar. Abertausende wutentbrannter Palästinenser schrien: «Ihr habt das Tor zur Hölle aufgestossen», und reckten die Fäuste in Richtung Juden, nachdem ein israelisches Tötungskommando den greisen Chef der frommen Terrororganisation Hamas, Scheich Ahmed Jassin, eliminiert hatte. Nun steht allerdings die Höllenpforte in dieser Weltgegend bereits länger offen. Der erste Selbstmordanschlag der jüngeren Vergangenheit war schon 1972 auf dem israelischen Flughafen von Lod durchgeführt worden ­ von drei japanischen Marxisten. Sie massakrierten 26 und verletzten 74 zufällig anwesende Flugpassagiere. Einer der Japaner wurde dabei erschossen, einer tötete sich selbst mit einer Handgranate, und der Dritte, Kozo Okamoto, überlebte, konvertierte zum Islam, nannte sich Ahmed und wurde ein Volksheld in der arabischen Welt.

In den achtziger Jahren folgten die Suizidanschläge der islamistischen Hisbollah, sie provozierten Gegenschläge, diese wiederum unzählige neue Attentate. Während die israelischen Aktionen einer militärstrategischen Rationalität gehorchten, wirkten die Attacken der Gotteskrieger für Westler seltsam archaisch. Ohne militärischen Wert, ohne Chance auf Sieg, verdankten sie sich offensichtlich einzig einer aggressiven Opferseligkeit. Verluste in den eigenen Reihen, vor allem getötete Kinder und Frauen, beflügelten die Islamisten, sie schienen sie herbeizusehnen. Die jeweils nachfolgenden Racheschwüre, die ritualisierten Drohungen mit dem Massaker erregten sie, verschmolzen sie zur Blutsgemeinschaft, versetzten sie in den Taumel der Allmachtsgefühle ­ und führten ihnen neue Partisanen zu. Als habe die Aussicht auf die Hölle etwas Lustvolles.

Politik als hochtechnisierte Steinigung blieb nicht auf den israelisch-palästinensischen Raum begrenzt, wo immerhin reale ungelöste Konflikte um Lebensrechte existieren. Die Figur des Suizidbombers fand Nachahmer zuerst und vor allem unter Arabern im übrigen Nahen Osten, schliesslich im gesamten muslimischen Kulturbereich und zog eine Spur aus zerfetzten Leibern rund um die Erdkugel von New York bis Bali. Auffallend war eine zunehmende Verwesentlichung der Gewalt. Bemühten sich frühere Attentate noch darum, vermeintliche Symbole des selbstgewählten Feindes zu treffen (World Trade Center, Pentagon, Diskothek etc.), so kommen die jüngsten Blutorgien ohne diesen Vorwand aus. Bei den im Frühjahr ferngezündeten Bomben auf dem Madrider Bahnhof oder den von usbekischen Studentinnen am eigenen Körper gezündeten Sprengladungen auf dem Basar von Taschkent ging es nur noch um die optimale Todesstatistik.

Massenidol Bin Laden

Der Terrorexport löste bei vielen westlichen Intellektuellen die üblichen pawlowschen Politkitsch-Reflexe aus. Er sei die Antwort auf die ungerechte Globalisierung, die Rache der Armen, eine Quittung auf die Arroganz der Macht etc. Der Terrorismus «in seiner Absurdität und seinem Nicht-Sinn», fasste der französische Philosoph Jean Baudrillard nach den Anschlägen von al-Qaida am 11. September 2001 diese Meinungen zusammen, sei «das Urteil und die Strafe, die diese Gesellschaft über sich selbst verhängt». Dieser mit dem Gestus des raunenden Weltendeuters vorgetragene Schuldspruch war natürlich ein wenig heuchlerisch, ebenso wie die anderen kulturellen Selbstbezichtigungen. Man sprach von der «Überheblichkeit des Westens», aber man meinte dabei nicht sich selber, sondern die USA und deren Politik.

Ebenso reflexartig kamen die Warnungen vor einer Verteufelung des Islam. Entrüstet kommentierten viele die nach dem 11. September 2001 verschärfte Kontrolle arabischer Reisender an US-Zöllen oder arabischstämmiger Bewohner in den USA selber als rassistische Hysterie. Als hätten nicht alle Attentäter arabische Namen getragen. Als wäre eine «Islamophobie» die grösste Gefahr für die Menschen in den westlichen Gesellschaften und nicht die an öffentlichen Orten platzierten Bomben. Und als könnten diese Bomben nichts mit der Religion zu tun haben, in deren Namen sie seit Jahren explodierten.

Dies vertrat mit Vehemenz der letzten Herbst verstorbene Literaturwissenschaftler Edward Said in seinem Aufsatz «The Clash of Ignorance». Bei den Todespiloten um Mohammed Atta habe es sich um eine «winzige Gruppe geisteskranker Fanatiker» gehandelt, also um eine pathologische, singuläre Erscheinung. Sage man Atta, müsse man zum Beispiel auch Asahara Shoko sagen oder Jim Jones. Ersterer war Oberhaupt der Aum-Sekte, die einen Giftgasanschlag in Tokios U-Bahn verübt hatte; Letzterer hatte mit seinen Anhängern in Guyana Massenselbstmord begangen. Keine Kultur, wollte Said damit sagen, sei vor dem Rückfall in die Barbarei gefeit. Aber er vergass, zu schreiben, dass weder die Gasattacke im U-Bahn-Tunnel noch der Kollektivtod im Regenwald von irgendjemandem auf diesem Planeten bejubelt worden war. Und vielleicht hatte Said ja Recht darin, Atta und seine Gesellen als verrückt zu bezeichnen. Nur unterschlug er ein zweites, wichtiges Detail: Der Grossteil der rund anderthalb Milliarden Muslime sah dies ganz anders.

In den arabischen Ländern kursiert der Witz über eine Frau, die in Kairo eine Männertoilette aufsuchen will. Ein Wächter tritt ihr entgegen und sagt, sie habe sich in der Tür geirrt. Hier sei nur für Männer. Die Frau fragt zurück: «Ist Bin Laden drin?» ­ «Nein», antwortet der Wächter. «Dann», entgegnet darauf die Frau, «sind ja keine Männer drin, und ich kann die Toilette betreten.» Osama Bin Laden, Edeldschihadist und Terrorpate wurde zum Massenidol, zur Verkörperung islamischer Mannhaftigkeit. Unzählige neugeborene Bübchen wurden auf seinen Namen getauft, sein Porträt lächelte hintergründig von Protestplakaten, Turbanverpackungen, Kinderleibchen, Kartons mit Süssigkeiten. Eine Umfrage der Regierung Saudi-Arabiens gleich nach den Anschlägen ergab, dass 95 Prozent der Jugend Bin Ladens Bombenpolitik gut fanden. Und in mausarmen jemenitischen Bergdörfern versetzte allein die Erwähnung von Bin Ladens Namen die Dorfjugend in einen Zustand elektrisierter Aufgedrehtheit. Ein durchschnittlicher saudischer Jüngling fährt einen Amerikanerwagen, trägt Calvin-Klein-Unterhosen, lebt mit seiner Familie in einer Villa, wird vielleicht in Boston oder London studieren, während der jemenitische Ziegenjunge auch noch in zwanzig Jahren auf dem Boden seines Lehmhauses schlafen wird. Ein riesiger sozialer Unterschied trennt die beiden, aber beide verehren denselben Mann.

Dies ist umso bemerkenswerter, als Gruppen wie al-Qaida ausser gelegentlichen koranisch-historischen Martialschwadronaden auf dem Internet oder auf Bild- oder Tonkassetten nichts mitzuteilen haben. Keine Erklärung, kein Manifest, kein Programm, allerhöchstens die Karikatur eines politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Plans. Die einzige Botschaft ist die Tat selber: Einer rüstet sich um zur Bombe und versucht viele andere mit sich in den Abgrund zu reissen. Die interessante Frage ist wahrscheinlich nicht die, warum jemand so etwas tut. Es gibt keine noch so wahnwitzige oder idiotische Idee zwischen Himmel und Erde, die nicht immer ein paar Anhänger finden würde. Dies kann man überall miterleben. Es genügen ein Anführer, ein hoher Gruppendruck, ein geheimbündlerisches Klima, ein Feind ­ und der Mensch, den man gut zu kennen glaubte, verwandelt sich in einen Fremden. Interessanter ist vielmehr, dass die scharf gemachten Herostraten, die bärtigen Partisanen des Nichts in ihren Herkunftskulturen derart populär werden konnten. So populär, dass es offenbar keine Mühe mehr bereitet, nach jeder Detonation ein Dutzend todessehnsüchtiger Nachfolger zu rekrutieren.

Al-Qaida und ihre Wucherungen sind aus dem gesellschaftlichen Boden des Vorderen Orients heraus gewachsen. Sie sind nicht das Resultat einer wie auch immer verfehlten Politik des Westens. Selbstverständlich reagieren sie auf kulturelle, politische oder militärische Konfrontationen und versuchen diese für ihre Zwecke auszunützen. Aber sie folgen einer inneren Dynamik, welche sich am Chaos nährt und alles um sich herum zerstören will. Sie sind ein Eigenprodukt des Kernlandes des Islam. In ihnen spiegeln sich Scheitern, Zerrissenheit, trübe Geheimnisse einer einst mächtigen Kultur. Der Suizidbomber ist eine Chiffre für die arabisch-islamische Tragikomödie.

Wenn wirtschaftliche Länderstatistiken veröffentlicht werden, sieht es für die muslimischen Nationen regelmässig niederschmetternd aus. Das durchschnittliche Einkommen in den Ländern von Marokko bis Bangladesch beträgt laut Weltbank gerade die Hälfte des Weltdurchschnitts. Der Abstand zum Westen und auch zum Erzfeind Israel ist für die arabischen Ökonomien uneinholbar geworden. Ebenso wurde man längst von den kapitalistischen Novizen im Fernen Osten abgehängt und bewegt sich in der Produktivitätsliga der Armenhäusler Afrikas. Und Armut geht in der Regel mit Unwissenheit einher: Fünfzig Prozent der Araber können weder lesen noch schreiben. Im gesamten Raum mit seinen 180 Millionen Einwohnern werden weniger Bücher und Zeitschriften gedruckt als in Griechenland. Die Region stagniert nicht nur, sie entwickelt sich rückwärts, wie die Uno-Studie «Arab Human Development Report 2002» festhielt. Das einzige Wachstum verzeichnet die Einwohnerzahl. Vierzig Prozent der Menschen sind jünger als 14 Jahre. Da ihre Gesellschaft sie nicht ernähren kann, drängen sie in die Gesellschaften des reichen Westens.

Auf militärischem Terrain löste eine Demütigung die nächste ab. 1948 waren die Armeen von fünf arabischen Staaten nicht in der Lage, die Gründung Israels durch eine halbe Million Juden zu verhindern. Es folgten weitere Debakel gegen Israel wie 1967 im Sechstagekrieg. Die vorläufig letzte Schmach war die Zerlegung des irakischen Staates innerhalb von zwanzig Tagen durch die amerikanisch-britische Allianz und die Kapitulation des Diktators und «Führers der arabischen Völker» Saddam Hussein in einem Erdloch.

Ebenso fehlgeschlagen wie der Aufbau potenter Streitkräfte ist die Errichtung moderner Staatssysteme. In allen 57 muslimischen Ländern herrschen korrupte, brutale Regime. Halbe Ausnahmen sind die Türkei und Indonesien, wo zaghafte und gefährdete Versuche zur Demokratie im Gange sind. Es ist entlarvend und zugleich beunruhigend zu sehen, welches die bejubeltsten arabischen Regenten seit dem ägyptischen Volkstribun Nasser waren: in den siebziger Jahren der politisch irrlichternde Libyer Gaddafi und in jüngster Zeit Saddam Hussein.

Der politischen entspricht eine geistige Unfreiheit, welche jedoch nicht allein durch Zensurbehörden, Spitzeldienste, Folterkammern und Armee erzwungen wird. Das Denken, die Rechtsvorstellungen, der gesamte Alltag ist geimpft mit Religion. Tausende von Fatwas, von religiösen Erlassen organisieren wie eine göttliche Gefängnisordnung das Leben des Muslims, vom Händewaschen über die korrekte Steinigung der untreuen Ehefrau bis zum gerechten Krieg. Allah hat sich durch den Engel Gabriel dem Propheten Mohammed Satz für Satz offenbart. Was ein Mensch wissen kann und muss, steht im Koran und in den gesammelten Sprüchen des Propheten. Eine groteske Wortgläubigkeit mumifiziert den Geist auf der Stufe kriegerischer Wüstenstämme aus dem siebten Jahrhundert und droht jedem freien Denken als Gotteslästerung mit dem Totschlag.

Verflossene Glorie

Es erstaunt nicht, dass bis heute keine wissenschaftlich-kritische Edition des Korans, des wahrscheinlich einflussreichsten Textes der Gegenwart existiert. Sprachforscher wie der Deutsche Christoph Luxenberg haben darauf hingewiesen, dass etwa ein Viertel des Korans aus rätselhaften, dunklen, von den arabischen Kommentatoren auch nach tausend Jahren Exegese missdeuteten Partien besteht. Die Ursache sieht er darin, dass der koranische Grundstock aus in aramäischer Sprache verfasstem, christlichem Liturgiematerial gebildet wird. Bei der Arabisierung durch die späteren Koran-Redaktoren seien Inhalte fehlgedeutet und Sinnpassagen entstellt worden. So seien beispielsweise die «grossäugigen Huris», die 72 Paradiesjungfrauen, welche den Bombenmärtyrer im Jenseits erwarten würden, in Wirklichkeit «weisse, kristallklare Trauben». Der Name Christoph Luxenberg ist im Übrigen ein Pseudonym. Arabische Freunde, sagt der Wissenschaftler, hätten ihm zu dieser Vorsichtsmassnahme geraten.

Kurz nach dem 11. September wurde ein Videoband von Bin Laden ausgestrahlt, auf dem er die «Entwürdigung und Schande» beschwor, in welcher der Islam «seit über achtzig Jahren» leben müsse. Während die westlichen Experten in den Geschichtsbüchern zu blättern begannen, war dem muslimischen Publikum sofort klar, wovon er sprach. 1918 war Konstantinopel besetzt und das letzte der muslimischen Imperien, das osmanische Sultanat, von den Franzosen und Engländern geschlagen und aufgelöst worden. Wobei der Niedergang des islamischen Empires schon viel früher begonnen hatte, synchron zum Aufstieg der europäischen Moderne, und bis in die Gegenwart andauert.

Kann ein Kollektiv keine eigenen Kräfte mobilisieren, um sich aus einer erniedrigenden Situation zu befreien und zu erneuern, wird es zum schnellen Brüter für Ressentiments, Neid, Hass, Todesmythen. Man fühlt sich als Opfer, weist überempfindlich, schnell beleidigt und hochfahrend jede Mitverantwortung an der Situation von sich. Die Welt wird als feindliche Verschwörung und verräterischer Komplott wahrgenommen. Im Falle der Araber sind es Amerika und die Juden, die Schuld an der Misere haben. Vor allem der Palästinakonflikt dient als Beweis für den satanischen Charakter des westlichen Feindes und als Generalausrede für alle eigenen Versäumnisse und Versagen. Dass die Palästinenser von den eigenen Führern betrogen, von den anderen arabischen Politikern im Stich gelassen und missbraucht wurden, dass 1970 der jordanische König 40000 Palästinenser töten liess, hat keinerlei Einfluss auf die paranoide Konstruktion. Ebenso wenig wie der Umstand, dass die USA in Bosnien, im Kosovo, in Afghanistan muslimische Bevölkerungen geschützt haben. Hinter jedem negativen Ereignis, egal ob Autounfall, Lebensmittelvergiftung, Vergewaltigung, Bombenanschlag, wird die Hand der jüdisch-amerikanischen Geheimdienste vermutet. Es gehe um einen Kreuzzug der Ungläubigen gegen den Islam, so die deprimierend schlichte Deutungsschablone.

Die von Muslimfanatikern verübten «Blutbäder am Kairoer Museum oder in Luxor», schrieb der in Paris lebende tunesische Schriftsteller Abdelwahab Meddeb, «sind keine Taten, die vom geistigen Klima zu trennen wären, sie stellen die Umsetzung des gemeinschaftlichen Denkens in Taten dar». Tatsächlich verdanken die Suizidbomber ihre Popularität einem tieferen Bedürfnis. Sie verschaffen nicht nur Schadenfreude und befriedigen nicht nur Rachegelüste. Sie lassen auch Zeiten verflossener Glorie und Macht aufleben, als die muselmanischen Heere die halbe Welt beherrschten, als Eroberer und Helden wie Suleiman der Prächtige die Ungläubigen vor Angst und Schrecken erzittern liessen. Sie erzählen von Mut, Grösse, Todesverachtung, von lauter Dingen, die den Heutigen abhanden gekommen sind.

Der Westen kann den Krieg gegen den Terror nicht gewinnen. Er kann lediglich versuchen, sich vor ihm zu schützen. Mit intelligenter Geheimdienstarbeit, mit überschaubaren Militäraktionen, mit realistischen Einwanderungsgesetzen. Der Terror kann nur von den arabischen Ländern selbst besiegt werden.

Nach oben scrollen