Die Weltwoche / Eugen Sorg

07.04.2004

Stadt ohne Gesetz

Vor vierzehn Jahren löste sich in Somalia der Staat auf. In der Hauptstadt Mogadischu herrschen Warlords und Geschäftsmänner mit Privatmilizen.

«Zwei Dinge», erklärt Hassan ruhig, «sind in meinem Beruf wichtig. Erstens darf man keine Angst haben, wenn ein Gewehr auf einen gerichtet ist. Und zweitens muss man in einem solchen Fall sofort selber schiessen. Nicht warten, nicht in die Augen des anderen schauen, nur in dessen Gewehrmündung. Und abdrücken.»

Hassan lebt in Somalias Hauptstadt Mogadischu und ist, wie es Übersetzer Jama formuliert, freelance gunman, freischaffender Bewaffneter. Das heisst, er steht nicht wie Abertausende anderer junger Männer im Dienste der angestammten Clanmiliz, sondern bestreitet seinen Unterhalt auf eigene Rechnung. Zusammen mit zwei Freunden überfällt er Marktstände und Läden. Menschen entführen sie nicht, wie das in letzter Zeit in Mode gekommen ist, und sie sind auch keine roadblock manager, wie sich diejenigen nennen, die Strassensperren errichten und mit gezücktem Gewehr Geld einsammeln. «Eine sehr riskante Sache», meint er, zudem man dafür mehr Leute sein müsste. Seit einiger Zeit arbeitet er noch als Wache für eine Khat-Händlerin auf dem zentralen Bakaramarkt. Das Rauschkraut Khat ist die begehrte Volksdroge, und entsprechend gefährdet für Raubattacken sind die Verkaufsstände. «Ein leichter Job», meint Hassan, der jeden potenziellen Banditen schon von weitem ausmacht, «und ungefährlich.»

Wir lernten Hassan kennen, als er eines Morgens die zehnköpfige, schwer bewaffnete Eskorte begleitete, mit der wir uns in Mogadischu bewegten und ohne welche keiner der seit einem Jahrzehnt ganz selten gewordenen Westler einen Schritt aus dem Hotel macht. Er fiel uns auf durch sein offenes Gesicht, durch Rapper-Gesten, die er offenbar auf Musikvideos gesehen hatte, und durch sein rotes Stirnband. «Dieses», erläutert er nun und zieht es als Maske über sein Gesicht, «brauche ich für die Überfälle.» Um uns in Ruhe zu unterhalten, waren wir zum internationalen Flughafen gefahren. Die riesige Anlage zwischen den Dünen am Indischen Ozean steht seit Jahren leer. Keine der verfeindeten Bürgerkriegsmilizen hatte den Flughafen erobern können, aber jede war stark genug, die anderen daran zu hindern. Hassan war mit den jungen Bewaffneten bekannt, die sofort aus den zerschossenen, fensterlosen Gebäuden auftauchten, als sie unsere Wagen anrollen hörten. Nach einer kurzen Begrüssung liessen wir uns hinter eine Mauer nieder, um vom Wind, der vom Meer her wehte, geschützt zu sein.

Ende 1990 war Hassan nach Mogadischu aufgebrochen. Er war damals 13, Sohn von Wanderhirten, die seit Urzeiten mit ihren Kamelen und Schafen durch die steinige, hitzeglühende Einöde Zentralsomalias zogen. Er kam ohne seine engste Familie, aber dafür waren viele andere unterwegs, Bauern und Nomaden wie er aus dem Clan der Habir Gedir, Zehntausende, viele mit demselben Ziel: Mogadischu. In Somalia herrschte Bürgerkrieg, Diktator Siad Barre stand vor dem Fall und mit ihm die Günstlinge und Profiteure des Regimes. Die Hauptstadt war reich, eine gigantische Umverteilung zeichnete sich ab, wer zu spät kam, ging leer aus. Innert kürzester Zeit sollte der somalische Staat implodieren und im Nichts verschwinden, als hätte es ihn nie gegeben. Und mit ihm begraben wurden wenig darauf die Illusionen des Westens, der für einen historischen Augenblick geträumt hatte, die Welt könnte endlich eine friedliche werden.

Grimmige, ungestüme Republikaner

Die somalische Bevölkerung gliedert sich in sechs grosse Clanfamilien, diese in rund hundert Clans und diese wiederum in Tausende von Sippen und Familien. Jeder der geschätzt sieben Millionen Somalier weiss, von welcher verwandtschaftlichen Linie er abstammt und wie mächtig sein Clan, das heisst, wie gross die Zahl seiner Männer ist oder, wie die Somalier sagen, die Penis-Anzahl («qoratiris»). Die Clans gehen wechselnde Allianzen ein und wachen misstrauisch und notfalls mit Krieg darüber, dass keiner zu viel Macht erlangt. Der Entdecker Richard Burton, der im 19. Jahrhundert das Horn von Afrika bereiste, nannte die Somalier eine «grimmige und ungestüme Rasse von Republikanern». Burtons Urteil war bestimmt beeinflusst von der Tatsache, dass sein Kopf von einem Speer durchbohrt worden war. Aber bereits die frühesten schriftlichen Quellen aus dem 16. Jahrhundert berichteten vom zweifelhaften Ruhm der Somalier, Karawanen aus dem Hinterhalt zu überfallen. Die Somalier selber preisen in der traditionellen Dichtung ihre kriegerischen Tugenden ­ eine kulturelle Einstellung, die sich nicht zuletzt der Härte der nomadischen Lebensweise verdankt. In Zeiten anhaltender Dürre reicht die Nahrung nicht für alle. Die Sippe, welche ein Wasserloch erreicht, das bereits von einer anderen Sippe besetzt ist, wird mitsamt ihrer Herde verenden, falls es ihr nicht gelingt, sich mit Gewalt Zugang zu verschaffen. »›

Offiziell war unter Diktator Barre, der einer ärmlichen Nomadensippe aus der Clanfamilie der Darod entstammte und sich 1969 an die Macht geputscht hatte, das archaische Clansystem überwunden worden. Wenn gebildete Somalier sich in Mogadischu oder Berbera über Herkunftsfragen unterhielten, setzten sie jeweils ein «ex» vor das in Ungnade gefallene Wort: «…dessen Ex-Clan, in meinem Ex-Clan…» Staatsideologie war der «wissenschaftliche Sozialismus» in der Weiterentwicklung des Putschgenerals, ein Theoriezombie aus Marx, Mao, Mussolini und Prophet Mohammed, für die Zukunft festgehalten im «weiss-blauen Büchlein». In der Praxis galt jedoch, dass der innere Machtzirkel zunehmend mit Personen aus Barres naher Verwandtschaft besetzt wurde. Als er Ende der siebziger Jahre mit der befreundeten Sowjetunion brach und sich mit dem Westen verbündete, wechselte er auch das ideologische Vokabular. Das Prinzip seiner Autokratie tastete er jedoch nicht an.

Barre gehorchte einem politischen Naturgesetz: Je mehr potenzielle Rivalen er tötete, desto grösser wurde die Zahl der Gegner, worauf er noch mehr einsperren, foltern und umbringen musste, was wiederum das Feindeslager bedrohlich anwachsen liess. Immer unübersichtlicher wurde die Meute derjenigen, die ihm auflauerten, die nur auf eine Chance warteten, auf eine kleine Unaufmerksamkeit oder Schwäche, um ihn zu vernichten. Wem konnte er schlussendlich noch trauen ausser dem eigenen Blut, ausser Sohn oder Schwiegersohn?

«Hassan, warum hast du deine Familie verlassen und bist nach Mogadischu gekommen?» ­ «Hast du auch eine Hauptstadt?», fragt er zurück, «und willst du sie nicht auch sehen?» ­ «Ja.» ­ «Siehst du, genau wie ich.» ­ «Hast du Kontakt zu deinen Eltern?» ­ «Manchmal rufen sie mich an, und ich sage ihnen, dass es mir gut geht. Ich habe ihnen auch Geld geschickt. Aber sie haben es nicht akzeptiert.» ­ «Denkst du manchmal daran, dass Stehlen etwas Schlechtes ist?» ­ «Wir wissen, dass es schlecht ist», sagt er, ohne zu zögern, «aber es gibt kein Gesetz in diesen Zeiten. Jedes Tabu wird aufgegessen.»

Im Dezember 1990 setzte eine Rebellenallianz zum Sturm auf Mogadischu an. Militärischer Kopf der Angreifer war Mohammed Farah Aidid, einst sechs Jahre lang eingekerkert von Siad Barre, dann von diesem wieder freigelassen und zum Oberst befördert. Politischer Kopf war Ali Mahdi, der sich alsbald zum neuen Präsidenten ausrufen liess. Beide gehörten zur Clanfamilie der Hawije, Aidid («Der keine Beleidigung toleriert») jedoch zur Clanlinie der Habir Gedir, Ali Mahdi zu derjenigen der Abgal. Noch bevor der Diktator Barre Ende Januar 1991 in einem Panzer aus der Stadt floh, wütete bereits ein zweiter Bürgerkrieg ­ zwischen Aidid und Ali Mahdi.

Aidid, «Löwe von Somalia», dessen Habir-Gedir-Sippschaften traditionell in den verbrannten Ebenen Zentralsomalias siedelten, hatte die Clanältesten in sein Haus geladen und in ein Zimmer geführt, in dessen Mitte ein Tisch stand, üppig beladen mit Früchten, Gemüsen, köstlichen Fleischplatten, würzigen Saucen, Saftkaraffen. Als sich die Gäste bedienen wollten, trat Aidid dazwischen und führte sie in einen zweiten Raum. Dort war ebenfalls aufgetischt worden: Kamelmilch, Reis, ein wenig ungesalzenes, gekochtes Fleisch, das übliche, eintönige Menü der Wanderhirten. «Was soll dies bedeuten», fragten die Männer, «warum dürfen wir nicht von der ersten Tafel essen?» ­ «Ihr wollt also die guten Dinge essen?», antwortete Aidid. «Das könnt ihr, sogar jeden Tag. Somalias Reichtum wartet auf euch. Aber ihr müsst dafür kämpfen, sonst werdet ihr ewig Kamelmilch trinken und auf Steine beissen.»

Politisches Urgesetz

Wie in einem Taumel fielen die Krieger in die Stadt ein. Alle Ausländer waren aus der Stadt evakuiert worden; alle mit dem Barre-Regime auf irgendeine Weise Verbundenen geflüchtet; ebenso wie die meisten, die nicht Habir Gedir oder Abgal waren und sich die Flucht leisten konnten. Um die verlassenen Gebäude und Quartiere kämpften die Eroberer. Sie schleppten Möbel, Betten, Truhen, Schränke, Türen aus den Villen, verkauften sie auf dem Markt und legten eine Matratze auf den Boden und nagelten ein Stück Blech in die Türöffnung. Sie schlugen alles in Stücke, was irgendwie mit dem Staat zu tun hatte: Schulhäuser, Kasernen, Spitäler, Telefonzentrale, Parlament, Kino, Botschaften. Sie rissen die Stromkabel aus den Wänden und von den Masten und verkauften das geschmolzene Kupfer ins Ausland. Sie wuchteten die Fenster aus dem Polytechnikum und trugen das Aluminium auf den Markt. Sie zerlegten Fabriken bis auf die Grundmauern und verscherbelten die Teile an Händler. Wie Termiten machten sie sich über alles her. Quer durch die Stadt zog sich ein Todesstreifen: die Front, die legendäre «grüne Linie». Südlich davon marodierten und vergewaltigten Aidids Gunmen, im Norden diejenigen von Ali Mahdi, dazwischen kurvten jugendliche Banditen auf improvisierten Kampfwagen mit aufgeschweissten Geschützen durch die sandigen Gassen und schossen auf alles, was sich ihnen entgegenstellte. Das krude politische Urgesetz herrschte: Ich habe eine Waffe, also bin ich.

«Bist du verheiratet, Hassan?» ­ «Nein. Eine Familie kostet Geld. Aber wenn wir eine Regierung hätten, würde ich in die Armee eintreten, heiraten und Kinder machen.» ­ «Wird es eine Regierung geben?» ­ «Nein. Warlords und reiche Unternehmer machen gute Geschäfte. Schauen die etwa so aus, als wollten sie eine Regierung?» ­ «Hast du eine Freundin?» ­ «Ich habe dafür keine Zeit. Aber einmalige Gelegenheiten lasse ich nicht aus.» ­ «Mit dem Gewehr holst du dir Geld und Khat. Auch Mädchen?» ­ «Ich kenne Leute, die das tun. Aber unsere Politik ist eine andere. Wenn sich ein Mädchen beispielsweise weigert, zwinge ich sie nicht mit körperlicher Gewalt, sondern ich überzeuge sie.» ­ «Wie machst du das?» ­ «Ich sage ihr, dass ich ein Gewehr habe. Dies genügt vollauf.»

Es hatte seit einigen Jahren kaum mehr Niederschläge gegeben. Auch 1992 fiel der Regen aus. Das IKRK warnte vor einer Hungerkatastrophe, der bereits 300000 Menschen zum Opfer gefallen seien, vor allem Kinder. Bilder von lebenden Skeletten mit Fliegen auf den aufgerissenen Augen gingen um die Welt. Die humanitäre Hilfsmaschinerie fing an zu laufen. Aber die Helfer mussten den somalischen Kriegsherren viel Geld geben, damit sie deren Bevölkerung vor dem Hungertod retten durften. Jede Herculesmaschine musste für die Landung bezahlen, in Dollar, jeder einzelne Sack Bohnen kostete Gebühren, ebenso der Transport wie auch der Schutz des Transports, der häufig in Geländewagen durchgeführt wurde, die man den Hilfswerklern zuvor gestohlen hatte. Hunderte von Tonnen Nahrungsmittel oder Benzin verschwanden, weitere hundert Tonnen lagerten im Hafen von Mogadischu und konnten nicht ausgeliefert werden, weil verfeindete Clans den Abtransport verhinderten. Die Helferindustrie mästete den Bürgerkrieg.

Die Vereinten Nationen entschieden sich angesichts der desaströsen Entwicklung der Dinge zu einem neuen Vorgehen. Im Dezember 1992 starteten sie die Operation «Restore Hope», die erste humanitäre Kriegsmission in der Geschichte der Organisation. Die Somalier sollten gleichsam zwangsgefüttert werden. Ihre Rettung sollte das Militär durchsetzen, während gleichzeitig die Bürgerkriegsmilizen entwaffnet würden. Anfänglich liess sich die unter amerikanischer Führung stehende Aktion gut an. In den Stadtruinen wurden die Kämpfe eingestellt, die Preise auf dem lokalen Markt für Maschinengewehre sanken, und die Lebensmittel gelangten zu den Bedürftigen. Die Ruhe hielt nicht lange.

Lieblingssänger Tupac

Hassan erzählt, dass er gerne amerikanische Musik hört, vor allem den Sänger Tupac. Ich frage ihn nach anderen Hip-Hoppern, aber er weiss nicht, was Hip-Hop oder Rap bedeutet. Als ich ihm sage, dass Tupac erschossen worden sei, scheint er wirklich betroffen zu sein. «Tot? Ist das wahr? Mein Lieblingssänger? Davon habe ich nichts gewusst. Das tut mir Leid.» Warum er erschossen wurde, interessiert ihn nicht, vielleicht gehört für ihn eine Gewehrkugel zu den natürlichen Todesursachen. Ob er gerne Filme anschaue? Ja, das sei seine liebste Beschäftigung, vor allem amerikanische Actionfilme gefielen ihm, antwortet er und macht dazu eine Schiessbewegung. «Hast du ‹Black Hawk Down› gesehen?», frage ich. «Ein guter Film», sagt er, «deswegen will ich zur Armee gehen.» ­ «Was denkst du von den Amerikanern?» ­ «Ich habe welche gesehen, sie waren in Mogadischu. Aber ich weiss nichts über sie und auch nicht, warum sie hier gewesen sind.» ­ «Kennst du Bill Clinton?» ­ «Ich habe den Namen gehört. Wer ist er?»

25000 Dollar Kopfgeld

Als Uno-Soldaten im Juni 1993 ein Waffendepot inspizieren wollten, wurden sie von Aidids Milizen in einen Hinterhalt gelockt. 25 pakistanische Soldaten wurden getötet, gehäutet und verstümmelt. Dies konnte sich die Weltorganisation nicht gefallen lassen. Der Uno-Sonderbotschafter für Somalia, Admiral Jonathan Howe, schrieb ein Kopfgeld von 25000 Dollar für Aidid aus. Dieser, gekränkt über die schäbige Summe, reagierte mit einem Kopfgeld von einer Million für «Animal» Howe. Die Verfolgungsjagd auf Aidid begann, und die Uno schlitterte heillos in die somalische Misere.

Aidids Kämpfer wussten, dass amerikanische und Uno-Soldaten nicht auf Zivilisten und Frauen und Kinder schiessen konnten. Also mischten sie sich unter die Menschenmenge, schoben Frauen und Kinder vor sich her, wenn sie die feigen Westler angriffen. Diese waren bald gezwungen, ihre Hemmungen zu überwinden. Mit jedem getöteten Kind oder Zivilisten wuchs wiederum die Wut auf die Retter, die zunehmend als feindlicher Clan empfunden wurden, und die Popularität Aidids nahm zu. Den heimtückischen Kriegsfürsten zu fangen, wurde zur Obsession der Amerikaner. Wäre er endlich aus dem Verkehr gezogen, so die fixe Idee, dann wären die Voraussetzungen für einen Frieden gegeben.

«Weisst du, wozu ich all dies in mein Notizheft schreibe, Hassan?» ­ «Ist mir egal. Ich kann nicht lesen.» Kurze Pause. «Was hast du damit vor? Sag es mir.» ­ «Es kommt in die Zeitung.» ­ «Warum?» ­ «Die Leute in Europa interessiert es, wie man in Mogadischu lebt. Sie denken, es sei einer der schlimmsten Orte in dieser Welt.» ­ «Völlig falsch. Mogadischu ist der beste Ort. Besser als Europa. Dort lebt man in einem Kolonialsystem. Hier kannst du tun, was immer du willst. Du hast Essen, Khat, Zigaretten. Du bist frei.» Hassan, der vom Khatkauen einen ausgetrockneten Mund hat, nimmt den letzten Schluck aus der Wasserflasche. «Bist du jetzt fertig? Ich muss zur Arbeit.»

Der 3. Oktober 1993 geriet zu einem Alptraum für die westliche Führungsmacht. Beim Versuch, hochrangige Aidid-Offiziere festzunehmen, wurden zwei Black-Hawk-Hubschrauber abgeschossen. Die Aktion fand im Herzen Mogadischus statt, in der Nähe des zentralen Bakaramarktes. Aus der ganzen Stadt strömten Menschen zusammen, um die eingekesselten Soldaten zu jagen. Die Kämpfe dauerten die ganze Nacht. Am nächsten Tag zeigten Fernsehstationen auf der ganzen Welt Videobilder von toten, geschändeten US-Rangers, die an Stricken vom somalischen Mob durch die Strassen geschleift wurden.

Ab da konzentrierte sich die Uno auf den möglichst reibungslosen Abzug ihrer Leute. Im Frühjahr 1995 verliess der letzte Blauhelm das garstige und undankbare Land am Horn, und mit der Uno zogen auch die Hilfswerke ab. Noch immer gab es in Mogadischu eine Million Kalaschnikows, beherrschten die notorischen Warlords das Land. Das mindestens vier Milliarden teure Engagement der Uno war spurlos vorübergegangen. Es war gescheitert. Den um Macht streitenden Clanfraktionen fehlten fortan aber die Mittel aus dem internationalen Spendenfundus. Die Zersplitterung der Clans und Subclans setzte sich fort. Aidid war im August 1996 von den Milizen seines Cousins und Stellvertreters Osman Ato erschossen worden. Dieser hatte sich gegen ihn erhoben. Auf der 13. Versöhnungskonferenz in Dschibuti wurde vor vier Jahren ein Übergangspräsident eingesetzt. Seine Macht reicht nicht viel weiter als bis zur Türe seines Gebäudes. In Nairobi tagt, finanziert mit EU-Geldern, seit eineinhalb Jahren die 14. Versöhnungskonferenz. Heute, 14 Jahre nach dem Kollaps, ist Somalia, ist die Millionenstadt Mogadischu immer noch ohne Staat, ohne Armee, ohne Polizei, ohne Justiz, ohne Schulwesen. Aber die kontinuierliche Fragmentierung hat zu einem Gleichgewicht der Erschöpfung geführt. Keine Gruppe ist mehr stark genug, die andere anzugreifen. Es herrscht eine Art labiler Friede, ein somalischer Friede.

An einem der Morgen sind wir mit Bashir Rage verabredet, einem reichen Geschäftsmann im Norden Mogadischus. Ein paar seiner Milizen, hatte er uns am Telefon gesagt, würden uns an einer bestimmten Strasse, an der Grenze zu seinem Stadtviertel, empfangen. Bashir ist vom Clan der Abgal wie alle anderen Anwohner jener Gegend. Die Stadt ist aufgeteilt unter sieben oder acht Clan- und Subclanführern, von denen jeder mehrere Gebietsflecken beherrscht, welche ihrerseits aus Wohnsiedlungen und Gevierten bestehen, die von kleineren Chefs kontrolliert werden. Den Nomadenkriegern waren deren Familien gefolgt; in die Stadt diesmal anstatt wie bisher zu den Weideplätzen und Wasserstellen. Wer keinen Platz mehr fand in den geplünderten Villen, Häusern, Schulen, Spitälern, bastelte aus Zweigen und Häuten und Plastikplanen eine der traditionellen Rundhütten, die mittlerweile das ganze Stadtbild durchziehen. Neben der Verbäuerlichung setzte eine Versteppung ein. Auf offenen Plätzen, entlang versandender Strassen, in den Ruinenlandschaften der einst märchenhaft pittoresken, italienisch geprägten Hafenstadt, der «Perle unter den Städten», wuchern Buschdickicht und undurchdringliche Kakteenfelder. Bedeckt mit unzähligen schmutzigen, vom Wind hergewirbelten Plastiksäcken, sehen sie aus wie höhnische Punkskulpturen.

Jama, der Übersetzer, weiss genau, wo sich die angepeilte Strasse befindet. Er weiss auch, wo sie aufhört, welche anderen Strassen in sie einmünden und wo diese wiederum hinführen. Er hat in seinem Hirn einen präzisen Plan der ganzen Stadt gespeichert mit allen Quartieren, unsichtbaren Grenzen und politisch-militärischen Machtverhältnissen, und jede Veränderung im komplexen Sozialgefüge wird sofort eingetragen. Dies ist keine Marotte Jamas, sondern eine Frage des Überlebens.

«Schau» zeigt Jama auf eine durchs Wagenfenster friedlich wirkende kleine Allee, «diese Strasse ist gefährlich, siehst du, es hat kaum Leute.» Und drei Blocks weiter: «Diese ist gut, hier kannst sogar du spazieren.» Unsere Pick-ups biegen in eine Hauptstrasse mit löchrigem Belag ein. «Vor kurzem war es hier brandgefährlich. Clankämpfe, Kreuzfeuer. Nun ist es gut. Die Lager haben sich versöhnt. Die ersten Geschäfte sind schon wieder offen.» Wir überqueren eine belebte Kreuzung in der Nähe des Bakaramarktes. «Hast du den Checkpoint gesehen? Nein? Diesen Leuten begegnest du lieber nicht, wenn du nicht zu ihrem Clan gehörst. Es würde sehr teuer werden. Uns haben sie passieren lassen, weil wir mehr Gewehre haben.» Irgendwo im Hintergrund taucht ein Quartier auf. «Dieses wurde vor kurzem von einem Abgal-Kommandanten, genannt Bebe, erobert. Es sind nur wenige Häuser, er hat sie einem Verwandten abgenommen. Und noch etwas weiter hinten beginnt ein ganz übles Viertel, sehr stark bevölkert mit vielen üblen freelance gunmen.»

Kein Hass, keine Verbitterung

Jama kommentiert sachlich und munter, ohne Urteil oder Feindseligkeit, ohne jeglichen Unterton der Empörung oder Distanzierung. Als ob er ein Dschungelführer wäre, der auf giftige Früchte, Schlangennester, Heilpflanzen und Sumpflöcher hinweist. Man passt auf, duckt sich, weicht aus, nimmt, was brauchbar ist. Und so wie niemand den Dschungel anklagt, dass er ein Dschungel ist, so hat es keinen Sinn, sich über den Zustand der Welt den Kopf zu zerbrechen. »›

Am vereinbarten Ort warten Bashirs Männer mit einem Technical, einem Pick-up mit aufgeschraubtem Maschinengewehr. Sie sind Abgal, unsere Männer sind Habir Gedir, ihre Clans haben sich vor nicht langer Zeit noch mörderische Gefechte geliefert. Die Milizen springen von den Wagen, laufen aufeinander zu und beginnen fröhlich miteinander zu schwatzen, wie Cousins, die sich lange nicht mehr gesehen haben. Kein Hass, keine Verbitterung, keine schiefen Blicke.

Im geräumigen Büro von Bashir Rage stehen Fotokopierer, Computer, Faxgerät, alles, was zu einem anständigen Betrieb gehört. «Ich bin ein erfolgreicher Mann», sagt der massige, 42-jährige Entrepreneur, dessen ultramodernes Handy wie zur Bestätigung alle paar Minuten lärmt und blinkt wie eine Diskothek. Zwar wirkt er heute Morgen etwas angeschlagen. Seine Zunge ist schwer vom Alkohol, und seine Augen sind glasig vom Khat. Aber seine Selbsteinschätzung ist korrekt, und jeder in Moga- dischu würde dem zustimmen. Die Hochglanzbroschüre seiner Camel Company, die er mir über den Tisch schiebt, listet eine eindrückliche Zahl von Aktivitäten in verschiedensten Bereichen auf. Da ist einer aus der Mittellosigkeit zum Direktor eines kleinen Imperiums aufgestiegen. Die Broschüre hat nur einen kleinen, verräterischen Schönheitsfehler. Als Gründungsjahr der Firma gibt sie 1983 an.

Die First Lady rannte um ihr Leben

Bashir besitzt beispielsweise den Flugplatz Esalay im Norden der Stadt. Er besitzt den Hafen El Adde und Anteile des Hafens El Ma¹an, ebenfalls im Norden, wo die meisten Güter für Mogadischu an Land gebracht werden. Die dreissig Kilometer lange Verbindungsstrasse zwischen diesen Plätzen und Mogadischu wird von seinen Milizen kontrolliert, und an dieser liegt auch seine Fabrik, in der Steine zu Schotter verarbeitet werden, die man daselbst aus dem Wüstenboden schlägt und die von seiner Baufirma für Strassen- und Bauarbeiten verwendet werden. Alle diese Terrains und Maschinen und Lastwagen und Caterpillars gehörten bis 1991 Privaten oder dem somalischen Staat, jetzt sind sie Bashirs persönlicher Besitz. Er war schneller als seine Rivalen und hat sie mit seinen Milizen erobert. Bashir ist ein moderner Raubritter, die Camel Company ist seine Bürgerkriegsbeute.

Nicht aufgeführt in der Broschüre sind die Kanonenboote, mit denen Bashirs Leute vor der Küste Fischer erpressen. Nicht aufgeführt ist das stattliche, gut bewachte Anwesen, in dem wir unser angeregtes Gespräch führen: Bashirs Firmen- und Wohnsitz. Dort lebte Siad Barres Frau, Somalias First Lady, bevor sie in der Schlacht um Mogadischu vor Bashir und seinen Clankriegern um ihr Leben rannte; ebenso wie ihre Verwandten aus den Villen in der Nachbarschaft, in denen nun Bashirs Brüder wohnen. Nicht aufgeführt ist auch das weitläufige, grösstenteils zerstörte Areal, wo früher eine Polizeigarnison war und heute Bashirs Milizen herumlungern, seine Technicals parkiert sind und wo er zudem eine Radiostation betreibt. Übersetzer Jama war ein wenig aufgeregt, als wir dort vorbeikamen. Er war auf diesem Gelände aufgewachsen, sein Vater war Polizeioffizier unter Siad Barre gewesen.

«Wie ist die Situation in Mogadischu heute, Herr Rage?» Er richtet sich staatsmännisch auf. «Es gibt keine grossen Probleme mehr.» Dann, nachdenklich. «Die Leute sind des Kämpfens überdrüssig.» ­ «Wie steht es mit der Sicherheit?» ­ «Bei uns im Norden ist es gut.» Er schaut mich beruhigend an. «Aber Sicherheit kostet.» Er macht einen Seufzer. «Ohne Milizen kann man kein Geschäft betreiben. Ich muss 1500 bewaffnete Männer bezahlen, um meine diversen Firmenzweige zu schützen.» ­ «Wünschen Sie sich eine Regierung zurück?» Kurzes Zögern. «Jedermann will eine Regierung.» Es tönt ein wenig flapsig. «Sie auch? Sie würden viel verlieren: Einkünfte aus Häfen, Landepiste, Strassengebühren, Diversa. Heimkehrer würden Eigentum zurückfordern.» Nach kurzem Nachdenken huscht ein Schlaumeierlächeln über sein Gesicht. «Eine Regierung darf nicht von aussen, sie muss von innen kommen. Vom Volk. Wir sind das Volk. Eine gute Regierung ist unsere Regierung. Wenn die Regierung gut ist, gebe ich ihr meinen Hafen.»

Er sinkt in den Sessel zurück. Er ist zufrieden mit seiner Rede, sie hat ihn aber auch Kraft gekostet. Ich stelle ihm noch eine Frage. «Wer ist schuld an der Zerstörung Mogadischus und des Landes?» Er kommt nochmals hoch. Sein Ausdruck wird verschwörerisch, seine Stimme leiser. «Die Ursprünge liegen bei den Italienern und Arabern.» ­ «Und die somalischen Warlords und machtgierigen Clanchefs?» Er schüttelt vielsagend den Kopf. «Araber und Italiener, mit ihnen hat alles angefangen.» Ich bitte ihn um eine Erläuterung, und er hebt an zu einem längeren Vortrag, den er aber bald und abrupt abbricht. Ich bin erleichtert. Er auch. Seine Zunge ist sehr schwer, sein Englisch eigenwillig, seine Gedankenführung offenbar nicht nur mir nicht nachvollziehbar. «Du musst morgen vorbeikommen», schliesst er, «ein Professor wird hier sein. Der kann dir alles genau erklären.»

Die Beweisführung

Der Professor ist ein kleiner, runder Mann, und er hat einen grossen, dünnen, stark schielenden Kollegen mitgebracht, den er als Philosophen vorstellt. Die zwei älteren Herren praktizieren Arbeitsteilung. Der Professor sitzt würdig schweigend auf einem Stuhl, der Philosoph ist für die Vorlesung zuständig. Diese gerät schnell zu einem schrillen, aberwitzigen Plädoyer gegen die «arabischen Einwandererclans». Vor 140 Jahren von den Italienern ins Land geholt, doziert der Philosoph mit hoher, zunehmend hysterischer Stimme, hätten die Araber die eingeborenen Somalier angegriffen, viele von ihnen getötet, genauer gesagt «1928363 Männer, Frauen und Kinder und Milliarden Stück Vieh», «das grösste Massaker der Weltgeschichte», und dann als kleine Minderheit Land und Macht übernommen. Araber schon seit über 1000 Jahren hier? Des Philosophen Stimme überschlägt sich. «Ha! Sie lügen alle.» Die Darod behaupteten, sie seien Somalier. Aber sie seien Araber.

Siad Barre? 1865 sei seine Familie aus Jemen gekommen. Damals habe er noch Abdelasis geheissen. Sie hätten die Namen gefälscht, sie hätten die Geschichte gefälscht, und sie hätten die Posten mit anderen Einwanderern besetzt.

Zur Beweisführung streckt mir der Philosoph immer wieder irgendein vergilbtes italienisches Buch oder eine zerfledderte Ausgabe von National Geographic unter die Nase und liest mir daraus bestimmte Stellen aufgewühlt vor. Da er auch noch stark stottert, dauert dies jeweils ziemlich lange, währenddessen sich seine Erregung auflädt. «…la popopopo…», kämpft er mit verzerrtem Gesicht gegen Araber und Sprechhemmung, «…popopolazione di Somalia…», brechen die Worte schliesslich heraus, um eine Zeile weiter gegen die nächste Wand zu prallen.

Der Mann kommt mir übergeschnappt vor, und seine Thesen sind brüllender Unsinn. Was soll diese Veranstaltung? Bashir Rage, glasiger Blick wie am Vortag, zwinkert mir überlegen zu. Jetzt verstehe ich. Es geht um die nachträgliche Rechtfertigung der neuen Besitzverhältnisse. Um die Legitimierung der Sieger. Die Vertreibung der Darod war kein archaischer Raubzug, keine Plünderorgie brandschatzender, enthemmter Horden, sondern eine nationale Befreiungsaktion. Räuber waren die anderen, Siad Barre und sein Clan falscher Somalier. Deren Eigentum war Diebstahl, und die richtigen Somalier haben sich nur zurückgeholt, was ihnen bereits gehörte. Was ihm, Bashir Rage, Direktor der Camel Company, gehörte.

Dies war die Kernaussage des Vortrages. Er würde niemals mehr hergeben, was er erobert hat. Nicht den Verjagten, die draussen in der Welt, in Rom, in New York, in Nairobi, an der nationalen Versöhnungskonferenz ihre Ansprüche einklagen. Und keiner künftigen Regierung. Zum Abschluss überreicht man mir ein Papier: «Die Geschichte der einheimischen Bevölkerung von Somalia». «Ein brisantes Dokument, du bist der Erste, der es sieht», versichert mir Bashir feierlich und versucht dabei, nicht zu schwanken. Es ist die Zusammenfassung der Vorlesung des Philosophen. Geschrieben in Strassenverkäufer-Englisch, gestempelt und unterzeichnet mit: Bashir Rage, Chef Politisches Departement, Dr. Elias A/S. Mohamed, Leiter Auswärtige Angelegenheiten (Philosoph), Prof. Abdullahi Siad, Vorsitzender des Somalischen Volksrats. Bashir trägt mir auf, je eine Kopie weiterzuleiten an folgende Empfänger, die er auf zwei Briefumschläge geschrieben hat: «Schweizer Regierung» und «Israelische Botschaft in der Schweiz». Philosoph und Professor stehen nebeneinander in magistraler Pose. Ich drehe mich zu Übersetzer Jama hin, aber seine Miene bleibt gelassen. Was sich abspielt, scheint für ihn nichts Ungewöhnliches zu sein.

General Aidids Sohn

Vor dem Abflug nach Mogadischu hatte ich mich im Hotel «Stanley» in Nairobi mit Hussein Aidid getroffen, dem Sohn des gefallenen Warlords Aidid. Er war als Jugendlicher mit seiner Mutter nach Kalifornien ausgewandert, hatte dortBauingenieur studiert, wurde amerikanischer Staatsbürger und heuerte bei den Marines an. Im Dezember 1992 kehrte er nach Mogadischu zurück ­ als Korporal und Übersetzer der US-Truppen im Rahmen der Operation «Restore Hope». Nach drei Wochen wurde er wieder abgezogen. Die Vorgesetzten hatten realisiert, dass sein Vater einer der Verantwortlichen für die gesellschaftliche Katastrophe war, derentwegen sie in Somalia einmarschiert waren. Drei Jahre später kehrte er ein zweites Mal zurück. Diesmal wurde er Sicherheitschef des Vaters und nach dessen Tod Interimspräsident von Somalia. Dieser hatte sich eigenmächtig dazu ausgerufen, obwohl er nur noch einige Quartiere in Südmogadischu kontrollierte.

Aidid junior war elegant gekleidet, hatte etwas Dandyhaftes, Verweichlichtes und sah jünger aus als seine 42 Jahre. Es war schwierig, sich ihn als Sohn dieses skrupellosen, tollkühnen Kriegers vorzustellen, der die Weltmacht genarrt und verhöhnt und sich noch als Sechzigjähriger auf seinen Technicals in Strassenkämpfe gestürzt hatte. Er behauptete, in Mogadischu zu leben, wo wir aber hören sollten, dass er vor vier Jahren das letzte Mal in der Stadt aufgetaucht sei. Er lebe abwechslungsweise in Nairobi und Addis Abeba. Ich fragte ihn, wie er die Rolle seines Vaters im Rückblick beurteile, und er fing an, ihn in den höchsten Tönen zu lo- ben. Er sei der Befreier Mogadischus gewesen, der Gründer Somalias, ein panafrikanischer Führer, ein Volksheld. Dass die Amerikaner ihn eliminieren wollten, sei ein Fehler gewesen. «Wenn sie meinen Vater getötet hätten», meinte er etwas pathetisch, «hätten sie einen Traum getötet. Darum hat das ganze Volk für ihn gekämpft.»

Vielleicht war es das erste Mal seit langem, dass der junge Aidid um ein Interview gebeten worden war, oder vielleicht beflügelte ihn die Erinnerung an den Vater. Auf jeden Fall begann er abzuheben. Er redete, als wäre er tatsächlich der Präsident von Somalia, und die Nation würde geschlossen hinter ihm stehen. «Jeder Mann hat eine Aufgabe. Mein Vater brachte die Freiheit. Ich werde Somalia vereinigen.» Er sagte Sätze wie: «Ich repräsentiere den Kampf, aber auch die Brücke vom Chaos in die Zukunft», oder: «Wir sind die Dotcom-Generation.» Er fantasierte von der regionalen Wirtschaftsmacht Somalia, «zweitgrösstes Exportvolumen hinter Iran», schwärmte von den «jungen Millionären» Mogadischus, fabulierte von «200000 Neubauten», und es tönte, als würde er von Manhattan während der Ära der New Economy erzählen. Beim Abschied lud er uns ein, seinen Präsidentenpalast zu besuchen. «Mein Kommandant wird Sie begrüssen und in der Stadt herumführen.»

Drei Tage später werden wir an der Grenze zu Aidids Territorium gestoppt. Unsere Eskorte darf nicht weiterfahren, und wir steigen um in einen Wagen unseres Gastgebers. Aidids befreites Mogadischu und künftig vereinigtes Somalia besteht aus einem Rumpfquartier im Stadtzentrum, vielleicht drei Kilometer lang und 800 Meter breit. Es war einmal das Prunkstück der Hauptstadt gewesen, mit Alleen, prächtigen Villen, Palästen, Theater, Landesbibliothek. Jetzt ist es vollständig zerstört. Zwei oder drei Fensterhöhlen im zerschossenen Gerippe des Nationalmuseums sind mit Lumpen und Dornbüschen verstopft, offenbar hat dort jemand einen intakten Raum gefunden. Weiter vorne verschwindet ein barfüssiges Mädchen hinter einer mit Stukkatur versehenen Mauerruine. Aber sonst scheint kein menschliches Wesen hier überlebt zu haben. Es ist wie eine Fahrt durch eine vor langer Zeit versunkene Zivilisation, deren Restbrocken man fasziniert zu deuten versucht.

Nur der Präsidentenpalast, die «Villa Somalia», auf einer Anhöhe über dem Trümmerreich gelegen, wurde wieder aufgebaut. Als wir in den Vorplatz einbiegen, überrascht uns eine Menschenmenge. Sie bricht in Begeisterung aus, als sie unsere Wagen erblickt. Männer und Frauen in Ethnogewändern fangen an zu singen und zu tanzen, sie klatschen, blasen in Trillerpfeifen und schwenken Banderolen, Landesfähnchen und gemalte Porträts der beiden Aidids. Zu Ehren unserer Ankunft hat man offenbar eine Jubeltruppe bestellt, man spielt Staatsempfang, inszeniert ein Regierungsstück, das im Inneren des Theaterpalastes fortgesetzt wird.

An einem riesigen Konferenztisch erwarten mich zirka vierzig Leute, alle dreinblickend wie Minister, alle mit einem Schreibblock und einem Kugelschreiber vor sich. Der Chef der Runde, ein soignierter Herr mit Silberschläfen, der sich als Scheich Abukar Osman, «Stellvertreter des Vorsitzenden General Aidid», vorstellt, hält ein langes, kunstvoll gedrechseltes Begrüssungsreferat. Er beschwört sämtliche Grundlagen der Demokratie, preist den ökonomischen Liberalismus und die Menschenrechte, «ein besonderes Anliegen des jungen Generals Aidid», leitet über zu den humanitären und sozialen Defiziten seines Landes, hofft auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und verleiht diesem Wunsch diskreten Nachdruck mit dem Hinweis auf den Terrorismus, der ja, «wie wir alle wissen, auf dem Nährboden der wirtschaftlichen Unterentwicklung» gedeihe. Er spult routiniert das Glaubensbekenntnis der westlichen Hilfs- und Geldgemeinde ab, und die vierzig Ministerdarsteller schreiben mit, als hörten sie alles zum ersten Mal.

Ein Mann kehrt zurück

Ich frage, welche Möglichkeiten Flüchtlinge haben, die nach Mogadischu zurückkehren und ihr Haus zerstört oder besetzt vorfinden. Der Stellvertreter meint, ihre Partei vertrete in dieser Sache ein strenges rechtsstaatliches Prinzip: Jeder Somalier habe ein Recht auf Eigentum. Sie würden dem Rückkehrer helfen, sein Eigentum oder eine Entschädigung zu bekommen. Ich könne mir nur schwer vorstellen, sage ich, dass jemand freiwillig Grundstücke oder Häuser zurückerstatte, die er erobert habe. Der Stellvertreter wird plötzlich eisig. «Einige jammern», erwidert er schneidend, «man hätte ihnen Häuser oder Land gestohlen. Schickt sie zu uns. Wir klären den Fall genau ab. Wenn einer Recht hat, bekommt er sein Eigentum.» Er blitzt triumphierend in die Runde. «Aber die meisten Forderungen sind unberechtigt. Es ist nur Propaganda von Siad Barres ehemaligen Ministern.»

Auf der Rückfahrt erzählt Jama von einem Mann, einem Darod, der letztes Jahr von London nach Mogadischu gekommen sei, um zu sehen, was nach seiner Vertreibung mit seinem Haus geschehen sei. «Er nahm ein Zimmer im selben Hotel wie du», fährt Jama fort, «sein Haus liegt schräg gegenüber.» Er habe die Nacht abgewartet und sei dann über die Strasse gegangen, um aus der Nähe einen Blick auf sein Gebäude werfen zu können, in dem nun eine andere Familie lebte. «Eine Stunde später klopften zwei Bewaffnete an die Hoteltüre. Er solle dem Darod ausrichten, sagten sie den Wächtern, sie würden ihn töten, wenn er nochmals aufkreuze. Der Mann aus London war von einem ehemaligen Nachbarn beobachtet worden, und der hatte es den neuen Bewohnern gemeldet. Sie waren vom selben Clan.» Nie würde ein Darod sein Eigentum wieder bekommen, schliesst Jama, jeder hier wisse dies. Und der Aidid-Stellvertreter wisse es selber am besten.

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