Basler Zeitung

30.10.2015

Eine Frage der Moral

Blinde Liebe

Von Eugen Sorg

Keine andere Liebe ist so stark wie die Liebe einer Mutter für ihr Kind. Die Mutterliebe ist selbstlos, irrational, lebenslang. Eine Mutter würde alles tun, um ihr Kind zu schützen. Stünde sie vor der Wahl, mit ihrem Leben dasjenige ihres Kindes retten zu können, würde sie ohne Zögern ihr eigenes hingeben. Der Verlust des Kindes wäre fürchter­licher als der eigene Tod. Die Mutterliebe ist der Atem der menschlichen Zivilisation, ohne den wir wie seelenlose Reptilien nebeneinanderher leben würden. Die Mutterliebe ist so unbedingt und blind, dass sie sich mitunter sogar gegen alle Gesetze der Moral stellt, obwohl diese ohne jene nicht existieren würden. Ein Beispiel für eine solch paradoxe Liebe ist die Bündnerin Annaberta Camenisch, Mutter des verurteilten Mörders und Ökoterroristen Marco Camenisch.

Dieser sprengte an Heiligabend 1979 in antikapitalistischem Furor Strommasten und Transformatoren von bündnerischen Kraftwerken in die Luft, wurde wenig später gefasst und zu zehn ­Jahren Gefängnis verurteilt. 1981 bricht er mit fünf anderen Häftlingen – Mörder, Berufskriminelle, Drogenpusher – aus dem Gefängnis aus. Sie erschiessen einen Wächter und verletzen einen anderen schwer. Camenisch verfasst auf der Flucht ein Manifest, das die linke Zeitschrift Tell abdruckt. Darin verklärt er den Ausbruch als ­anarchistischen Befreiungsschlag «gegen Politik, Macht, Staat, Knast, Unterdrückung» und bezeichnet den getöteten Aufseher als «Söldner», der seinen Tod «vollständig» selber zu verantworten habe. Nicht die Ausbrecher sind die Mörder, schreibt Camenisch in verblendeter Umkehrung der Realität: «Der Staat aber ist der Mörder.»

Die nächsten zehn Jahre verbringt er im Untergrund, Gejagter und Jäger zugleich, verübt mit Gesinnungsgenossen Anschläge und Raubüberfälle. Im Dezember 1989 kehrt er klandestin in die Schweiz zurück, nach Brusio im Puschlav. Sein Vater, ein pensionierter Grenzwächter, ist gestorben, der Sohn will das Grab besuchen. Dann ­passiert, was schon längst hätte passieren können. Er wird in der Morgendämmerung von einem jungen Grenzwächter angehalten, einem ehemaligen Untergebenen seines Vaters, und Camenisch, der nie ohne ungesicherte Waffe unterwegs ist, zieht, ohne zu zögern, seinen Revolver und exekutiert den überraschten Grenzer, selber Vater eines zweijährigen Sohnes, kaltblütig mit drei präzisen Schüssen in Kopf und Unterleib. Danach begibt er sich zum Pfarrer von Brusio, einem Freund der Familie Camenisch, der ihm Unterschlupf gewährt und Camenischs Mutter Annaberta herbeiruft.

Die beiden hatten sich in all den Jahren ­heimlich getroffen, in Italien oder der Schweiz, und die bescheiden lebende Mutter hatte dem von Interpol und FBI Gesuchten Geld zugesteckt. Nie hätte sie ihren Sohn verraten. Als die betagte Frau am Tag darauf von der Polizei befragt wird, ob sie Marco gesehen habe, leugnet sie hartnäckig. Erst einige Tage später, bei einem erneuten Verhör, gibt sie das Treffen zu. Aber zu diesem Zeitpunkt ist der Sohn dank Hilfe des ­Pfarrers längst über alle Berge.

Zwei Jahre darauf wird Camenisch in Italien gefasst. Wieder hatte er sofort die Pistole gezogen, aber nur den Arm des Polizisten getroffen, worauf die Waffe klemmte. In seiner Tasche findet man eine zweite Waffe, zwei Kilogramm Sprengstoff, Handgranaten. Ein italienisches Gericht verurteilt ihn zu zwölf Jahren Zuchthaus, 2002 wird er an die Schweiz ausgeliefert und im Mai 2018 soll er freigelassen werden. Er ist dann 66 Jahre alt, ein reueloser Pensionär des Terrorgewerbes, eingemauert in ein fugenloses ideologisches Wahnsystem. Seine treueste Gefährtin war Mutter Annaberta, die vor zehn Jahre starb. Wie eine Co-Alkoholikerin identifizierte sie sich mit ihrem geliebten Sohn, schützte seine Lebenslügen, ahnend, dass er die Wahrheit nicht ertragen würde. «Marco und ich haben nie über das Tötungsdelikt in Brusio gesprochen. Es hat sich nie ergeben. Aber wenn Marco plötzlich sagen würde, ‹ich habe alles falsch gemacht›, würde er zerbrechen.» Aber was ist mit der Witwe und dem Sohn des ermordeten Grenzwächters? Darüber hörte man nichts von Annaberta. Zu viel Mutterliebe macht egoistisch und amoralisch.

Nach oben scrollen