Das Magazin

31.08.1996

Conradin Perner, Ethnologe

Buschnachrichten

Unberührt fast vom Rest der Welt lebt im Südsudan ein Volk in überkommener Lebensweise. Die Anuak. Vor 20 Jahren machte sich der Davoser Conradin Perner auf, ihre Sprache und ihre Traditionen zu studieren und festzuhalten. Entstanden ist ein Lebenswerk.

Text EUGEN SORG Foto DANIEL GERBER

Das erste Jahr, 1976, war das härteste. Conradin Perner, gebürtiger Davoser, promovierter Literaturwissenschafter und passionierter Kletterer, hauste in einer Hütte in Otalo, einem gottverlassenen Nest im Zentrum Afrikas, dort, wo Äthiopien mit einer unerwarteten Volte in den Bauch des Südsudan vorstösst. Die giftigen Skorpione waren nicht das Schlimmste, auch nicht der Hunger oder die von Durchfall und mörderischen Kopfschmerzen begleiteten Fieberanfälle. Perner war 34 Jahre jung und zäh. Am meisten zu schaffen machte ihm die Einsamkeit.

War er nicht hergereist, um die hiesigen Traditionen zu studieren? Die Uni Zürich und der Schweizerische Nationalfonds hatten eine zweijährige Forschungsarbeit zum Thema orale Literatur der Anuak bewilligt. Eine hochtrabende und naive Idee, wie es ihm jetzt vorkam. Otalo, sein neues Domizil, war der Sitz von Agada, König des Volkes der Anuak. Die Ansässigen empfand er als arrogant und abweisend. Ihre Sprache war ihm fremd. An Flucht war bald nach seiner Ankunft nicht mehr zu denken: Der Jahreszyklus von Dürre und Sintflut verwandelt die Savannen des Südsudan neun Monate lang in Sümpfe und Wasserwüsten, ein Paradies für Krodkodile und Stechmücken, das sichere Verderben für menschliche Zweibeiner.

Einen Hauch von Trost gewährte das Radio mit der «Sendung für Seeleute», die vom Ozeandampfer «Davos» in den Äther geschickt wurde. Die Frage «Was zum Teufel mache ich hier?» sägte an seinem in alpinen Steilwänden bewährten Willen.

Dabei wäre für Conradin Perner eine geordnete Existenz vorgesehen gewesen. Sein Urgrossvater war Malermeister zu Davos Platz, ebenso wie sein Grossvater und sein Vater. Bei letzterem allerdings machte sich ein Hang zu philosophischer und romantischer Dichterei bemerkbar. Auf Kosten des Geschäftssinnes. Und dem Sprössling Conradin, seit der Jugend mit einer schwer definierbaren Sehnsucht infiziert, war nichts fremder als der Familienbetrieb.

Zuerst trieb es ihn in die Weltvergessenheit der Bündner Berggipfel, dann in die dünne Luft der hohen Literatur. Nach Studienjahren in Frankreich und Schweden schrieb er eine Doktorarbeit über Mallarmé und Ekelöf, poetische Grenzgänger und sublime Meister ihres Fachs. Als ihn ein französischer Professor auf einen Fachartikel hin anfragte, ob er an einem Lehrauftrag an der Uni Kansangani in Zaire interessiert wäre, packte er sogleich die Koffer.

Zwei Jahre später, 1972, war der junge Dozent für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in Asien tätig. Nach weiteren zwei Jahren brachte ihn der Zufall, oder was immer es war, nach Khartum, der Hauptstadt des Sudan. Jene Stadt, wo der Blaue und der Weisse Nil sich vereinen, tat es ihm an. Morgens las er an der Uni französische Literatur, am Nachmittag parlierte er in den Kaffeehäusern mit Freunden – Handwerkern, Poeten, Tagedieben -, und abends sass man in seinem Dorf Burri Lamab vor dem Haus des frommen Baumeisters Sheik El Hady, einem Gegner des elektrischen Lichts, schaute ins Tintenblau des Wüstenhimmels, liess die Wasserpfeife blubbern, schlürfte heissen Tee und erzählte sich Geschichten, die wie «frohe weisse Segel durch die Nacht glitten».

Eines Tages machte er die Bekanntschaft eines Südsudanesen, eines Anuak. Der erzählte ihm von seinem Volk mit etwa 40 000 Zugehörigen, das als «wild» verrufen sei und dessen ursprüngliche Lebensweise aufgrund des abgelegenen Siedlungsgebiets erhalten geblieben sei. Da brach sie wieder auf, diese innere Unruhe, diese Rastlosigkeit und magnetische Neugierde, deren Herkunft Perner verborgen, deren Wirkung ihm jedoch wohlbekannt war.

Er stöberte in den Archiven Khartums nach Aufzeichnungen. Viel war nicht zu finden. Die Regierung schickte alle paar Jahre einen Steuereintreiber in das Anuak-Land, um das Gesicht zu wahren. Der Posten war höchst unbeliebt. Strapaziöser und nicht ungefährlicher Fussmarsch, Rückkehr mit leeren Taschen. Die Missionare, die angetreten waren, die Seelen der Heiden mit dem Lichtlein Jesu zu erleuchten, waren von den Krankheiten dahingerafft worden, die Gott diesem Winkel der Erde so verschwenderisch zugedacht hatte; oder sie waren entnervt abgezogen, um sich empfänglicheren Kreaturen zuzuwenden; oder aber sie fielen vom rechten Glauben ab und wurden selber zu seltsamen Halbwilden.

Die Anuak-Wörterbücher, die letztere verfasst haben sollen, galten jedoch allesamt als verschollen. Nur zwei veraltete Studien aus der Ethnologenzunft lagen vor. Neuland war sozusagen in Sicht. Das gefiel Perner.

Sein Vorhaben sprach sich in der Wüstenstadt schnell herum. Die arabischen Behörden folgerten messerscharf, er sei ein Spion, und legten ein Dossier über ihn an. Angehörige anderer Stämme schmeichelten: «Was willst du bei den Anuak? Das sind wilde Tiere. Komm lieber zu uns, wir sind interessanter.» Einige tippten auf Geisteskrankheit, andere hielten entgegen: Nein, er ist normal. Aber aus seinem Haus wurde er fortgejagt.

Im Dorf Otalo, dem neuen Domizil, wurde seine Anwesenheit geduldet. Er hatte Tee, Zucker, Salz und Seife für zwei Jahre mitgenommen, nach zwei Monaten war der Vorrat aufgebraucht. Sein Koch hatte ihn unter die Dörfler verteilt. Anuak bedeutet «Menschen, die einander helfen». Nach einigen Monaten nahmen ihn die Männer mit auf die Jagd. Ein Anlass, zu beweisen, dass er zu etwas taugte, und eine Möglichkeit, den nagenden Hunger zu besänftigen.

Mühsamer noch als das Überleben gestaltete sich das Erlernen der Sprache. Heillose Missverständnisse reihten sich aneinander. Fragte der Feldforscher beispielsweise nach dem Wort für Trommel, entspannen sich lange Debatten. Schliesslich kam die Antwort: Wasserbock. Der Weisse ist zwar ein Vollidiot, war erwogen worden, aber sogar er wird wissen, dass dies eine Trommel ist. Er hat wohl nach der Herkunft des Felles gefragt. Eine gute Auskunftsquelle wären die Kinder gewesen. Die hatten Freude an dem Verrückten, doch sie sprachen zu schnell.

Trotz aller Hindernisse wuchs er allmählich in die neue Sprache hinein, fing an, in ihr zu denken, zu träumen und zu schweigen. Hilfreich war die Beziehung zu König Agada. Er wusste viel über sein Volk, sprach Arabisch, Perner kannte ebenfalls einige Brocken, und so kamen sich die beiden Männer im Laufe der Jahre näher.

Des Königs Würde verbot es ihm allerdings, zweimal dieselbe Frage zu beantworten. Und er hatte ein gutes Gedächtnis. «Das hast du mich schon vor drei Jahren gefragt», konnte er ein Gespräch abrupt beenden. Später, als sie längst gute Freunde geworden waren, beschlich Perner manchmal ein ungutes Gefühl beim Gedanken, der über 60jährige Agada könnte erkranken und sterben. Denn die Anuak-Tradition sieht vor, dass neben einem Onkel mütterlicherseits und der jüngsten Ehefrau auch der beste Freund mit der sterblichen Hülle des Königs begraben wird. Einmal erzählte Perner dem König von Evans-Pritchards bekannter Studie über die Südsudanesen. Der Ethnologe hatte sich in den 30er Jahren zwei Monate in der Region der Anuak aufgehalten. Agada wollte wissen, mit wem der Weisse gesprochen habe. Perner nannte zwei Namen. Agada schüttelte den Kopf: «Den ersten kannst du vergessen, der hat nichts gewusst. Der zweite jedoch ist gut, der wusste mehr als ich.»

Ein anderes Mal unterhielten sie sich über die unbefleckte Empfängnis. «Ein Lieblingsthema der Missionare», sagte Agada, «und ein wohlbekanntes und häufiges Ereignis bei den Anuak.» Perner lernte hinzu: Die Frauen hier stillten ihre Babys zwei Jahre lang. In dieser Zeit sollten sie keinen Geschlechtsverkehr haben. Trotzdem wurden sie manchmal schwanger. Die Anuak liebten das Leben, doch sie achteten auch die Gesetze. Daher hiess es von diesen Kindern: Sie sind von Gott gezeugt.

Die Anuak sprachen mit den Vögeln und den Tieren. Bevor sie zur ersten Fischjagd des Jahres aufbrachen, begab sich der Dorfvorsteher frühmorgens zum Fluss und redete den ortsfremden Krokodilen zu, sie möchten die Gegend verlassen. Die hiesigen könnten bleiben, sie wüssten, dass man ihnen nichts zuleide tue. Für die Anuak war die Welt perfekt eingerichtet, zwischen Erde, Tier und Mensch herrschte Harmonie, wenn alle an ihrem angestammten Platze blieben und Gott und die Geister nicht Durcheinander und Unfrieden stifteten. Perner war beeindruckt vom Respekt, den man der Natur entgegenbrachte.

Nie vergass er, was der Zweck seines Aufenthalts war. An Geschichten war kein Mangel. Poeten ersetzten die Zeitungen. Sie priesen die Grausamkeit und Strenge des eigenen Königs, spotteten über den Geiz von Nachbarkönigen und verlachten die Dummheiten und Schwächen anderer Dörfer und Stämme. Die Zuhörer machten Änderungsvorschläge, brachten neue Fakten ein, und der Dichter baute sie in seine Lieder ein.

Acok-Witze wurden gerne erzählt. Acok war Königsberater, eine gerissen-tolpatschige, lüsterne Kunstfigur, eine Art Slapstick-Held. So beklagte sich der König eines Tages, dass seine Frauen alle unfruchtbar wären. Acok sagte, er kenne ein Mittel. Die Frauen sollten sich am folgenden Morgen zu einem bestimmten Ort ausserhalb des Dorfes begeben. Dort werde eine Wurzel aus dem Boden ragen, auf welche sich eine nach der anderen setzen solle. Die Frauen taten wie verlangt, und als alle durch waren, beschlossen sie, die Wurzel abzuschneiden und der einen Frau zu bringen, die nicht hatte mitkommen können. Als sie das Messer ansetzten, schoss Acok aus der Erde hervor und machte sich aus dem Staube.

In der jährlichen Hungerzeit, am Ende der grossen Regen, waren die Leute matt. Niemand hatte Lust, dem Narren vom anderen Ende der Welt Auskünfte zu erteilen. «Bring uns Essen, dann gibt’s Geschichten!» Perner versuchte es mit Tricks. «Wie ihr wollt. Dann werde ich in meiner Heimat erzählen, dass die Anuak morgens auf die Bäume steigen und hinunterscheissen.» Er erntete Gelächter.

Aus den geplanten zwei Jahren wurden vier, jährliche Besuche folgten. Immer wieder weilte er in der Nähe – ab 1988 mit dem IKRK, nach 1993 mit der Uno -, wenn er nicht Gastvorlesungen hielt oder in Davos hinter der Schreibmaschine sass.

Die Sehnsucht hatte Gestalt und Richtung bekommen. Wie den anderen Männern des Stammes war auch ihm ein Ehrennamen gegeben worden, der Name eines Rinds: Kwacakworo. Er war vertraut geworden mit den Vorstellungen von Gott, Natur, Krankheit und Tod, den Gesetzen von Macht und Sexualität. Seine Seele füllte sich mit Bildern von Landschaft und Himmel, von humorvollen Menschen bei der Arbeit in den Feldern, bei Fest und Krieg.

Je deutlicher sein Bewusstsein die neue Wirklichkeit widerspiegelte, desto schattenhafter wurde seine alte Identität. Wer war er gewesen? Was ist wahr, was gewiss? Nirgends Antworten, nur offene Horizonte, lachende Hyänen. Perner oder was von ihm übrig war, hörte irgendwann auf, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, und schrieb auf, was Kwacakworo sah. Er schrieb und schrieb. 15 Jahre seines Lebens und 3500 Seiten brauchte er für die Monogra- phie über Kwacakworos Volk. Nebenbei entstanden ein vierbändiges Wörterbuch und eine Grammatik. In der Schublade liegen 2000 Blätter mit Liebesliedern, Mythen, Spottversen, Gleichnissen – das kulturelle Gedächtnis der Anuak. Und im Kopf von Kwacakworo wartet noch eine ganze Reihe von Geschichten darauf, dem geduldigen Sekretär Perner diktiert zu werden.

Dessen Vorfahren hatten im Zentrum von Davos einst ein Haus gebaut. Im obersten Stock, einer Mischung aus Häuptlingshütte und ethnologischem Studierkabinett, logiert und empfängt der Feldforscher bei Anwesenheit. Mit der Regungslosigkeit einer Holzstatue sitzt der 53jährige da und berichtet. Nur die Augen verraten den vifen Geist. Sie spazieren munter im Raum herum, fixieren das Gegenüber mit dem lauernden Blick eines Raubvogels und fangen zu blitzen an, wenn die Nachrichten aus dem Busch Erstaunen auf das Gesicht des Europäers gezaubert haben.

Perners Hauptwerk hat einen Verleger gefunden. Die kompletten acht bis neun Bände, in einer 500er-Auflage gedruckt mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds, werden spätestens im Jahre 2000 in den Regalen ethnologischer Institute stehen. Traditionen und Sprachen verschwinden etwa im selben Tempo vom Globus wie Tier- und Pflanzenarten. Völkerkundliche Bibliotheken sind die modernen Gebeinhäuser untergegangener Kulturen.

Wird es die Anuak in 50 Jahren noch geben? Kwacakworo antwortet mit einem Stammesmythos. Gott und die Menschen hätten leidlich miteinander gelebt. Da habe Gott plötzlich von ihnen verlangt, dass sie ihm den Arsch lecken. Die Anuak hätten abgelehnt, sie seien anständige Menschen. Darauf sei Gott beleidigt gegen Norden abgezogen. Die Araber und die Weissen zeigten weniger Scham und seien dafür mit Reichtum belohnt worden. Solange sich Gott nicht bessert, meinen die Anuak, soll er bleiben, wo er ist. ·

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