Die Weltwoche / Eugen Sorg

26.11.2015

Eritrea

Liebe seines Lebens

Von Eugen Sorg und Helmut Wachter (Bild) _ Jeden Monat brechen Tausende junger Eritreer in Richtung Europa auf. Das Land ist geprägt von melancholischen Erinnerungen und einem alten Autokraten.

Ein Spaziergang durch Asmara, die Hauptstadt Eritreas, ist wie ein Traum. Alles ist fremd und doch irgendwie seltsam vertraut. Die Leute bewegen sich schlafwandlerisch langsam, niemand schaut einen an oder scheint einen zu bemerken, und das Licht in der auf 2400 Meter Höhe gelegenen Kapitale ist von einer blendenden alpinen Schärfe. Man nimmt Häuser wahr, die man in dieser Weltgegend nie erwarten würde; Häuser im Stil des italienischen Razionalismo, des Neofuturismus, Art-Déco-Gebäude und Bauhaus-Konstruktionen. Kolonisator Mussolini hatte in den dreissiger Jahren das römische Imperium auferstehen lassen wollen mit Asmara als piccola Roma, als kleinem Rom, und er hatte den Architekten freie Hand gelassen. Dank dem megalomanen Italiener und seinen formenverliebten Baukünstlern steht heute auf einem abgelegenen ostafrikanischen Hochplateau eines der grössten architektonischen Ensembles der klassischen Moderne. Die bröckelnden Fassaden und die verblichenen Farben verstärken den Eindruck der Unwirklichkeit, das Gefühl, in eine andere Zeit, in einen alten Film versetzt worden zu sein.

Der Deserteur und die Folgen

Was ist Kulisse, was ist Realität, was ist Täuschung, was ist Fakt? Diese Fragen sollte ich mir in den nächsten Tagen immer wieder stellen. Ich war mit vielen Meinungen und Bildern nach Eritrea geflogen, die sich bei meiner Reise durch das Land allesamt als unzutreffend erwiesen. Ist Eritrea das Nordkorea Afrikas, wie es viele westliche Journalisten und Politiker behaupten? Ist es beherrscht von einem «totalitären Regime», dessen «Ausmass und Umfang nahezu beispiellos» seien, wie es jüngst in einem Bericht der Uno hiess? Sind staatliche Anmassung und Willkür derart unsäglich, dass den Menschen, die nicht zu den wenigen Nutzniessern des Regimes gehören, nur die Flucht übrigbleibt? In diesem Zusammenhang wird immer wieder der für alle obligatorische Nationaldienst erwähnt, eine Art Staatssklaverei, die lebenslang dauern könne und deren Verweigerung mit dem Tode oder mit langer Haft bestraft werde. Bei jedem Gespräch mit Ansässigen, mit Männern, Frauen, Gebildeten oder einfachen Leuten, mit Jungen und Alten, löste sich eine der vorurteilshaften Vorstellungen in nichts auf, öffnete sich ein neuer Aspekt der Wirklichkeit, entstand aber auch eine neue Frage.

Auf das kleine Land am Horn von Afrika ist man in den letzten Jahren aufmerksam geworden, weil von dort ein grosser Teil der Flüchtlinge oder Migranten stammt, die nach Europa kommen. Pro Monat verlassen 2000 bis 5000 meist junge Eritreer ihre Heimat, die genauen Zahlen sind unklar. Die Schweiz ist neben Schweden für sie das Haupteinwanderungsland. Der Grund dafür ist ein Urteil der Asylrekurskommission aus dem Jahre 2005. Ein Eritreer war aus der Armee davongelaufen, lebte danach drei Jahre im benachbarten Sudan, um anschliessend in die Schweiz zu reisen und ein Asylgesuch zu stellen. Er könne nicht mehr in die Heimat zurück, begründete er seinen Antrag, da er als Deserteur und zudem gläubiger Pfingstgemeinde-Anhänger mit dem Tode bedroht werde. Das Gesuch wurde abgelehnt, er legte Rekurs ein und fand schliesslich bei der höchsten Instanz entgegenkommende Richter. Der Grundsatzentscheid der Asylrechtskommission, Desertion als Asylgrund anzuerkennen, sprach sich wahrscheinlich schon am nächsten Tag in Asmara herum, und die Folge war, dass sich immer mehr junge Eritreer in Richtung Schweiz aufmachten. Und alle erzählten sie die gleiche Geschichte von Dienstverweigerung, Verfolgung und Terror, und mancher brachte zur Sicherheit auch eine Bibel zu den Befragungen mit, um sich als frommer Evangelikaler auszuweisen. Lebten 2005 etwa tausend Eritreer in der Schweiz, sind es heute rund 30 000.

Adi Kwala ist ein staubiger Marktflecken südlich der Hauptstadt Asmara. Er liegt an der Strasse, die zur nahegelegenen äthiopischen Grenze führt. Viele der Migranten kommen hier durch. Auf der anderen Seite der Grenze befinden sich Flüchtlingscamps. Sie werden betrieben von äthiopischem Regierungspersonal, aber bezahlt vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, dem UNHCR. Diese Camps seien das erste Etappenziel der auswanderungswilligen Eritreer auf dem Weg nach Europa, hatte mir ein Mitarbeiter einer neutralen internationalen Hilfsorganisation in Asmara erzählt. Dort erhielten sie einen Flüchtlingspass, der ihnen erlaube, frei weiterzureisen. Die nächste Station sei der Sudan, dann Libyen, dann Italien. Eine teure, von professionellen Menschenschmugglern organisierte Reise. Vielleicht ein Viertel der eritreischen Flüchtlinge seien überdies in Wirk- lichkeit Äthiopier aus der Provinz Tigray. Sie sprechen dieselbe Sprache und sehen gleich aus wie ihre ethnischen Verwandten aus der Kebesa, dem Hochland Eritreas. Je mehr Flüchtlinge registriert würden, fuhr der Mitarbeiter fort, desto mehr Geld fliesse in die Camps. Niemand wisse jedoch, wie viele Leute die Grenzen überqueren. Es sei ein Chaos. Sicher sei lediglich, hatte er noch gemeint, dass die Politik des Uno-Flüchtlingshilfswerks mithelfe, eine riesige Schlepperindustrie am Laufen zu halten.

«Eine helle Haut allein genügt nicht»

«Ich kenne viele, die abgehauen sind, auch in die Schweiz», erzählt Efrem, mit dem ich in Adi Kwala ins Gespräch komme. Er ist zwanzig und Angestellter im kleinen Hotel am Hauptplatz. «Warum sind sie gegangen?» – «Weil sie mehr Geld verdienen wollen. Und weil die anderen gegangen sind. Wenn deine älteren Brüder und deine Freunde weg sind, dann fühlst du dich einsam und willst auch gehen.» – «Warum bist du noch hier?» – «Viele haben mich gefragt, ob ich mitkommen wolle, aber ich habe abgelehnt. Mein Leben hier ist gut.» Efrem, ein Kopte wie die meisten Hochlandbewohner, hat die obligate Schulzeit absolviert, inklusive des zwölften Jahrs im Trainingscamp von Sawa, wo die Jugend neben patriotischem Unterricht auch eine militärische Ausbildung erhält. Weil er bei den Prüfungen durchfiel, konnte er nicht an die Hochschule und wurde in die Armee eingezogen. Man detachierte ihn für Büroarbeiten, und weil es nichts zu tun gab, schickte ihn der Kommandant nach Hause. Das war vor sechs Monaten. Er werde sich melden, hatte dieser gesagt, wenn etwas los sei, aber bis jetzt hat Efrem noch nichts von ihm gehört. Wann seine Dienstzeit offiziell zu Ende sei? «Das ist nicht an mir zu entscheiden. Sie entscheiden.»

Solange ihn sein Kommandant nicht ruft, kann er im Hotel arbeiten, wo er monatlich 1200 Nakfa verdient, umgerechnet 76 Franken. Das ist ein Durchschnittslohn in einem Land, wo ganz wenige wohlhabend, kaum jemand notleidend, aber die allermeisten arm sind. Tausend Nakfa gibt er seiner Familie, 200 behält er für sich. Er kauft sich damit farbige T-Shirts oder Jeans oder Turnschuhe, unverzichtbare Dinge eben. Und er hat Pläne. In fünf Jahren will er heiraten und drei Kinder machen, und später einmal möchte er ein Hotel in Asmara bauen. «Wie soll die Frau sein?» – «Hellhäutig.» – «Und wenn sie dumm ist?» – «Gut, eine helle Haut allein  genügt nicht. Sie muss auch rechnen und kochen können.»

Genaue Vorstellungen hat auch Machmud. Der 27-Jährige arbeitet im Rahmen des Nationaldienstes bei der staatlichen Busgesellschaft. Er ist verheiratet und hat ein Kind. «Nur ein Kind?», frage ich, worauf er mich anschaut, als hätte er es mit einem hoffnungslosen Hinterwäldler zu tun. «Hast du schon etwas von Familienplanung gehört?», fragt er zurück. «Ich habe 2013 geheiratet, und ich will fünf Kinder. Aber nur alle drei Jahre eines.» Selber habe er elf oder zwölf Geschwister. Schnell zählt er alle ihre Namen auf. Er kommt auf zwölf, und er ist der Älteste. Eine Schwester und ein Bruder sind in den Sudan gereist, nicht als Flüchtlinge in ein Camp, wie er betont, sondern um dort zu arbeiten. Ein weiterer Bruder, 21-jährig, lebt seit kurzem in der Schweiz. Der Trip via äthiopisches Camp, Sudan, Libyen übers Mittelmeer dauerte ein Jahr.

«Warum verliess er sein Land?» – «Er hoffte auf einen besseren Job.» – «Wusste er, wie gefährlich die Reise werden könnte?» – «Ja.» – «Warum ging er das Risiko trotzdem ein?» – «Viele von hier haben es schon geschafft. Er dachte, er schaffe es auch.» – «Was macht er in der Schweiz?» – «Er lernt die Sprache.» – «Wie geht es ihm?» – «Den Eltern sagt er, es gehe ihm gut. Den Freunden sagt er, es sei schwierig. Er vermisse die Freunde und die Familie.» – «Schickt er Geld nach Hause?» – «Das weiss ich nicht.» Machmuds Lohn inklusive Zulagen beträgt 2000 Nakfa, etwa 126 Franken. Daneben betreibt er zusammen mit seiner Frau einen kleinen Schuhladen und eine Schneiderei. Er habe gehört, dass die Schweiz schön und friedlich und reich sei. Er würde trotzdem nie weggehen, behauptet er. Er liebe seine Heimat.

Efrem und Machmud hatten, ohne zu zögern, in das Gespräch eingewilligt, und die Unterhaltungen waren entspannt verlaufen, obwohl wir in einem Café sassen und andere Leute uns zuhörten. Zudem war klar, dass Worku, meine eritreische Übersetzerin, mit der Regierung zu tun hatte. Ausländer reisen kaum ohne offizielle Begleitung im Lande herum, und die etwas über sechzigjährige Worku war mit ihrem westlich-sportlichen Outfit sofort als Vertreterin jener Generation von Guerilla-Kämpfern zu erkennen, die in Asmara vor 25 Jahren die Macht erobert hatten. Doch Efrem und Machmud empfanden offensichtlich keine Furcht dabei, zu reden, genau wie die vielen anderen ihrer Landsleute, die ich noch kennenlernen sollte.

Hot Pants und wilde Afrofrisuren

Etwas ausserhalb von Adi Kwala befindet sich ein italienisches Heldendenkmal. Ein Obelisk ragt gegen den Himmel, bewacht von Marmorlöwen, verziert mit faschistischen Rutenbündeln und versehen mit pathetischen Schwüren wie: «O Italien, für dich opferten wir heiter unsere Seelen dem schwarzen Schicksal». Mussolini hatte es erbauen lassen in Erinnerung an die Gefallenen der Schlacht von Adua im Jahre 1896. Eine italienische Truppe von 19 000 Soldaten war von einer 100 000 Mann starken Armee des abessinischen Königs Menelik ll. gedemütigt und vernichtend geschlagen worden. Sechstausend Italiener und Askari, eritreische Kolonialsoldaten, fielen an einem Tag. Den überlebenden Eritreern hackten die Sieger den rechten Arm und das linke Bein ab, auf dass sie sich nie mehr für den weissen Mann verdingen konnten.

Der Denkmalaufseher, ein spindeldürrer älterer Mann, öffnet für uns das ossario, das Knochenhaus, ein Kellergewölbe unterhalb des Obelisken. Die Gebeine der Offiziere ruhen in Einzelgruften, diejenigen der einfachen Soldaten in Massengrabkammern. Der Aufseher hat nicht viel zu tun. Der letzte Eintrag im Besucherbuch wurde vor drei Monaten geschrieben: «Nie vergessen wir dieses Land. Wir kehren zurück. Dicker Kuss: Thea Mozzani.» Schon sein Vater sei hier Aufseher gewesen, erzählt er, und sein Sohn stehe bereit, falls er nicht vorher weggehe. Dann führt er uns wieder nach draussen. Das Denkmal liegt direkt am Rande der Kebesa, des Hochlandes, das hier unvermittelt abbricht und einen atemberaubenden Ausblick wie aus einem Cockpit freigibt. Am Horizont schweben die blauen Berge Äthiopiens, gigantische, uneinnehmbare Felsburgen, an deren Sockel das Gemetzel von Adua stattgefunden hatte. Und direkt unter unseren Füssen, einige hundert Meter tiefer, erstreckt sich eine flimmernde Ebene, an deren Ende Äthiopien beginnt. Der Aufseher zeigt mit dem Finger darauf. Über diese Ebene, sagt er, verliessen die Jungen das Land. «Auf der rechten Seite werden sie eher erwischt. Die linke, hügelige Passage ist sicherer.» – «Und was passiert, wenn sie erwischt werden?» Er zuckt mit den Schultern. «Dann versuchen sie es ein nächstes Mal.»

Worku sieht das Monument zum ersten Mal und ist begeistert. «Dieser Stil, wie majestätisch, ich bewundere das. Die Italiener machten auch schlechte Dinge, aber sie brachten uns Infrastruktur.» Dann wird sie nachdenklich. Alle Jungen wollten weg, meint sie, ein richtiger Trend, das sei schlimm. Denn man brauche sie für den Aufbau des Landes, für die Schulen, Spitäler, den Strassenbau. Und wer nicht wegwolle, werde religiös und fanatisch und renne in die Kirchen und Moscheen. «Meine Generation war anders», bilanziert sie, und die kleine, agile Frau wirkt plötzlich müde, «bei uns gab es den Feminismus und die Hippies und die Befreiungsbewegung. Schon Kinder und Jugendliche wollten sich dieser anschliessen.» In Cafés oder Amtsräumen in Asmara sieht man ab und zu noch Gemälde und Fotos aus der heroischen Zeit des Unabhängigkeitskrieges. Sie zeigen junge Frauen und Männer in knappen Hot Pants und mit wilden Afrofrisuren. Einzig die geschulterten Kalaschnikows unterscheiden sie von Besuchern des Rockfestivals von Woodstock.

Lange hatte sich in der nördlichen Hemisphäre niemand für die Geschehnisse in den Bergen irgendwo in Ostafrika interessiert, wo seit 1961 eine kleine Guerilla-Truppe gegen das übermächtige Äthiopien für einen eigenen eritreischen Staat kämpfte. Das änderte sich erst nach einer unerwarteten Kapriole des Geschichtsverlaufes. Ausgerechnet in den freien und reichen Ländern des Westens entbrannte eine Revolte der Jugend gegen ihre Gesellschaft. Mit anarchischem Furor wurden Staat, Eigentum, Ordnung an sich in Frage gestellt, und an den Universitäten studierte der akademische Nachwuchs Theorien, die lehrten, wie man die verderbte kapitalistische Welt niederreissen und eine neue, gerechte schaffen könne. Da die Arbeiterklasse aber keinerlei Neigungen zeigte, auf ein eigenes Auto und die Segnungen eines vielleicht etwas langweiligen, aber friedlichen Lebens zu verzichten, mussten sich die Jungrebellen nach einem neuen revolutionären Subjekt umsehen. Sie fanden es in den Aufstandsbewegungen der Dritten Welt. Den «kämpfenden Völkern des Trikont» schien zu gelingen, was zu Hause nicht klappen wollte: die Weltrevolution, die Sprengung aller Ketten.

Es wurden Kontakte geknüpft, und man einigte sich auf eine Arbeitsteilung. Die Novizen aus Berlin, London, Basel überliessen das Schiessen den Guerilleros und widmeten sich stattdessen in ihrer Heimat dem Sammeln von Spenden und der Propaganda für die Kampforganisationen. Das erhebende Gefühl, im Kraftraum der Geschichte angekommen zu sein, durchströmte die wortgläubigen Studenten. Sie wähnten sich als Zeugen der Zukunft. In der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF) zum Beispiel, einer maoistischen Guerilla, kämpften junge Männer und Frauen gleichberechtigt Seite an Seite, teilten selbstlos das wenige, das sie besassen, feierten zusammen und starben für den anderen. Der bewaffnete Kampf gebar den neuen, schönen, sozialistischen Menschen. Paul Parin, der Zürcher Gralshüter einer linken Psychoanalyse, deutete noch 1990 auktorial: «Die EPLF hat entscheidende Schritte zu einer wirklichen Revolution getan.»

«Doctor Tonis» grosse Liebe

Das Revolutionsdelirium verdampfte mit  den Jahren wieder. Eine Befreiungsbewegung nach der anderen entpuppte sich als brutales Kampfvehikel skrupelloser Machtstrategen. Zur Ausnüchterung trug auch die Schwerkraft des Alltags bei. Die Studenten wurden erwachsen, ergriffen einen Beruf, gründeten Familien. Die Zeit als Drittweltaktivist verwandelte sich in eine melancholische Erinnerung an die verwegenen Jugendjahre. Nur ganz wenige blieben ihrer Vergangenheit treu. Einer davon ist der gebürtige Oberwalliser Toni Locher, Frauenarzt in Wettingen und heutiger Schweizer Honorarkonsul von Eritrea.

Seit seinem ersten Besuch vor vier Jahrzehnten reist er zwei- bis dreimal jährlich in das ostafrikanische Land. Eritrea ist zur zweiten Heimat, zur Liebe seines Lebens geworden. Eine schwierige Liebe, denn das Land wird international angeprangert. Die vielen falschen Vorwürfe, Eritreer würden Hunger leiden, als Sklaven gehalten, tun ihm weh. Aber noch stärker schmerzen die Vorwürfe, von denen er weiss, dass sie stimmen. Eritrea ist eine Autokratie, es gibt keine freien Medien, keine politischen Parteien, und Kritiker des Präsidenten sind ohne Gerichtsverfahren in Gefängnissen verschwunden. Locher, den in Eritrea alle «Doktor Toni» nennen, räumt Mängel ein, aber relativiert sie gleichzeitig. Nicht das Regime sei schlecht, sondern die Umstände seien es. Manchmal erinnert er an einen Mann, dessen Frau ihn mit einem anderen betrügt. Das ganze Dorf weiss es, nur der verliebte Ehemann will es nicht wahrhaben.

Dauerbedrohung durch Äthiopien

Locher ist zur gleichen Zeit in Eritrea wie ich. An einem Morgen begleite ich ihn auf einer dreitägigen Reise in die westliche Tiefebene Eritreas. Ausserhalb Asmaras breitet sich das Hochland aus, eine pastorale, berückend schöne Landschaft, ein grüngoldener Teppich aus Getreidefeldern, Wiesen, Eukalyptuswäldern. Dazwischen unzählige kleine Teiche und Stauseen, an denen sich Vögel versammeln. «Früher war es hier weitgehend kahl», erklärt Locher, «aber die Regierung hat bewässert und angepflanzt.» Leise Genugtuung klingt mit. Nach etwa zwei Stunden Fahrt fällt das Hochland ab. Die Strasse schmiegt sich Abgründen entlang, windet sich in scharfen Kehren talwärts, führt durch spektakuläre Felslandschaften, mündet schliesslich in das Tiefland, eine hitzeflirrende Savanne, die sich bis an die Grenze zum Sudan hinzieht. Ab und zu sieht man ein armseliges Dorf oder Wanderhirten mit ihren Kamel- und Ziegenherden. Ansonsten wirkt die Ebene weitgehend menschenleer.

Auf der ganzen Reise kommen wir an Projekten des Schweizerischen Unterstützungskomitees für Eritrea vorbei, dessen Mitbegründer und Seele Locher ist – ein Wasserreservoir an einem Bergabhang, das mehrere Dörfer mit Wasser versorgt, ein kleines Staudammbecken, um Dürreperioden zu überstehen. Wir besuchen eine Schule für Gehörlose, einen Kindergarten und lernen ein Frauenprojekt, das gegen weibliche Genitalverstümmelung kämpft, kennen. Wir überreichen 300 von einem Schweizer Optiker gestiftete Brillengestelle an die Augenklinik «Lichtblick», machen eine Kurzvisite in einem Weingut mit angeschlossener agrotechnischer Hochschule, das von einem jungen eritreischen Priester geführt wird und wo Doktor Toni den Studienbesuch eines interessierten Tessiner Winzers ankündigt. Locher erzählt von hundert Eseln, die man Dorffrauen gespendet habe, von Recycling-Velos für Kriegsversehrte, von einem Haus in einem Dorf, das man mit Stromgenerator und Kühlschrank ausgerüstet hat, um einen Junglehrer für eine Mädchenschule zu finden, das aber immer noch leerstehe, weil sich bis jetzt keiner gefunden hat, der in das abgelegene Nest ziehen wollte.

Wie eine wärmende Lichterkette des Humanitarismus reiht sich Projekt an Projekt. Locher hat noch nie einen Rappen für sein jahrzehntelanges Engagement bezogen. Sein Lohn sind die strahlenden Gesichter der Beschenkten, das herzliche «Thank you, doctor Toni», die Befriedigung, über die kalte Welt des Geldes doch noch einen kleinen Sieg errungen zu haben. Ein pragmatischer Restposten der kommunistischen Utopie von der Menschheitsverbrüderung hat im Frauenarzt mit der sanften, melodiösen Stimme überlebt.

Auf der Rückfahrt übernachten wir in Keren, einer orientalischen Kleinstadt im Landesinnern. Am Abend lassen wir uns in der Halle unseres Hotels auf einen Drink nieder. An der Réception, hinter der Bar und im Speisesaal arbeiten junge Frauen. Sie haben nicht viel zu tun, Gäste sind selten. Wir plaudern ein wenig, und sie erzählen, dass sie hier ihren Nationaldienst leisten. «Für wie lange?», frage ich. «Das ist unklar», antwortet eines der Mädchen. «Und was machst du nachher?» – «Heiraten.» Sie fragt zurück, woher ich käme, und als ich «Switzerland» sage, meint sie lachend: «Ah, gut, da kommen wir auch hin.» – «Welcome», sage ich, und sie antwortet: «Aber wie? Wir verdienen 700 Nakfa. Das reicht gerade für den täglichen Transport vom Hotel nach Hause zur Familie.»

«Doctor Toni», ruft plötzlich ein Mann und steuert auf Locher zu. Dieser steht auf, und die beiden stossen die rechten Schultern gegeneinander, senken den Kopf hinter den Kopf des anderen und drücken sich gleichzeitig die Hände – es ist der Gruss der alten Kämpfer. Der andere ist einer von den vielen Freunden Lochers, und sie haben sich schon länger nicht mehr gesehen. Der Neuankömmling heisst Zerigabir, ein gepflegter, zurückhaltender Mittdreissiger, der als Chefingenieur für die Bewässerungssysteme der Provinz verantwortlich ist.

Locher freut sich sehr, ihn hier zu sehen. Beim letzten Treffen hatte Zerigabir noch mit dem Gedanken gespielt, aus Eritrea wegzugehen. Achtzig Prozent seiner alten Studienkollegen hätten das Land verlassen, erzählt er, und arbeiteten im Südsudan, in Ruanda, Angola, in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Dieser Braindrain sei schlimm für das Land. Aber wenn sie auf Facebook schreiben, wie viel sie verdienen, braucht es eine robuste Vaterlandsliebe, um nicht ebenfalls gleich den Koffer zu packen. Sein Ingenieursjob ist Teil des Nationaldienstes, der Lohn beträgt 1700 Nakfa. Würde er in der Schweiz Asyl beantragen, weiss er, bekäme er monatlich über 900 Franken Flüchtlingsgeld. Überwiese er nur 100 Franken davon nach Hause, ergäbe dies auf dem Schwarzmarkt 4000 bis 5000 Nakfa, mehr als das Doppelte seines Salärs. Die Regierung müsse die Löhne erhöhen, findet er, sonst liefen noch mehr Leute davon. Und Europa solle die sogenannten Flüchtlinge aus Eritrea zurückschicken. Es passiere ihnen nichts. Viele kämen, um die Frau zu heiraten, die von der Familie für sie ausgesucht worden sei. Danach verliessen sie das Land wieder, ohne behelligt worden zu sein. ›››

Abgesehen vom zu niedrigen Lohn verteidigt Zerigabir den Nationaldienst, der ursprünglich nach achtzehn Monaten hätte beendet sein sollen, aber nun je nach Ministerium oft viel länger dauert. «Wir leben unter einer Dauerbedrohung durch Äthiopien», sagt er. «Es akzeptiert unsere Grenzen nicht. Unsere Armee muss bereit sein.» «Viele meinen», erwidere ich, «der Streit mit Äthiopien sei ein Vorwand des Präsidenten, um weiter uneingeschränkt herrschen zu können. Warum soll mehr Freiheit nicht möglich sein, auch wenn man von aussen bedroht wird? Israel zum Beispiel macht es seit bald siebzig Jahren vor.» – «Israel hat ein hohes Bildungsniveau und ist wohlhabend. Das macht Demokratie erst möglich. Eritrea ist anders, elementarer. Gäbe es mehrere Parteien, bräche das Chaos aus. Wir dulden zum Beispiel keinen islamischen Extremismus. Schau zu unseren Nachbarn: Somalia, Sudan, Jemen – überall Aufruhr und Bürgerkrieg. Unser erstes Ziel ist Stabilität. Nur so können wir wirtschaftlich prosperieren.»

Zerigabir hofft, dass der Aufschwung bald kommt. Die Zara-Goldmine, ein Joint-Venture-Unternehmen mit China, beginnt in diesen Tagen mit der Produktion, und in der Danakil-Wüste am Roten Meer liegen gigantische ungeborgene Pottasche-Vorräte. Er selber träumt von einem Internet-Zentrum, das er in unserem Hotel aufbauen möchte. Die Regierung erlaubt zwar keine privaten Medien, doch das Internet ist frei zugänglich.

Es rennen auch Vierzehnjährige davon

Nur wenige Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit hatte Eritrea mit Äthiopien einen Krieg um ein verschlafenes Grenzkaff geführt. Er dauerte von 1998 bis 2000, kostete 19 000 Eritreer das Leben und war eine wirtschaftliche und politische Katastrophe für das junge Land. Fragen kamen auf, ob Isaias Afewerki, der starke Mann der Regierung, alles richtig gemacht hatte. War der begabte, vergötterte Leader des Befreiungskampfes auch für den Frieden geeignet? Fünfzehn Persönlichkeiten aus dem inneren Kreis der Macht, «G 15» genannt, verfassten einen offenen Brief. Sie forderten Afewerki auf, die Verfassung zu anerkennen und einen «demokratischen Dialog» mit dem Volk aufzunehmen. Ein paar Monate später, am 18. September 2001, gab Afewerki Antwort. Er liess die Briefunterzeichner verhaften. «Das sind keine Politiker», erklärte er einem BBC-Reporter, «sondern Leute, die ihr Land in schwierigen Zeiten verraten haben.» Bis auf vier, die gerade im Ausland waren, verschwanden alle in Geheimgefängnissen, und man hat bis heute nichts mehr von ihnen gehört.

Berhane hat die Verschwundenen gekannt. Ich treffe ihn in einem Café in Asmara. Er spricht sechs Sprachen, ist Schriftsteller, hat in Europa und in den USA gelebt. Seinem klugen, etwas melancholischen Gesicht sieht man die siebzig Jahre nicht an. Berhane heisst in Wirklichkeit anders. Würde er mit seinem richtigen Namen in einer europäischen Zeitung zitiert, hatte er gemeint, wüsste dies zwei Tage später die Regierung. Und je nachdem, sagt er lachend, würde man ihn dann als Landesverräter bezeichnen. Er habe schon genug Sorgen. Mit den Kindern, den Enkelkindern. Wieder lacht er.

«Ist Eritrea ein zweites Nordkorea?», frage ich. «Nein, auch kein zweites Kuba. Eritrea ist wie kein anderes Land.» – «Warum laufen die Jungen davon?» – «Es ist verrückt. Das Land ist sicher, es gibt kaum Kriminalität, du vergisst deine Tasche in einem Lokal, und sie ist am anderen Morgen noch dort, die Leute sind ehrlich, jeder junge Mensch bekommt eine freie Ausbildung – all das ist nicht selbstverständlich in Afrika. Gut, die Inflation frisst den Lohn weg, und der Nationaldienst müsste beschränkt werden, damit die Jungen ihr Leben planen können. Aber es rennen auch Vierzehnjährige davon, die ein gutes Leben haben und nicht in den Dienst müssen, oder etwa diese 22-jährige Frau, die ich neulich traf. Sie war demobilisiert worden, weil sie das einzige Kind ihres Vaters war. Trotzdem wollte sie weg.»

Was wichtiger sei, frage ich ihn, Stabilität oder Freiheit. Ohne Stabilität gebe es keine Freiheit, meint er, aber ohne Freiheit sei Stabilität ein Gefängnis. «Ist diese Regierung fähig, mehr Freiheit zuzulassen?» – «Der Präsident und seine Minister waren Guerilla-Krieger und Marxisten und sind es wahrscheinlich immer noch. Sie machen, was sie immer gemacht haben: Befehle erteilen, Kommandos geben. Das ist einfacher als aus der Realität lernen.» Er wirkt erstaunlich gelassen angesichts der Tatsache, dass das Regime einige der besten Köpfe abservieren liess, darunter auch gute Freunde von ihm, und damit auch alle übrigen potenziellen Reformer kaltstellte, Persönlichkeiten, Intellektuelle, die das Land für den Aufbau dringend brauchen würde. Es muss erniedrigend sein, dazu zu schweigen.

«Was kann ich machen», meint Berhane, «weshalb sollte ich bitter werden?» Und fügt nach kurzem Nachdenken hinzu: «Man muss Wutkontrolle betreiben, anger management, und sich um die Familie kümmern. Diese ist das Wichtigste.» Die momentane Situation sei eine Phase, fuhr er fort, die jedes afrikanische Land durchlaufe und die wieder vorübergehe. Falsch sei es jedoch, ein westliches System importieren zu wollen. Man müsse in Afrika wie überall den eigenen Weg finden. Und sobald sich die Wirtschaft erhole, gebe es wieder weniger runaways, jugendliche Ausreisser.

Er redete wie andere urbane Eritreäer, die ich kennengelernt hatte, Gebildete, Angehörige der dünnen Mittelschicht. Sie hatten die Geduld, die Zähigkeit, die Ausdauer ihrer Landsleute gelobt. Und plötzlich glaubte ich die Langsamkeit, das Traumwandlerische und Unwirkliche, den Leerlauf und das aus der Zeit Gefallene, welches ich in diesen Tagen oft empfunden hatte, etwas besser zu verstehen. Die stoische Schicksalsergebenheit Berhanes und der anderen Asmarinos ist Ausdruck eines Landes im Wartemodus, die Reaktion von Leuten, die auf das Ableben des Diktators warten, und die, bis es so weit ist, lieber nichts tun als etwas Falsches. Kleine Episoden und unscheinbare Vorfälle auf meiner Reise fügten sich zum Bild eines Regimes, das hypermisstrauisch jede Aktivität im Lande kontrollieren will.

Die Geschäfte in Asmara sind voll mit Früchten und Getreide. Da sich die Preise für Lebensmittel in den letzten Jahren aber verfünffacht haben, hat die Regierung in jedem Quartier Asmaras noch staatlich subventionierte Läden eröffnet, in denen Familien einmal im Monat verbilligt einkaufen können. Wir wollten einen dieser Läden anschauen, was aber kurioserweise eine Bewilligung erfordert hätte, die wir aus noch unersichtlicheren Gründen nicht erhielten. Als wir Übersetzerin Worku sagten: «Lass uns trotzdem schnell reingehen», weigerte sich die verdiente alte Freiheitskämpferin: «Nicht erlaubt ist nicht erlaubt.»

Beim Besuch einer vom Suke unterstützten landwirtschaftlichen Schule war der Chef nicht anwesend. Sein Stellvertreter hätte Auskunft geben sollen. Er war nicht in der Lage, die einfachsten Antworten zu geben. Nicht, dass er nichts gewusst hätte, sondern er getraute sich nicht. Ein Techniker war mutiger und erklärte die Abläufe des Betriebes.

Kein Ausländer darf sich frei in Eritrea bewegen. Für jede Fahrt aus Asmara heraus braucht es eine Bewilligung. Zuständig für die Reiseerlaubnis ist die Assistentin des Präsidentenberaters, also eine Person in unmittelbarer Nähe des Machtzentrums. Da sie gerade auf Dienstfahrt im Ausland war, musste sich Worku auf einen nervenaufreibenden Parcours durch den Ministeriendschungel begeben, bis sie jemanden fand, der es wagte, eine Bewilligung auszustellen. Als offizielle Gäste der nationalen Gewerkschaft durften wir schliesslich Asmara verlassen.

Eine Narbe an Isaia Afewerkis Oberarm hat die Form eines E. «E» für Eritrea. Der junge Afewerki hatte sie sich selber in die Haut geritzt, ein ins Fleisch getriebener Schwur, so lange zu kämpfen, bis seine Heimat unabhängig war. Im China der Kulturrevolution erhielt er seine militärische und politische Ausbildung. Sie prägte sein Misstrauen gegenüber städtischem Leben und Intellektuellen und seine Vorliebe für wirtschaftliche Autarkie und bäurischen Sandalenkommunismus. Zäh, bedürfnislos und mit machiavellistischen Instinkten gesegnet, schaltete er alle Machtkonkurrenten aus und arbeitete sich an die Spitze der EPLF-Guerilla und später der Staatspartei hoch. Hilfreich waren dabei auch seine imposante Körpergrösse und seine einschüchternden Wutausbrüche. Man erzählt sich, dass er bei Meinungsdifferenzen Kommandanten oder Kabinettsmitgliedern plötzlich Schläge oder Kopfstösse versetzte, und einmal zerschmetterte er eine Whisky-Flasche auf dem Schädel eines Ministers. Heute ist Afewerki nur noch von Jasagern umgeben.

Die Kontrollsucht des Guerilleros

Afewerki ist ein Autokrat, aber kein schrecklicher Tyrann. Er terrorisiert nicht ganze Bevölkerungsgruppen mit willkürlichen Strafaktionen, wie man es aus anderen Dritte-Welt-Diktaturen kennt. In latenter Lebensgefahr schweben nur jene wenigen, die sich in seiner unmittelbaren Umgebung bewegen, die direkten Rivalen im Zentrum der Macht. Ich erinnere mich an Begegnungen, die ich im Irak zur Zeit der Diktatur Saddam Husseins hatte. Jede Frage, die nur im Entferntesten mit Politik verbunden war, liess das Gegenüber erbleichen und vor Schreck erstarren. Hier kann ich mitten in Asmara sitzen und mein Gesprächspartner kritisiert die Regierung und verlangt lediglich, dass ich seinen Namen in der Zeitung nicht erwähne. Ein «Klima der Angst», wie es in Eritrea herrschen soll, fühlt sich anders an. Doch solange Afewerki herrscht, ist jede selbständige Initiative, jeder eigenständige Gedanke sinnlos. Die Kontrollsucht des 69 Jahre alten Guerilleros lähmt eine ganze Nation. g

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