Das Magazin

07.06.1997

Kebabylon

An der Zürcher Langstrasse befindet sich die türkische Imbissbude «Zur Alten Metzgerei». Das Essen ist türkisch, die Kundschaft aus der ganzen Welt.

Text EUGEN SORG Fotos DOMINIC BÜTTNER

Heute bin ich um Viertel nach neun gekommen. Die anderen waren schon um halb neun da. Wie jeden Morgen. «Hallo, Chef», begrüsst mich Hasan, mit den Kochtöpfen hantierend. «Hallo, Chef», antworte ich. «Hallo, Chef», nickt mir Haci zu. «Tag, Chef», grüsse ich zurück. Ich hänge meine Jacke an einen Haken und schnappe mir ein Rüstmesser. «Müde?» fragt mich Haci munter. «Aber nein», lüge ich, und frage mich, was mit diesem Mann bloss los ist. Wie kann er um halb zwei in der Früh sein Lokal verlassen und sieben Stunden später wieder einrücken. Gut gelaunt. Und das Tag für Tag, siebenmal die Woche. Dann beginnen meine Augen zu tränen. Zwiebeln.

Haci ist seit zwei Monaten Pächter der Imbissbude «Zur Alten Metzgerei», und Hasan ist sein Koch. Sie servieren türkisches Essen, eher bodennahe Kost, Bohnensuppe, Kartoffelgerichte, Hühnerschenkel, Lammstücke mit Reis. Und selbstverständlich Kebab, geröstetes Schafsgekröse am Spiess. Vom Trottoir aus kann man wie in ein Aquarium direkt in Hasans Futtertöpfe schauen. Die Lage des Betriebes ist hervorragend, Zürich-Aussersihl, Ecke Langstrasse/Zwinglistrasse, in-ternationale Kundschaft, Geschäftsverkehr und hungrige Bäuche bis zur Polizeistunde eine halbe Stunde nach Mitternacht.

Kiloweise Zwiebeln, schälen und schneiden, dann Kartoffeln, ganze Äcker, wer soll das alles bloss essen, langsam kriecht Leere in mir hoch, ich verwandle mich in einen Küchenmesserfortsatz, mutiere zum Rüst-Zombie. Nie würde ich den Aufstieg vom Küchenburschen zum Restaurantkönig schaffen, nie hätte ich die Kraft, mich hochzuschnipseln.

Hasan mit seinem runden Bäuchlein dagegen strahlt Zufriedenheit, ja Würde aus. Er arrangiert meine unförmigen Teilchen auf dem Ofenblech, knetet Fleischbällchen, taucht mit Kennermiene den Löffel in die blubbernden Pfannen, alles in aufrechter Haltung und mit umsichtigen Bewegungen, zerlegt die Hühner, bestreut die Haut mit Salz und Pfeffer, schiebt sie in den Backofen und pfeift dazu ein Liedchen. Die abgenagten Viecher werde ich später auf den Abfall schmeissen, in einem 110-Liter-Züri-Sack.

Ich habe bereits Hacis Vorgänger gefragt, ob ich eine Weile bei ihm als Aushilfe arbeiten dürfe, um darüber in der Zeitung zu schreiben. Der meinte, ich müsse das mit seinem Sohn besprechen, nein, telefonisch sei der nicht erreichbar, er werde aber nächste Woche dasein. Dies wiederholte sich einige Male, und bei meinem fünften Besuch war der Sohn immer noch nicht da, dafür die Zürcher Stadtpolizei in Zivil.

«Wir wissen, du kennen diese Frau», drohte der jüngere der beiden Fahnder dem schlotternden Wirt und nannte einen schweizerisch klingenden Namen. Der Wirt wusste nichts. «Diese Frau sagen, sie dir zwei rote Briefumschläge geben mit Geld für einen bestimmten Mann», fuhr der jüngere Polizist fort, während der ältere dem Wirt Handschellen verpasste. «Wenn weiter lügen, du nach Hause fahren in Türkei. Aber subito. Noch heute abend.»

Der jüngere Polizist sprach nun sehr laut, und der Wirt war grau im Gesicht. Die anderen Gäste hatten sich leise verzogen, und Neuankömmlinge machten auf der Schwelle kehrt. Plötzlich erinnerte sich der Wirt an den Namen der Briefträgerin. «Na also», sagte der Polizist, «wo Briefe?» Nach einer Stunde zogen die Beamten wieder ab, ohne irgendwelche Briefumschläge, und der Wirt hatte Schweissflecken unter den Achselhöhlen. Eine Woche später teilte er mir mit, dass er das Restaurant auf Ende Monat abgebe.

Bis 1988 wurden in der «Alten Metzgerei» Rippli, gehacktes Dreierlei und Aufschnitt feilgeboten. Dann verkaufte die Besitzerin, die Bell AG, die Liegenschaft. Das Quartierlädeli hatte ausgedient. Immer mehr Familien waren aus dem Langstrasse-Gebiet weggezogen, und neue Bewohner aus allen Kontinenten nahmen deren Stelle ein. Zuzüger mit leichtem Gepäck und schweren Erinnerungen, ewige Durchreisende, urbane Goldsucher, Versprengte,Katastrophen-Nomaden. Als ob die Welt einen gewaltigen Stoss bekommen und alle Dinge und Menschen in Bewegung gesetzt hätte.

Das Quartier fing an, einer grossen Transithalle zu gleichen. Wer sich auf einen längeren Zwischenhalt einrichtete, eröffnete Imbissbuden, Reisebüros, Geschäfte mit Produkten aus den verschiedenen Heimaten, tätigte Handel aller Art. Und wer gar nichts zu verkaufen hatte, verkaufte sich selber. Die Eingeborenen begannen die reale Globalisierung wie eine stinkende Socke zu meiden. Heute ist etwa jeder 20. Passant, der tagsüber hinter den Scheiben der «Alten Metzgerei» auftaucht, gebürtiger Schweizer. Nach Eindunkeln ungefähr jeder 40.

Bei Haci, dem neuen Wirt, wurde ich wieder vorstellig. «Du willst Geschirr waschen, Tische abräumen, Gemüse rüsten und solche Sachen, um darüber einen Artikel zu schreiben?» Er willigte ohne Umstände ein, achselzuckend zwar, als ob er sich schon vor längerer Zeit das Wundern darüber abgewöhnt hatte, auf welch sonderbare Weise heutzutage manche Leute ihren Lebensunterhalt verdienen.

Unterdessen ist Zeyner eingetroffen, eine jüngere Frau, die ebenfalls im Restaurant arbeitet. Ihr Mann ist ein Freund von Haci und kommt regelmässig ins Lokal, sie stammen aus Nachbarsdörfern. Haci ist gemäss Ausländerausweis Türke, seiner Nationalität nach aber Kurde, genau wie sein Pachtvorgänger. Der Koch Hasan ist türkischer Türke, aber das scheint niemanden zu stören, trotz Bürgerkrieg in der gemeinsamen Heimat. Hasan hat schon beim alten Pächter die Pfannen umgerührt. «Regierung macht Krieg, nicht die Leute», bemerkt Haci einmal weise und macht dazu ein Gesicht, als wolle er dieses Thema ein für alle Mal ruhen lassen.

Die Kebab-Stände gehören zu den er-folgreichen Betrieben der fleissigen Passagierunternehmer, sie vermehren sich prächtig im Umfeld der Langstrasse. Oft werden sie von Familien geführt, was die Personalkosten senkt. Dass man einen Döner Kebab auch im Stehen oder Laufen verzehren kann, kommt den Bedürfnissen der neuen, mobilen Quartierpopulation entgegen.

Allerdings halten sich hartnäckig böse Gerüchte, manche der chromblitzenden Kebab-Küchen seien mit unsauberem Geld finanziert. Mit Drogengeld. Ein Fahnder der Stadtpolizei Zürich will schwören, dass in der Kebab-Szene einiges nicht mit legalen Mitteln zugehe. Aber wie beweisen? Die Türken und Kurden unter den Drogenhändlern seien seit etlichen Jahren in die oberen Etagen des internationalen Geschäfts aufgestiegen. Ihre Büros lägen nicht an der Langstrasse und auch nicht sonstwo in der Schweiz. Es sei daher ergiebiger, Strassendealer und kleinere Verteilerorganisationen zu packen, als hinter Phantomen und gesichtslosen Geldbewegungen herzurennen. Wobei der Fahnder betont haben will, dass viele der ausländischen Buden- inhaber ehrliche Chrampfer seien.

Um elf Uhr sind die Essen bereit. Haci plaudert mit Zeyner, Hasan hat sich hinter der Theke aufgestellt, und ich stehe vor der Eingangstüre, die Arme über der Brust verschränkt, ganz routinierter Gastgewerbler. Wir warten auf Kundschaft, als Amina um die Ecke kurvt, etwas früher als sonst, aber lächelnd wie gewohnt. «Bonjour, Madame.» Hasan verneigt sich galant. «Bonjour, ça va?» kokettiert Amina zu-rück. Sie ist seit drei Wochen in Zürich und seit drei Wochen Stammkundin der «Al- ten Metzgerei». Mittagessen, Abendessen, manchmal Nachtessen. Hasan schaufelt ihr eine extra grosse Portion auf den Teller. Sie verdankt es mit einem Augenaufschlag.

Sie habe immer Hunger, hat Amina vor ein paar Tagen gesagt, einen grossen Hunger, und der Mann, der sie heiraten wolle, müsse viel Geld nach Hause bringen. Sie sei in der Wüste geboren, vom Volke der Peul aus dem Niger, die einzige hier im Viertel, erzählte sie nicht ohne Stolz. Mit 14 hätte ihre Hochzeit stattfinden sollen, mit einem älteren Mann aus einer verschwägerten Sippe. Zwei Tage vor der Feier sei sie durchgebrannt, in aller Herrgottsfrühe, zitternd vor Kälte, vor Angst und vor Aufregung. In der Kabine eines Fernfahrers nach Mali geflohen, später an die Elfenbeinküste, mit 18 schliesslich nach Paris. Und immer für sich selber aufgekommen.

Wie alt ich sie schätze? 23? Schmeichler. Sie sei 30. Dann hat ihr Natel in der Handtasche geschellt. «Ah, du bist es», sagte sie zum Anrufer, «einverstanden, in zehn Minuten in meinem Büro», und noch bevor sie das Telefon zugeklappt hatte, prustete sie los. «Die «Lugano»-Bar, mon office, mein Büro, nein, wirklich.» Das sage sie aber immer, meinte sie, nachdem sie sich erholt hatte, um gleich wieder loszukichern. In der «Lugano»-Bar, wenige Schritte von hier entfernt, sei sie stets anzutreffen. Dort, lächelte sie charmant, warte sie auf Männer, die ihr «petits cadeaux», kleine Geschenke, machen wollten.

Die schlauen unter den einheimischen Grundbesitzern haben sich der veränderten Situation an der Langstrasse angepasst und ihre Chance gepackt. Das Haus, in dem Haci sein Glück versucht, hat in den vergangenen neun Jahren viermal die Hand gewechselt. Von einem Spekulanten zum nächsten. Die momentane Eigentümerin, eine Aktiengesellschaft, bewirtschaftet noch andere Objekte. In einem davon logiert Amina. Dort teilt sie ein Zimmer mit zwei anderen Frauen. Jede bezahlt pro Woche 300 Franken Miete. Die «petits cadeaux» der Männer nehmen sie im Schichtbetrieb entgegen. Noch rentiere es, hat Amina ungerührt kommentiert. Sie sei ohnehin nur vorübergehend da.

Als eine Lampe über dem Spülbecken nicht mehr brennt, will Haci der Sache auf den Grund gehen. Beim Herumbasteln kriegt er einen elektrischen Schlag ab. Erschreckt fährt er mit dem Arm in die Höhe, stösst an die Kante des Geschirrbuffets und holt sich einen Kratzer. Eine Lappalie, sollte man meinen, für einen robusten, 35jäh-rigen Mann. Zwei Stunden später hat er mir bereits zum fünften Mal seinen Arm gezeigt. Nur beiläufig und ohne zu jammern, aber trotzdem.

Prunkstück der «Alten Metzgerei» ist ein gigantischer schwarzer Kuhkopf. Er hängt an der hinteren Wand und schaut stoisch hinaus auf die Langstrasse. Das eine Horn schmückt eine Schleife, am anderen baumelt ein Gebetskranz. Das verleiht dem Haupt etwas Festliches, als ob der Büffel auf dem Wege zu einer Hochzeit oder einer Taufe gewesen sei. Ich habe nie ein solches Tier auf unseren Wiesen grasen sehen. Und die Kollegen von Haci und die Kollegen der Kollegen, die am grossen Tisch Tee trinken, rauchen und diskutieren, kennen diese Kuhsorte nicht.

Die schöne Fatma, eine Prostituierte aus Anatolien mit auffallend grossen Händen und einer verräterisch tiefen Stimme, setzt ihre unschuldigste Miene auf und fragt nach der Geschlechtsidentität des armen ausgestopften Geschöpfs. Das sei manchmal nicht so eindeutig, meint einer, und die Runde feixt und zwinkert, und Fatma spielt gekonnt die Beleidigte. Sicher sei nur, wirft Haci ein, dass der Kopf von früher stamme, als hier noch eine Metzgerei gewesen sei.

Hasan hobelt Kebab, als Vera und Ljuba eintreten. Vera ist hellblond und klein und wirkt etwas verrupft und verschlafen, Ljuba ist zwei Köpfe grösser, und alles an ihr ist rund. Die beiden sind Polinnen und sehen aus, als wären sie aus einem landwirtschaftlichen Internat getürmt. Wenn sie nicht die Langstrasse rauf und runter spazieren und beim Vorbeigehen Hasan zuwinken, sitzen sie in der «Alten Metzgerei» und scheinen zu warten. Manchmal stundenlang. Worauf, ist nicht ganz klar. Ihr Natel hat noch nie gepiepst.

«Hallo, Papi», ruft Vera, und Hasan kommt hinter seinem Schlemmerbuffet hervor. Hasan kennt viele Mädchen in der Umgebung, eigentlich die meisten, kommt es mir vor, und alle strahlen, wenn sie ihn sehen, werfen ihm Küsschen zu und nennen ihn Papi. «Du essen», sagt Hasan, «musst wachsen», und schiebt Vera ein Stück Kebab in den Mund. «Danke», antwortet das Mädchen artig und streicht Hasan zärtlich über den Bauch. Hasan schliesst die Augen und hält seinen Kopf schief. «Wie viele Monat schwanger», fragt Vera, «sechs?» «Acht», ruft Haci von der Kasse hinüber. «Vera», sagt Hasan und faltet die Hände wie zum Gebet, «ich liebe nicht mich, ich liebe dich.» Vera lächelt. «Und ich liebe Maccaroni», sagt Ljuba.

Auf dem Gehsteig vor dem Schaufenster, direkt vor dem Kebab-Mocken, stoppen drei Polizisten zwei junge, südländische Frauen. Die Beamten stecken in Arbeitsmontur: Schnürstiefel, Schlagstöcke, am Gürtel baumelnde Handschellen. Ebenso die Frauen: hochhackige Schuhe, enganliegende Kleider, starke Schminke. Auf der anderen Strassenseite bleibt ein Kokaindealer stehen und schaut amüsiert zu. Die Polizisten, nicht viel älter als die Frauen, nehmen ihren Auftrag ernst. Sorgfältig blättern sie in den Pässen, kontrollieren die Stempel, die beiliegenden Formulare. Bei der einen scheinen die Papiere nicht in Ordnung zu sein. Sie erklärt und argumentiert und fleht und flirtet und wird dabei von der Freundin unterstützt. Es nützt nichts. Gesichert mit Handschellen, tippelt sie aufs nahe Revier. Der Dealer flaniert weiter.

Es ist vier Uhr nachmittags. Keiner im Lokal ausser mir hat die Verhaftungsszene weiter beachtet. Sie ist so alltäglich wie die Vorbeifahrt des 32er-Busses. Haci verhandelte gerade mit einem Getränkelieferanten, Zeyner bediente Gäste, und Hasan hat von Zeit zu Zeit einen Blick auf den Spielautomaten geworfen. Vor ihm hat sich eine Gruppe Männer versammelt, Albaner, die aussehen wie Touristen oder Fussballer. Sie tragen farbige Trainingsanzüge und amerikanische Turnschuhe und Baseballmützen. Einer zieht aus der Brusttasche eine dickes Bündel 50er-Noten und schiebt einen weiteren Schein in den Kasten. Den dritten. Die Kollegen verfolgen aufmerksam das Spiel, murmeln, wenn es blinkt und klingelt, geben zwischendurch eine Bestellung auf, und manchmal verzieht sich einer auf die Strasse, um mit dem Natel einen Anruf zu erledigen. Nach insgesamt 80 Minuten ist auch die vierte Note unwiederbringlich verschluckt. Die Truppe bezahlt und trollt sich.

Kunde ist Kunde, meint Haci trocken. Gestern war der Vertreter der Automatenfirma da, um die Kästen zu leeren. Seit die Geldspielautomaten im Kanton verboten sind, heissen sie Punktespielautomaten. Der theoretisch mögliche Gewinn klimpert nicht mehr in den Behälter, sondern erscheint als Zahl auf einer Anzeige. 5000 Franken haben sich innert zehn Tagen im Bauch der Apparate angehäuft. Die Hälfte für die Firma, die Hälfte für den Wirt. Ein Kasten ist die halbe Miete.

«Vera. Ich gehe dich heiraten. Sofort. Morgen.» Fausi kommt aus dem Irak. «Ich besser als Hasan.» Vera mimt die Zögern-de. Hasan schaut verächtlich von den Fleischtöpfen herüber. «Aber heute abend wir probieren zuerst aus.» Fausi schlägt mit der flachen Hand auf die zur lockeren Faust gerollte Öffnung der anderen Hand. Ein internationales Verständigungsmittel. «Wenn gut, dann morgen heiraten.» Fausi ist sympathisch, und Vera lacht. «Du bist lustiger Mensch. Aber du sprechen nur immer von einem. Wer viel davon sprechen, nicht gut darin.» Sie wiederholt mit ihren Händen Fausis Geste.

Die Strassenbeleuchtung ist eingeschaltet, der afrikanische Coiffeursalon gegen-über hat längst geschlossen, das Sexkino Roland erstrahlt in grellem Neon, der abendliche Korso zieht vorbei, Autokolonnen, Spaziergänger, schwatzend und essend, pensionierte Schweizer Männer stehen herum, mit Freizeitjacken und roten Köpfen. In einer Ecke von Hacis Restaurant sitzt seit einer Viertelstunde eine Frau, eine junge Brasilianerin, schluchzt und macht ein Gesicht, als habe ihr der Verlobte eben mitgeteilt, dass er die Verbindung wegen einer anderen auflöse. Alle im Lokal leiden still mit, keiner lässt es sich anmerken, und alle hoffen, dass Hasan bald wiederkommt.

Papi Hasan. Er ist nur kurz mit einem Freund spazierengegangen. Nach einer Ewigkeit taucht er wieder auf. Endlich. Sofort erfasst er die Lage. Er inspiziert zuerst die Küche, dann steuert er auf das Mädchen zu, souverän und ohne Hast. Er setzt sich neben sie, stellt zwei, drei Fragen, hört aufmerksam zu, legt sein Gesicht in kummervolle Dackelfalten, das Mädchen schnieft immer noch, er streichelt ihren Arm, reicht ihr ein Taschentuch, schiebt ein Witzchen nach, nun lächelt sie zum ersten Mal, noch eine kleine Aufmunterung, und sie lacht laut. Keine fünf Minuten hat er gebraucht, um sie zu erlösen, um uns zu erlösen. Er scheint alle Sprachen zu sprechen. «Was war los mit ihr, Hasan?» «Ach, nichts. Andere Mädchen in «Lugano»-Bar haben sie geschlagen.» «Frauen», beschliesst Wirt Haci das Thema, «Frauen immer Streit.»

Um ungestört zu sein, bin ich mit Haci in ein Café um die Ecke gegangen. 1980 haben sie sein Dorf umstellt, beginnt er zu erzählen, es war Militärputsch in der Türkei, die Offiziere sassen in Limousinen, die Soldaten auf Lastwagen. 200 Männer haben sie auf Camions verfrachtet, seinen Vater, ihn selbst, fast alle Männer des Dorfes, Kurden. Somit Mitglieder einer «illegalen Organisation». Er war 18, seine Tochter noch kein Jahr alt, die Frauen blieben allein auf dem Hof. Schafe hatten sie und Nussbäume.

Und dann? «Wir wurden verhört.» Was heisst das? Haci wird es unwohl. Er lehnt sich zurück, streckt die Arme nach hinten, starrt an die Decke. Ich sitze ihm mit einem Notizheft gegenüber und stelle Fragen. Fast eine amtliche Situation. Haci gibt sich einen Ruck. «Wir wurden geschlagen. Mit Holz-, mit Gummiknüppeln. Getreten. Sie haben uns Elektrokabel an alle möglichen Kör-perteile angeschlossen. In kaltes und heisses Wasser getaucht und in die eigene Brühe. Die Arme hinter dem Rücken zusammengebunden und daran aufgehängt. Stundenlang. Du glaubst es nicht? Ins Wasser getaucht und Strom hineingeleitet. So schmerzen die Stösse mehr. Drei Tage Verhör, drei Tage Zelle, dann wieder Verhör. Sechs Monate lang. Sie wollten Namen, Namen. Willst du noch mehr wissen?»

Danach ist Haci ins Gefängnis gekommen. Zuerst nach Kahramanmaras, dann nach Mersin, nach Istanbul. «Oder habe ich einen Ort vergessen? Es sah überall gleich aus», fährt er fort, «überfüllte Zellen, Schläge, kahlgeschorene Mithäftlinge.» Drei Jahre sass er zusammen mit dem Mann von Zeyner, nach zehn Jahren wurde er entlassen. Er war inzwischen 28. Er besorgte sich falsche Papiere, flüchtete mit Frau und Tochter in die Schweiz und erhielt politisches Asyl. Er verstand viel von Landwirtschaft, etwas von kaputten Traktormotoren, aber da war auch noch seine kaputte Gesundheit. Die Bronchitis, das angeschlagene Herz, der Rheumatismus, die kranke Leber, die Schlaflosigkeit. Andenken an die türkischen Gefängnisse. Kein ideales Profil für einen Stellenbewerber.

Als er vor einigen Monaten hörte, dass ein Restaurant frei würde, hielt die Familie Rat. Seine sechs Schwestern führen mit ihren kurdischen Ehemännern Metzgereien und Lebensmittelgeschäfte in Deutschland und in der Schweiz. Die Familie beschloss, Haci das Geld für die Lokalübernahme vorzustrecken, er stieg ins Wirtefach ein. «Die Schweiz ist ein sehr schönes Land», sagt er, «aber es ist nicht unsere Heimat, nicht wahr.» Pläne? Zurück in die Heimat. Zu den Nussbäumen. Sobald es geht. Irgendwann.

Der Rosenverkäufer aus Islamabad wieselt durch den Raum und pflanzt sich vor dem grossen Tisch auf. «Rosen, frische Rosen.» Türkischer Gast: «Wir wollen keine Rosen. Wir wollen Frauen.» Rosenverkäufer: «Ihr denken immer nur an eine Sache. Nicht gut.» Türkischer Gast: «Nicht immer. Nur 80 Prozent.» Rosenverkäufer: «Ich mache Spezialpreis. Vier Rosen für 10 Franken. Nicht 20 Franken.» Mädchen aus Kolumbien: «Rosen sind kaputt.» Rosenverkäufer: «Rosen nicht kaputt. Du kaputt.» Vera aus Polen: «Schenk uns Rose.» Rosenverkäufer: «Du kaufen.» Vera: «Komm, gib Rose.» Rosenverkäufer: «Ich gebe Rose gratis. Du geben Ficki-Ficki gratis.» Vera: «Du bist Arschloch.»

Um 23 Uhr betritt Amina das Restaurant und bestellt Fleisch mit Nudeln. Sie hat heute wieder grossen Hunger, es ist ihre dritte Mahlzeit. Kollegin Sophie aus Kamerun begleitet sie. Die zwei erzählen sich eine Geschichte und scheinen sehr vergnügt zu sein. «Wir lachen», sagt Amina, «obwohl wir unglücklich sind. Wir haben beide dasselbe Problem. Wir haben noch nie geliebt.» Sie schauen sich an und lachen erneut. Ich bin etwas irritiert. «Die Zeit ist gegen uns. Das Alter rückt näher.» Nur keine Panik, will ich sagen, aber Sophie ist schneller. «Ich bin einmal verheiratet gewesen», sagt sie, «mit einem guten Mann, der mich wirklich geliebt hat.» Doch etwas habe sie gestört. «Warum», sagte sie ihm eines Tages, «warum fasst du mich immer an?» «Weil du mich nie anfasst.» Das war ihr gar nie aufgefallen. «Gut», sagte sie zu ihm, «du fasst mich nur noch an, wenn ich dich vorher angefasst habe.» Zwei Monate lang legten sie sich jeden Abend ins Bett, und Sophie hoffte, dass er sich an die Abmachung halten würde. Er tat es, und zwei Monate lang passierte gar nichts mehr. Dann kam die Scheidung, und sie war froh, dass sie wieder in Ruhe schlafen konnte.

«Um mich steht es noch viel schlimmer», kichert Amina und säbelt an einem Stück Lamm. «Spätestens nach einem Monat bin ich bei jedem neuen Freund so weit, dass ich ihn töten könnte, wenn er mir näher als 100 Meter kommt.» Beide kugeln sich vor Lachen. Freundinnen von ihr, berichtet sie weiter, gingen zum Marabu, um die Liebe mittels Magie zu wecken. Aber bei ihr nütze das nichts, denn sie glaube nicht an diese Dinge.

Ich sage: «Vielleicht habt ihr ein zu hektisches Leben. Zu wenig Zeit für euch selber, zu wenig…» Das war feige. Sophie versteht sofort und unterbricht mich: «Nein, ich glaube nicht, dass dies mit unserem Beruf zu tun hat.» Sie habe Freundinnen, im selben Metier wie sie, die sich dauernd verliebten, immer wieder. Auch Amina kennt ein paar solche Fälle. «Vielleicht», überlegt sie, «haben wir zu früh für uns selber schauen müssen. Ich ab 14, Sophie ab 16, immer kämpfen, jeden Tag von neuem.» «Ja, das kann einen hart machen», sage ich, und die beiden lachen wieder los. «Bravo, du sagst es, Schätzchen, das Leben ist hart.» Sie hätten zwar nicht den Eindruck, dass ich mich in der Küche überanstrenge. Wann ich fertig sei mit der Arbeit? Wenn ich wolle, könne ich ihr Marabu sein. Es koste mich allerdings eine Kleinigkeit.

Kurz vor halb eins hasten die letzten Gäste ins Restaurant, um sich ein paar Dosen Bier, eine Portion Bohnen, die letzte Portion Kebab einpacken zu lassen. Nur noch ein Gast sitzt im Lokal, ein Betrunkener. Er mampft an einem Pouletschenkel. Vor zehn Minuten hat er plötzlich zu kauen aufgehört, Schlagseite bekommen, ist seitwärts auf den Boden gekippt, steif wie eine Pappfigur, blieb regungslos liegen und hat zu schnarchen angefangen. Wir haben ihn zurück auf den Sitz gehievt, ihn wach getätschelt, und der Mann hat wieder zu kauen begonnen, als habe er von allem nichts mitgekriegt. Haci lässt ihn in Ruhe fertig essen, obwohl es bereits 20 vor eins ist, aber er hat sein Huhn schliesslich bezahlt. Und jeder kann einmal den Halt verlieren.

Eine Stunde später ist der Grill geputzt, das Buffet poliert, der Boden gefegt. Zwei junge Männer haben Haci geholfen. Sie stammen aus seiner Heimat und sind irgendwie mit ihm verwandt. Einer hat die Musik lauter gestellt, wehmütige Klagen, Liebesschmerz vom Minarett, orientalischer Blues, die Jungen haben mitgesummt, versunken, zu Hause in den Tönen.

Es ist schon fast halb zwei, als Haci auf die Strasse schaut. Draussen herrscht noch reger Verkehr. Er würde sein Lokal gern die ganze Nacht offenhalten, sagt er. Er verstehe nicht, warum hier der Polizeichef bestimme, wann die Leute ins Bett gehen müssten. Er wolle doch nur arbeiten, seine Schulden bezahlen, für seine Kinder eine Zukunft bauen. Und wieder in die Heimat zurückkehren. Irgendwann. ·

Eugen Sorg ist redaktioneller Mitarbeiter des «Magazin», Dominic Büttner freier Fotograf. Beide leben in Zürich.

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