Die Weltwoche / Eugen Sorg

13.09.2007

Das Herz der Utopie

Pol Pots Traum eines kommunistischen Bauernnirwana scheitert. Obwohl das ganze Volk Reis anpflanzen muss, bricht Hunger aus. Der geheimnisvolle Diktator reisst Kambodscha in den Abgrund. Nach seinem Sturz wird er spät noch Vater, bereut nichts und stirbt friedlich. Die Biografie, Teil 2.

Drei Tage nach der Eroberung Phnom Penhs durch die Roten Khmer, am 20. April 1975, traf auch ihr Führer in der Hauptstadt ein. Sein gepanzertes Fahrzeug fuhr durch leere Strassen. Der Erste Bruder ­ unter dem Namen Pol Pot trat er erst im folgenden Jahr auf · verzichtete auf eine Siegesfeier. Er hielt seine Ankunft geheim, nur ein kleiner Kreis wusste um seine Leaderposition in der Kommunistischen Partei.

Der erste Teil des Planes war erfolgreich umgesetzt. «In der ganzen Welt», dozierte der Parteichef den Getreuen mit gewohnt ruhiger, melodiöser Stimme, die nichts von seinem verblendeten Triumph verriet, «ist es noch keinem Land, keinem Volk, keiner Armee gelungen, die Imperialisten bis auf den letzten Mann zu vertreiben und den totalen Sieg zu erringen. Niemandem.» Und der Vollzug des zweiten Teils des Planes war in vollem Gange.

Destination der aus den Städten deportierten Menschenmassen waren die Reisfelder des Landes. Mit dieser Massnahme hatte Pol Pot auf einen Schlag Hunderttausende unter seine Kontrolle gebracht. Sie würden nützliche Verwendung finden in der Schaffung der neuen Ordnung, deren Reichtum auf Reisanbau gründen sollte.

Die Sieger hatten Post-, Telefon-, Telegrafenverbindungen ins Ausland unterbrochen, den Staat faktisch aufgelöst, Universitäten, Schulen, Tempel geschlossen, die katholische Kathedrale und die Nationalbank in Phnom Penh in die Luft gesprengt, und sie erklärten Markt, Privateigentum und Geld für abgeschafft. Zu dieser Zeit gab es weltweit 32 kommunistische oder prokommunistische Regime. Mit einem «extrem wunderbaren, extrem herrlichen, grossartigen Sprung», so Pol Pot, würde Kambodscha alle bisherigen revolutionären Staaten überflügeln und als kommunistisches Bauernnirwana auferstehen. Erste Voraussetzung dazu war, dass die Partei «ihre Führungsaufgabe mit äusserster Gewalt» ausübte. Der pol-potsche Kommunismus, changierend zwischen Delirium und eiskalter Berechnung, zwischen Utopie und Terror, sah sich als etwas völlig Neuartiges, ohne Vorläufer und Buch, sich selber generierend und zu allem berechtigt.

Die Deportierten wurden die «neuen Menschen» genannt. Sie galten als potenzielle Feinde und standen zuunterst auf den Essenslisten und zuoberst auf den Exekutionslisten, im Gegensatz zu den Bauern, den «alten Menschen» oder «Basis-Menschen», denen man mehr vertraute.

Als Erstes mussten die Neubauern einen genauen Lebenslauf schreiben. Die Dorfkader stellten bei entsprechender Ausbildung einen Posten in der neuen Ordnung in Aussicht. Wer in die Falle tappte und sein Studium erwähnte, wurde abgeführt und kehrte nicht mehr zurück. Rund die Hälfte aller Ärzte und Lehrer und insgesamt mehr als die Hälfte aller Hochschulabsolventen wurden getötet. Schnell lernten die Leute, ihre Brillen zu verstecken.

Verbot für Kinderspielzeug

Der Alltag in den Dorfkommunen war trostlos und hart. Nach der langen Arbeit auf dem Feld und einer wässrigen Reissuppe zum Abendessen fanden die Nachtsitzungen statt, wo es um Anbaufragen, rituelle Selbstkritik und ideologische Schulung ging. Männer und Frauen rückten strikt getrennt in schwarzen Einheitskleidern an die Arbeitsfront aus; die Tempel, früher Zentrum des Dorflebens, waren abgerissen oder in Gefängnisse oder Lagerräume umgewandelt worden. Kinderspielzeug und in einigen Landeszonen gar Lachen und Singen waren verboten.

Besonders schwer hatten es die Deportierten. Die ungewohnte körperliche Arbeit setzte ihnen zu, und weil sie kleinere Essensrationen bekamen, litten sie ständig Hunger und wurden anfällig für Krankheiten. Wer nicht arbeitet, isst nicht, hatte Lenin formuliert. Die Roten Khmer gingen einen Schritt weiter. Auch wer wegen Krankheit nicht arbeitet, sagten sie, isst nicht. Krankheit wurde als Feindseligkeit dem Regime gegenüber betrachtet.

Für einen Teil der Basis-Menschen, das Gros der kleinen Bauern, hatte die Anwesenheit der Roten Khmer vorerst keine Verschlechterung gebracht. Sie hatten schon vorher sehr einfach gelebt und wurden vorerst privilegiert behandelt. Erst als die Kader auch bei ihnen zur Totalenteignung ansetzten, gingen sie innerlich auf Distanz und arbeiteten noch weniger, als sie es schon immer getan hatten.

Eine der meistgehassten Neuerungen waren die kollektiven Essen. Die Familien hatten Teller, Töpfe und Pfannen abliefern müssen und durften nur einen Wasserkessel pro Familie und einen Löffel pro Mitglied behalten. Doch verkleinerten sich nicht nur die ohnehin knappen Portionen, weil die Gemeinschaftsköche Essen für sich und Dorfvorsteher abzweigten. Vor allem der Frau wurde eine zentrale traditionelle Aufgabe entzogen, und der Zusammenhalt der Familie geriet weiter unter Druck.

Die Khmerfamilie wird manchmal mit einer Insel verglichen. Selbstversorgend, meist auf eigenem Stück Land lebend, ist sie mit den anderen Familien des Dorfes nur über die Zugehörigkeit zum selben Tempel verbunden. Alle Angelegenheiten autonom entscheidend, über sich nur den Himmel und den fernen Gottkönig, bildet sie einen Sozialorganismus, der als seine natürlichen Verhaltensweisen Individualismus und Egozentrik hervorbringt. Die Massen der Bauern, auserwählt von der Revolution, waren als familiär geeichte Subjekte gleichzeitig deren logische Verneinung.

Selbstverständlich wussten die Parteiführer um diese Tatsache. Sie hatten selber daran gearbeitet, sich von privaten Loyalitäten zu befreien. Vorbild war Pol Pot. Ungerührt ordnete er die Exekutierung enger Freunde an, wenn er es politisch für notwendig hielt. Und als er die Evakuierung der Städte beschlossen hatte, wusste er, dass einige seiner Geschwister in Phnom Penh lebten. Er hatte nichts unternommen, um sie zu beschützen. Sein Lieblingsbruder Chhay sollte auf dem Marsch in die Deportation kollabieren und sterben; ein anderer Bruder, Suong, bei dem Pol Pot als Schüler gelebt hatte, überstand den Transfer und sollte mit Glück die gesamte Herrschaft seines jüngeren Geschwisters in einer abgelegenen Dorfkommune überleben, zusammen mit den Schwestern Roeung und Nhep.

Heirat wurde zur Parteisache

Heirat, traditionell ein Arrangement zweier Familien, wurde zur Parteisache erklärt. Die Dorfkader suchten die Partner aus, und Hochzeiten wurden mit mindestens zehn Paaren veranstaltet, um das Ereignis zu versachlichen und den Primat des Kollektivs herauszustreichen. Nach der ersten Nacht wurden die Paare häufig getrennt. Ein Kader notierte sich die Menstruationsdaten der Frau und führte ihr an den fruchtbaren Tagen den Mann zu. Pol Pot hatte als Plansoll eine Verdreifachung der Bevölkerung auf zwanzig Millionen innerhalb der nächsten zehn Jahre festgelegt.

Nur die Partei, und nicht die Eltern, hatte das Recht, die Kinder zu bestrafen. Diese lebten ab sieben Jahren in Kollektiven und wurden von Instruktoren erzogen und in die Feldarbeit eingeführt. Die Kinder nannten ihre Eltern «Onkel» und «Tante», die übrigen Erwachsenen «Vater» und «Mutter». Der Mann sagte nicht «meine Frau», sondern «unsere Familie». Und niemand durfte mehr «ich» sagen, er sagte «wir». Das war der moralische Kern der pol-potschen Lehre, der jeden ökonomischen, politischen, sozialen Entscheid bestimmte. Es ging um die Eliminierung des individuellen Selbst zugunsten der Organisation. Angkar war alles, der Einzelne nichts.

Todesstrafe für jedes Vergehen

Jeder verstand diese Botschaft, und sie wurde auch auf der untersten dörflichen Stufe umgesetzt. Todesstrafe war die Standardsanktion für alle Vergehen: wenn zwei eine heimliche Liebesaffäre hatten, wenn einer bei der Arbeit unsorgfältig war, wenn jemand eine am Boden liegende Frucht auflas und ass. «Diejenigen, die wir in der Nacht wiederholt beim Aussprechen von schlechten Dingen überraschten», erklärte später ein junger Dorfmilizionär, «wurden mit Knüppeln oder Spitzhacken getötet. Dann wurden sie begraben, und das war es. Kinder wurden auch getötet, wenn sie viele Fehler machten. Ich war mit den Hinrichtungen einverstanden.» Um nichts Falsches zu machen, tötet man lieber einen zu viel als einen zu wenig. «Dich zu behalten, ist kein Gewinn, dich zu zerstören kein Verlust», war ein Leitspruch der roten Milizen.

Pol Pot kümmerte sich um alles. Er bestimmte die Aussenpolitik, überprüfte die Menüs bei Staatsempfängen, legte fest, wer gefoltert werden sollte, wählte die Ansager von Radio Phnom Penh aus, schrieb den Text der Landeshymne. «Leuchtendes rotes Blut bedeckt die Städte und Ebenen von Kampuchea, unserem Mutterland.» Immer war sein Auftreten freundlich, nie benützte er ein böses Wort, und auch wenn er wütend war, blieb sein Gesicht entspannt. «Viele Leute missverstanden das», sagte Ieng Sary später, «er lächelte sein ruhiges Lächeln, und dann wurden sie abgeführt und hingerichtet.»

Gerne verlieh Pol Pot seinen Ausführungen eine rätselhafte Mehrdeutigkeit, und er liebte es, das Gegenüber mit einer Parabel zu überraschen, welche dieser interpretieren sollte. Seine Kader sollten selbständiger denken lernen und ihr «revolutionäres Bewusstsein» entwickeln. Diese grübelten darüber nach, ob sie soeben ihr Todesurteil gehört hätten, und getrauten sich weder nachzufragen noch eine Antwort zu geben. Pol Pot, ständig enttäuscht von seinen Untergebenen, wurde bestätigt in seiner Auffassung, dass er alles selber machen müsse.

Nach seinen genauen Anweisungen wurden auch die Gefängnisse eingerichtet. Das Hauptgefängnis lag im Süden von Phnom Penh, in der ehemaligen Mittelschule von Tuol Sleng. Ultrageheim, mit dem Codenamen S-21, fasste es alle Schrecken des Regimes zusammen. Es war das Herz der Utopie. Die Aufsicht über S-21 hatte Son Sen, Mitglied des Cercle Marxiste und Lehrer, Gefängnisdirektor war Deuch, Mathematiklehrer, Verhörchef der Lehrer Mam Nay. Die Besetzung der Leitung mit Pädagogen garantierte eine zuverlässige Verwaltung und geordnete Abläufe. In S-21 wurden die Regimekader eingeliefert. Pol Pot entschied über die wichtigsten Verhaftungen.

Wer in S-21 eingeliefert wurde, war zum Tode bestimmt. Von den rund 15000 Gefangenen überlebten sieben, durch Zufall. Doch das Töten war nicht der Hauptzweck der Anstalt, sondern die Produktion von Geständnissen. Erst wenn diese zur Zufriedenheit der Verantwortlichen fertiggestellt, in einem Dossier festgehalten und von Pol Pot akzeptiert worden waren, wurden die Gefangenen getötet. Man transportierte sie mit verbundenen Augen zu einer Grube, und nachdem sie sich niedergekniet hatten, zerschmetterte man ihnen mit einer Eisenstange den Kopf und schnitt ihnen zur Sicherheit noch die Kehle durch.

Alle Geständnisse folgten demselben Schema. Die Gefangenen gaben zu Protokoll, entweder für die CIA, den KGB, den vietnamesischen, den thailändischen oder einen anderen feindlichen Geheimdienst gearbeitet zu haben. Und sie zählten Namen ihrer angeblichen Mitverräter auf, Parteigenossen, Freunde, Nachbarn, alle Leute, die sie kannten und die ihnen in den Sinn kamen. Die Aussagen kamen unter zum Teil Wochen dauernder Folter zustande. Die Gefangenen wurden mit Stöcken geschlagen, an den Füssen aufgehängt, an Strom angeschlossen, unter Wasser gedrückt, mit Nadeln gestochen, es wurden ihnen die Fingernägel ausgerissen, sie mussten Fäkalien essen.

Zwischen den Folterungen lagen sie auf dem Boden angekettet in den Zellen ­ die unbedeutenden Insassen in Gemeinschaftszellen, die bedeutenden in winzigen Einzelzellen. Wenn ihre Ketten klirrten, weil sie sich im Schlaf drehten, wenn sie wegen Schmerzen weinten oder wegen Durst oder Hunger stöhnten, wurden sie von den Wächtern, unter ihnen zehnjährige Kinder, geschlagen. Auch das Gefängnispersonal lebte gefährlich. Gelang es einem Gefangenen, Selbstmord zu machen, oder starb er während der Folter, bevor das Geständnis fertiggestellt war, wurde der Wächter getötet.

Es waren auch zwölf Westler in Tuol Sleng, Unglücksraben wie der junge britische Segler, den die Küstenwache der Roten Khmer aufgegriffen und nach Phnom Penh verfrachtet hatte. Er wurde der gleichen mitleidlosen Behandlung unterworfen wie die Kambodschaner, gab zu, ein CIA-Agent zu sein, und endete in der Grube. Der Folter entgingen nur die Kinder der Kaderleute, die zusammen mit ihren Müttern und Verwandten nach S-21 gebracht wurden. Sie wurden gleich zu Tode geschlagen.

Über die Verhältnisse in S-21 war Pol Pot genau informiert. Es war ihm bekannt, dass Gefangenen Blut abgepumpt wurde, bis diese mit einem pfeifenden Geräusch verendeten, und dass dieses Blut in die beiden Geheimspitäler in Phnom Penh, die einzigen des Landes, gebracht wurde, wo die Parteispitzen und die wenigen ausländischen Diplomaten exklusive medizinische Behandlung erhielten. Er wusste natürlich, dass alle Geständnisse unter Folter fabriziert worden waren und glaubte ihnen natürlich nicht. Aber er konnte sie benützen als angeblichen Beweis für Verrat, um Säuberungen zu rechtfertigen.

Vor der Revolution produzierte ein kambodschanischer Bauer jährlich im Schnitt eine Tonne Reis pro Hektare, und das Land exportierte zwischen 200000 und 400000 Tonnen Reis. Pol Pot verkündete als neues Soll einen Ertrag von drei Tonnen Reis pro Hektare. Gegen Ende 1976, nach eineinhalb Jahren pharaonischen Arbeiten eines ganzen Volkes, nach der Erschliessung ausgedehnter neuer Anbauflächen, dem Graben von unzähligen Bewässerungskanälen, wurde nicht nur kein Sack Reis mehr exportiert, sondern es herrschte Hunger in drei Vierteln der Kommunen des Landes.

Einer der Gründe dafür war, dass die Millionen von städtischen Zwangsbauern kaum etwas zur Steigerung der Produktivität beitrugen. Nicht nur unerfahren, waren viele von ihnen auch bald zu schwach, um hart zu arbeiten. Zudem fälschten viele Kader aus Angst vor Bestrafung die Ertragszahlen nach oben. Auf der Basis dieser Angaben bezogen Armee und Administration ihre Anteile, worauf für die Landbevölkerung kaum mehr etwas übrigblieb. Der Hauptgrund für das katastrophale Scheitern des Reiskommunismus aber war die passive Verweigerung des enteigneten Volkes.

Ieng Sarys Frau Thirith hatte nach einem Besuch im Nordwesten des Landes von dem erbärmlichen Zustand vieler Dorfbewohner berichtet. Ihre Erklärung, dass sich «Agenten in unsere Reihen eingeschlichen» hätten, war in Pol Pots Sinn. In verschiedenen Mitteilungen wandte er sich an Parteispitze und Kader. «Verborgene Feinde versuchen, das Volk der Nahrung zu berauben», raunte er düster. Pol Pot hatte die Linie zum Bösen längst überschritten. Er nahm den Hunger zum Vorwand, um eine neue Stufe der Säuberung einzuleiten.

Die Beziehungen mit Vietnam hatten sich sukzessive verschlechtert, und Pol Pot rechnete mit einem Krieg. Viele Parteikader hatten ihre Jahre des Exils im kommunistischen Vietnam verbracht. Pol Pot hatte schon immer an deren Loyalität gezweifelt. Jetzt sah er den Zeitpunkt gekommen, das Problem zu lösen.

Ab dem Sommer 1976 fegte ein Blutsturm durch das Land, der erst ein Jahr später für einen kurzen Moment innehielt. Vier- bis fünftausend Parteimitglieder werden in dieser Zeit getötet, unter ihnen oberste Kader, Kommandanten, ein grosser Teil des intellektuellen Potenzials der Partei. Mit den Kadern und deren Familien wird auch deren organisatorisches Netzwerk bis hinunter auf die Dorfstufe ausgelöscht. Hunderttausend oder mehr Bauern werden erschlagen. S-21 lieferte Pol Pot laufend Geständnisse, mit denen er die nächste Säuberungswelle begründete.

Dreimal im Monat war «Desserttag»

Kurz nach dem Ende der langen, fürchterlichen Kampagne ­ «ein grossartiger Sieg» ­ drangen im September 1977 Rote-Khmer-Einheiten in Vietnam ein, massakrierten über tausend Dörfler und zogen sich wieder zurück. Drei Monate später antwortete Vietnam mit einer Armee von 50000 Mann, die fast ohne Gegenwehr einen längeren Streifen auf kambodschanischem Gebiet besetzte und jeden Roten Khmer tötete, der ihnen in die Hände fiel. Kambodscha brach die diplomatischen Beziehungen mit Hanoi ab ­ «eine grausame und barbarische Aggression» ­, Vietnam, in flagranti auf fremdem Territorium erwischt, zog die Truppen wieder zurück, was als triumphaler Sieg vermeldet wurde.

In den folgenden Monaten verlagerte sich die Machtbalance. China und die USA vereinbarten eine engere Zusammenarbeit, Vietnam reagierte mit dem Beitritt zum Comecon, dem sowjetischen Wirtschaftsblock, was den kambodschanisch-vietnamesischen Scharmützeln eine neue internationale Dimension verlieh. Die Roten Khmer, nur noch von China unterstützt, erfreuten sich der diskreten Hilfe der USA. Vielleicht war es diese Erleichterung, die Pol Pot zu seinen nächsten Schritten veranlasste. Er öffnete im Frühjahr 1978 die Tür zum Ausland einen Spalt. Marxistisch-leninistische Sympathisantengruppen aus dem Westen flogen ein, zwei, drei Journalisten, ein wöchentlicher Touristenflug von Bangkok nach Angkor wurde eröffnet. Kollektivessen war nicht mehr obligatorisch, Nahrungssuche wurde erlaubt, ebenso wie farbige Kleidung oder die Heirat zwischen alten und neuen Menschen, man sollte nicht mehr wegen geringer Vergehen wie Fluchen hingerichtet werden, und dreimal im Monat war «Desserttag», das heisst, die wässrige Reissuppe wurde mit Palmzucker versüsst.

Gleichzeitig lancierte er eine zweite und noch mörderischere Reinigungsoffensive. Die Kader im Osten, wo die Vietnamesen mit Leichtigkeit einmarschiert waren, wurden des Verrats bezichtigt. Zum ersten Mal wehrten sich einige zur Vernichtung bestimmte Einheiten. Sie wurden geschlagen. Als im Dezember desselben Jahres die Vietnamesen einmarschierten, eroberten sie in zwei Wochen das Land. Obwohl Pol Pot schon seit einigen Monaten mit einem Angriff gerechnet hatte, informierte er seine Kommandanten nicht. Er traute keinem ausserhalb des engsten Kreises. Ausgerechnet dieser Tarnungsmanie verdankt es die Welt allerdings, dass sie vom grössten Geheimnis des Regimes, dem Todeslager S-21 erfuhr. Am Morgen des 5. Januars 1979 waren Deuch und seine Mannschaft mitten an der Arbeit, als ihm Nuon Chea, der Zweite Bruder, befahl, das Gefängnis zu schliessen. Die Vietnamesen waren bereits in die Stadt einmarschiert. Er hatte noch Zeit, die Gefangenen umzubringen, aber um die Dossiers zu vernichten, reichte es nicht mehr.

Die Führung flüchtete zur Grenze Thailands, mit ihnen beträchtliche Truppenteile. Fast zwei Jahrzehnte lang, bis zu seinem Tode, sollte Pol Pot mit seinen Roten Khmer noch eine einflussreiche Rolle spielen. Sie wurden weiterhin von China und den USA unterstützt, und auch die Uno hatte Ende 1979 den Sitz Kambodschas in der Weltorganisation der Abordnung des gestürzten Regimes zugesprochen. Die Ungeheuerlichkeiten der Pol-Pot-Herrschaft drangen immer mehr ans Licht, aber die Roten Khmer wurden als Waffe gegen den sowjetischen Expansionsdrang gebraucht und gepflegt.

Ein Tötungsbefehl zu viel

Pol Pot errichtete im Grenzgebiet zu Thailand ein kleines Reich, löste 1981 überraschend die Kommunistische Partei auf, erklärte seinen Verzicht auf den bewaffneten Kampf, entdeckte die Schönheit des Safarianzugs, den er sich in Bangkok schneidern liess, genoss Johnnie Walker Black Label, beschloss, dass er nochmals heiraten und ein Kind haben wollte. Ponnary, seine erste Frau, die keine Kinder haben konnte, war an Schizophrenie erkrankt. Einer seiner Kommandanten liess ihm zwei junge Frauen schicken, und Pol Pot gefiel die grössere, ein kräftiges, gesundes Bauernmädchen namens Meas. Sie war 22, er 60. Die schlichte Hochzeit im Sommer 1985 fiel in die gleiche Zeit wie sein Entscheid, von allen Ämtern zurückzutreten. Im nächsten Frühjahr wurde Tochter Sitha geboren, und der Massenmörder wurde ein liebevoller und geduldiger Vater.

Trotzdem war er die ganze Zeit geheimer Führer der Roten Khmer geblieben. Als 1991 mit dem Ende des Kalten Krieges die Vietnamesen sich aus Kambodscha zurückzogen und die Uno über die Zukunft des Landes verhandelte, bestimmte Pol Pot aus dem Hintergrund die Position seiner Delegation. 1994 gab er den Befehl, den Bürgerkrieg wieder aufzunehmen, massakrierte vietnamesische Bauern und führte ein Regime ein, ähnlich wie in den siebziger Jahren. Er war jetzt siebzig und hatte sich nicht verändert. Zuhause war er der fürsorgliche Vater, der Sitha ihre Lieblingsgerichte kochte, ihr Lesen und Schreiben beibrachte und Khmer-Sagen erzählte; er war der gutmütige ältere Herr, der sich auf das Magazin Paris-Match mit all seinen Bildern von schönen modischen Frauen und luxuriösen Autos freute, das ihm wöchentlich zugesandt wurde, und der umstandslos in die Rolle des eiskalten Vollstreckers wechselte, wie im September 1994, als er drei junge westliche, von den Roten Khmer verschleppte Rucksacktouristen liquidieren liess, weil die Regierung kein genügend lukratives Verhandlungsangebot machte. Den letzten Tötungsbefehl erliess er 1997. Die engsten Getreuen hatten ihn verraten und waren zur Regierung übergelaufen. Er vermutete, dass auch Son Sen, der Mann, der ihm Meas geschickt hatte, in Verhandlungen mit Phnom Penh stand. Pol Pots Leibgarde tötete den Abtrünnigen, seine Frau, dreizehn weitere Familienangehörige und die Hausmädchen.

Dies war ein Befehl zu viel. Pol Pots wichtigster Militärkommandant, der ehemalige Mönch Mok, genannt der Schlächter, liess seinen Vorgesetzten verhaften. Wenn sogar Son Sen getötet wurde, mag er sich gedacht haben, dann könnte es jeden treffen. Ein improvisiertes Dorfgericht verurteilte Pol Pot zu lebenslänglichem Hausarrest. Als er weggeführt wurde, gestützt von Helfern, senkten die Zuschauer ihre Köpfe wie vor einem König.

Am 18. April 1998 starb er friedlich in seinem Bett, sein Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen. Er hat nichts bereut, nur einmal hatte er gemeint, sein Fehler sei gewesen, dass er den Leuten zu sehr vertraut habe. Sein Körper wurde auf einem Haufen Abfall und Autoreifen verbrannt. Mok, heidnisch und roh, sagte einem Reporter: «Jetzt ist er erledigt. Er hat keine Macht, er hat keine Rechte, er ist nicht mehr als Kuhscheisse. Kuhscheisse ist wichtiger als er. Wir können sie als Dünger benutzen.»

Eine längere Version des ganzen Artikels(Teil 1 und 2) auf www.weltwoche.ch

Philip Short: Pol Pot. The History of a Nightmare,John Murray (Publishers) 2004

David Chandler: Brother Number One. A political Biography of Pol Pot, Westview Press 1999

Voices from S-21. Terror and History in Pol Pot’s Secret Prison, Silkworm Books 2000

Buchbesprechung: Eugen Sorg/Nathan Beck:Unbesiegbar. Seite 73

Nach oben scrollen