Die Weltwoche / Eugen Sorg

06.09.2007

Das Lächeln des Bösen

Der Kambodschaner Pol Pot ging als politisches Monster in die Geschichte ein. Der Mann, der sein Land in ein Todeslager verwandelte, hatte ein ausgeglichenes und heiteres Gemüt. Sein Leben wirft die Frage nach den Ursachen des Bösen und der Natur des Menschen neu auf. Die Biografie, Teil 1.

In der Morgendämmerung des 17. April 1975 wurde Phnom Penh, die Hauptstadt Kambodschas, nach monatelanger Belagerung von Guerillaverbänden der Roten Khmer eingenommen. Man wusste kaum etwas über diese, man kannte weder ihre Führung noch ihre Ziele, nicht einmal ihren richtigen Namen. Als Rote Khmer waren sie vom ehemaligen Herrscher Prinz Sihanouk bezeichnet worden, und dieser Name hatte sich durchgesetzt. Trotzdem jubelte die Bevölkerung den Eroberern zu. Jahrelanger Bürgerkrieg und die verheerenden amerikanischen Bombenangriffe auf die durch Kambodscha führenden Nachschublinien des kommunistischen Vietcongs hatten in den Leuten eine alles beherrschende Sehnsucht entstehen lassen: dass endlich Friede einkehre, egal, wer ihn brachte.

Die Guerillas, unter ihnen auch Fraueneinheiten, bewegten sich schweigend in Einerkolonnen durch die Strassen, als seien sie immer noch im Dschungel. Sie trugen schwarze Pyjamas und Blusen ohne militärische Rangabzeichen, einen Krama, den traditionellen Baumwollschal, Sandalen aus rezyklierten Autoreifen, eine Kalaschnikow. Viele von ihnen waren Kinder und Jugendliche, dunkelhäutiges Bauernvolk, aus den entlegensten Gebieten des Landes, das noch nie eine Stadt gesehen hatte. Was die Leute ein wenig irritierte, war, dassdie jungen Partisanen nicht auf die freudigen Willkommensgrüsse reagierten. Ihre Gesichter blieben undurchdringlich, hart, ohne Regung.

Als erste Amtshandlung gaben die neuen Herren noch am selben Nachmittag die Gründung eines «Komitees zur Auslöschung unserer Feinde» bekannt, und sie ordneten an, die gesamte Bevölkerung der Hauptstadt aufs Land zu evakuieren. Fast gleichzeitig begannen die Schwarzgekleideten, Quartiere und Häuser zu durchkämmen. Sie liessen den Leuten wenige Minuten Zeit zum Aufbruch, mitnehmen durften diese nur, was sie tragen konnten. Amerikanische Bombenangriffe stünden bevor, bekamen sie zu hören, wenn überhaupt eine Begründung gegeben wurde, in wenigen Tagen würden sie wieder zurückkehren. Meistens aber beschieden die Bewaffneten nur, Angkar habe es befohlen, Angkar, «die Organisation».

Am nächsten Tag war die Stadt vollständig leer. In endlosen Kolonnen wurden die zweieinhalb Millionen Einwohner Phnom Penhs in verschiedene Richtungen über die Landstrassen getrieben. Man hatte auch die Spitäler geräumt. Wer von den 20000 Patienten zu krank oder zu versehrt war, um zu gehen, wurde noch im Bett erschossen. Wer erst unterwegs in der glühenden Aprilhitze zusammenbrach, wurde am Wegrand getötet und liegengelassen ebenso wie entkräftete Alte oder kollabierende Schwangere. Und systematisch wurden Mitarbeiter des gestürzten Regimes ­ Beamte, Offiziere, Soldaten ­ aus den Menschenzügen aussortiert, auf das nächste Feld geführt und zu Tode geknüppelt. Dieselben Massnahmen wurden in allen anderen Städten des Landes angewendet. In den folgenden Tagen muss es den erschöpften und eingeschüchterten Deportierten immer klarer geworden sein, dass sie nicht so schnell wieder in ihre Häuser zurückkehren würden. Aber kaum jemand konnte ahnen, dass dies bloss der Auftakt war. Die wahre Hölle wartete noch auf sie.

Offizielle neue Machthaberin war die Nationale Einheitsfront von Kambodscha, Funk, unter der Führung von Prinz Sihanouk. Der extravagante Königssohn war fünf Jahre zuvor von seinem Premier Lon Nol, einem mystisch-bauernschlauen und brutalen Militär, mit Billigung der Amerikaner als Staatsoberhaupt abgesetzt worden. Sihanouk, der in der Tradition khmerscher Gottkönige Land und Volk als persönliches Eigentum betrachtete, hatte sich unverzüglich angeschickt, mit allen Mitteln die Macht zurückzuerobern. Unterstützt von China und Nordvietnam, verbündete er sich unter anderen mit den Roten Khmer, die bis dahin mit einigen abgelegenen Dschungelstützpunkten und wenigen getarnt lebenden Anhängern in den Städten, vor allem Lehrern, ein wirkungsloses und gefährdetes Dasein gefristet hatten und eher einer Geheimsekte als einer politischen Kraft glichen. Erst der Pakt mit dem Prinzen, den sie eben noch als Lakaien des Imperialismus verhöhnt hatten, ermöglichte ihnen den Eintritt in die Geschichte.

Mittelalterliche Welt

Gleich nach dem Putsch von Lon Nol im Frühjahr 1970 hatte Nordvietnam eine Armee von 60000 Mann losgeschickt, die in kurzer Zeit grosse Teile Kambodschas unterwarf. Das kommunistische Hanoi befürchtete, dass der neue Mann als Gehilfe Amerikas die sihanouksche Politik des neutralen Wegschauens aufgeben und die für Hanoi wichtigen Waffen- und Truppentransporte unterbinden würde. Eine Gegenoffensive amerikanischer und südvietnamesischer Truppen wurde nach anfänglichen Erfolgen gestoppt. Im Heimatland der GIs war der Druck der Antikriegsbewegung derart gross geworden, dass Präsident Nixon einwilligen musste, seine Soldaten wieder abzuziehen.

Die Nordvietnamesen errichteten in den eroberten Provinzen ein Parallelregime, das in den kommenden Jahren von ihren kambodschanischen Genossen sukzessive übernommen wurde. Zu Beginn hatten die Roten Khmer nicht genügend Kämpfer, um die Gebiete zu verteidigen, noch genügend Kader, um sie zu verwalten. Der nun offen ausgebrochene Bürgerkrieg und die Brutalitäten der vorerst im Land verbliebenen Südvietnamesen trieben ihnen jedoch Leute zu; vor allem aber profitierten sie davon, dass sie unter der Flagge des gestürzten Prinzen agierten.

Die mehrheitlich bäuerische Bevölkerung lebte in einer mittelalterlichen Welt, dominiert von Traditionen und dem Glauben an Geister und Dämonen. Der Sturz des Prinzen und die von Lon Nol verfügte Auflösung der Monarchie waren für viele kein politisches Geschehen, sondern eine kosmische Katastrophe. Wie sollten sie ihre Reisfelder unterhalten, jetzt, wo der Prinz vertrieben war und nicht mehr für Regen sorgen konnte? Die Bauern überliessen ihre Söhne als Soldaten den Roten Khmer, die angeblich für die Wiederherstellung der göttlichen Ordnung kämpften. Verfügten diese 1970 über rund 1500 Kämpfer, so befehligten sie bereits zweieinhalb Jahre später eine Armee mit 32000 und Guerillaeinheiten mit 100000 Angehörigen.

Während Sihanouk in der Welt herumreiste und für die diplomatische Anerkennung seiner Funk, seiner Nationalen Einheitsfront, warb, baute zu Hause die Khmer-Führung ihre Vormacht aus. Der Prinz war gerade in Nordkorea, als Phnom Penh eingenommen wurde. Die siegreiche Funk, dieses Bündnis «patriotischer» und «progressiver» Kräfte, wie es für die Aussenwelt unverfänglich bezeichnet wurde, war vollständig unter Kontrolle der Roten Khmer. Sihanouk war immer nur deren Feigenblatt gewesen, ohne Einblick oder gar Einfluss. Wenn Guerillas oder Funktionäre Befehle erteilten, Verhaftungen vornahmen oder Tötungen ausführten, beriefen sie sich nie auf die Funk, sondern auf Angkar, auf die «Organisation». Angkar verkörperte das neue Regime, einen allmächtigen, unpersönlichen, mysteriösen Apparat, der seinen Vertretern, gleich, ob analphabetischer Kindermilizionär oder entrücktes Kader, die Aura des Schreckens verlieh und ihren Anweisungen den unwiderruflichen, mitleidlosen und rätselhaften Charakter eines Gottesurteils.

Hinter Angkar stand die Kommunistische Partei Kambodschas (KPK), geführt von einer Handvoll Männer und charakterisiert durch obsessivste Geheimhaltung. Die Partei verbarg die Tatsache ihrer Existenz auch nach ihrem Sieg, und ein ausgeklügeltes System der Verstellungen und Tarnungen sorgte dafür, dass sogar die meisten der wenigen Eingeweihten im Unklaren blieben darüber, wer wirklich an der Spitze stand. Als im Frühling 1976 nach nationalen Scheinwahlen das Demokratische Kampuchea, wie das Land fortan hiess, der Welt die neue Regierung und ihren Premier Pol Pot, einen «Gummiplantagen-Arbeiter», präsentierte, hatte ausser den engsten Vertrauten noch nie jemand von diesem Mann gehört. Die Mitteilung war ein Lüge, wie alles, was die Organisation je öffentlich geäussert hatte oder noch äussern sollte. Exil-Kambodschaner lüfteten ein Jahr später die Identität des Premiers. Sie hatten ihn auf einem Foto in einer chinesischen Zeitung wiedererkannt: Pol Pot war ein ehemaliger Lehrer aus Phnom Penh, 52 Jahre alt, sein richtiger Name war Saloth Sar.

Seit zwei Jahrzehnten wirkte er unter verschiedensten Alias: Pouk, Hay, Pol, «87», Grosser Onkel, Älterer Bruder, Erster Bruder. Den Namen Pol Pot nahm er an, als er entschied, für das Amt des Premierministers zu zeichnen. Es war das erste Mal, dass er in die Öffentlichkeit trat. Dass er trotzdem einen Decknamen verwendete, war der eingeätzte Reflex desjenigen, der bisher im Versteckten gelebt hatte. «Je öfter du deinen Namen änderst», sagte er einmal, «desto besser. Es verwirrt den Feind.»

Barfüssige-Reisbauern-Kommunismus

Saloth Sar alias Pol Pot war das Hirn und die Seele der Partei. Er war Angkar. Zwar hatte er vier oder fünf Mitverschwörer, zumeist Freunde aus den Studententagen in Paris, später Mitglieder des Ständigen Komitees der Partei, die alles wussten und loyal mittrugen, was er tat. Doch es war Pol Pot, der die Pläne und Programme niedergeschrieben hatte · von der Einheitsfrisur für die Frauen bis zur Auslöschung der städtischen Lebensform zugunsten eines Barfüssige-Reisbauern-Kommunismus, die sein Land zu einer «Insel der Reinheit», zum «kostbaren Modell für die Menschheit» machen sollten. In den Besonderheiten des kambodschanischen Kommunismus ­ Geheimhaltung und Täuschung bis zur Selbstzerstörung und eine utopistische Radikalität, die lächelnd jede menschliche und zivilisatorische Grenze unterschreitet ­ spiegelten sich die Vorlieben seines Erfinders.

Die Partei funktionierte als gigantischer Vollstrecker von Pol Pots Fantasien, die sich nach der kurzen Euphorie des Sieges zum kalten Verfolgungsrausch wandelten, der eine schnell wachsende Zahl von «Volksfeinden» und schädlichen «Mikroben» aufspürte und auszumerzen versuchte. Als das Regime der Roten Khmer im Januar 1979 nach weniger als vier Jahren von einer vietnamesischen Invasionsarmee verjagt wurde, war von den ursprünglich 7,5 Millionen Kambodschanern etwa ein Viertel tot ­ erschlagen, verhungert, an Mangelkrankheiten verendet. Das 20. Jahrhundert, das Chancen hat, als Jahrhundert des Genozids in die Geschichte einzugehen, konnte nach Stalin, Hitler, Mao mit Pol Pot eine weitere Figur in seine Galerie der politischen Massenmörder aufnehmen.

Das aufgeklärte Denken reagiert auf schreckliche Dinge, wie sie in Kambodscha passierten, indem es nach den Umständen fragt, die all das Böse möglich gemacht hatten. Deren gab es viele: Armut, Unwissen, eine besonders subjektfeindliche Form des Buddhismus, Bürgerkrieg, kulturelle Tradition der Grausamkeit und der Xenophobie, koloniale Vergangenheit, amerikanische Bombenangriffe, Geld und Waffen aus China, ideologische Verblendung, Paranoia und Machtbesessenheit der Führung etc. Die Ursachenfokussierung wird vom Kernmythos der wissenschaftlichen Moderne beflügelt: Das Böse hat keine eigene Existenz, es ist kein moralisches Fatum, es ist lediglich das Ergebnis einer bestimmten Situation, in der die Menschen leben und die sie verändern können.

Doch die Umstände liefern keine ausreichende Erklärung. Andere Länder hatten ähnliche Bedingungen wie Kambodscha, aber sie brachten keine Killing Fields hervor. Den Unterschied machte das Wirken einer Persönlichkeit wie Pol Pot. War aber Pol Pot unvermeidlich, eine fatale historische Notwendigkeit, geboren aus der Zerrissenheit und den gewalttätigen Geheimnissen seines Landes? Nein. Wäre er als junger Mann gestorben, hätte die Geschichte Kambodschas ziemlich sicher einen anderen Verlauf genommen. Hätte ein anderer an seinem Platz dieselbe Politik betrieben? Unwahrscheinlich. Gibt immerhin die Biografie Hinweise auf Erlebnisse, Charakterdefekte, Prägungen, die eine Entwicklung von Sar zum «mondgesichtigen Monster» vorgebahnt haben könnten? Das Ergebnis ist faszinierend und widerspricht den Gewissheiten unseres postreligiösen Menschenbildes.

Das Böse braucht offenbar keinen Grund, keine Ursprungsdemütigung, keinen kranken Persönlichkeitskern. Es ist stärker als die Umstände, und es lebt in jenem winzigen Zwischenraum der Freiheit, der jedem Menschen gegeben ist und der ihm die Wahl überlässt, sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden. Dies meinte auch der abgründige französische Anwalt Jacques Vergès, der in den fünfziger Jahren mit der künftigen Roten-Khmer-Führung befreundet war, als er formulierte, was den Menschen vom Tier unterscheide, sei das Verbrechen. Wann sich Saloth Sar entschieden hat, Pol Pot zu werden, kann niemand beantworten. Sicher ist aber, dass es sein Entscheid war. Es gab nichts, was ihn dazu gezwungen hätte. Er hatte alle Voraussetzungen für ein gutes Leben.

Sar kam 1925 in Prek Sbauv zur Welt, einem Dorf im Zentrum Kambodschas. Sein Vater war ein wohlhabender Reisbauer, die Mutter eine wegen ihrer Hilfsbereitschaft beliebte Frau. Die Familie hatte Verbindungen zum königlichen Palast. Eine Tante hatte einen Posten im Haushalt von König Norodom bekommen, und ihre Tochter, Mitglied des Hofballetts, wurde von Thronfolger Monivong als königliche Konkubine auserkoren und gebar ihm später einen Sohn. Die Cousine verschaffte Sars ältestem Bruder Suong einen Posten als Palastoffizier, und bald zog auch Sars ältere Schwester Roeung an den Hof. Sie war 16, ebenfalls Mitglied des Balletts und bald ebenfalls eine von Monivongs Konkubinen.

Glückliche Kindheit

Sar ­ sein Name bedeutet «weiss», er hatte ihn wegen seiner hellen Gesichtsfarbe bekommen ­ war das zweitjüngste von neun Geschwistern und erlebte eine glückliche Kindheit. Die Tage verbrachten sie draussen, schlichen Elefantenherden nach, ritten auf Wasserbüffeln, fingen Fische, spielten im Fluss. Wenn es dunkel wurde, befand sich die Familie im offenen, einzigen Raum des Stelzenhauses und der Grossvater erzählte alte Khmer-Legenden.

Mit neun schickten die Eltern Sar für ein Jahr nach Phnom Penh in ein buddhistisches Kloster. Die Einführung in die religiöse Überlieferung und in die rigide Disziplin mönchischer Lebensführung, wobei man nebenbei auch noch lesen und schreiben lernte, gehörte zur traditionellen Ausbildung und blieb für die meisten Kinder die einzige. Sar hingegen, der später nie die Palast-Verbindungen seiner Familie erwähnen sollte, aber immer wieder liebevoll von der Zeit im Kloster erzählte, wechselte 1935 an die Ecole Miche, ebenfalls in Phnom Penh, wo vietnamesische und französische Priester auf Französisch unterrichteten.

Alle, die den jungen Sar gekannt hatten, erwähnten sein angenehmes Wesen. Er hatte nie Streit, war höflich, lustig, «ein Junge, mit dem man gerne zusammen war», wie es ein ehemaliger Schulkollege ausdrückte. Er redete nicht viel, hatte aber immer ein Lächeln im Gesicht, «Sars berühmtes Lächeln», wie sich ein anderer Jugendfreund erinnerte, und mit kleinen Scherzen zauberte er eine heitere Atmosphäre der Unbeschwertheit herbei. Er hatte die Gabe, mit den verschiedensten Leuten in eine spontane Verbindung zu treten, so dass alle ihn sofort mochten. «Keinem Hühnchen hätte er was zuleide tun können», sagte sein Bruder Suong, «der verabscheuungswürdige Pol Pot war ein liebenswertes Kind.» Weniger Talent zeigte er als Schüler. In der Ecole Miche blieb er zweimal sitzen, fiel 1943 durch die Aufnahmeprüfung für das angesehene Lycée Sisowath, wich in eine Internatsschule in einer anderen Stadt aus, wurde 1947, mittlerweile 22-jährig, doch noch im Lycée Sisowath aufgenommen, prüfungsfrei, scheiterte ein Jahr darauf an den Zwischenprüfungen und wechselte an eine technische Fachschule im Norden von Phnom Penh. Er wählte das Fach Schreinerei und machte ein Jahr darauf das Diplom. Es sollte die einzige Abschlussprüfung bleiben, die er bestand.

In der Zwischenzeit hatte sich Grosses ereignet. Der Zweite Weltkrieg hatte stattgefunden, die Kolonialmacht Frankreich war von Deutschland besiegt worden, und in der ganzen Welt begannen sich nationale und kommunistische Bewegungen gegen ihre weissen Kolonialherren aufzulehnen. Sogar Kambodscha war vom antifranzösischen Fieber erfasst worden, Paris sah sich kurz nach Kriegsende gezwungen, eine Verfassung und Parteien zuzulassen. Eine davon, die Demokratische Partei, war sehr populär. In ihr engagierten sich junge Kollegen und Freunde von Sar, zum Beispiel Ieng Sary, ein intelligenter Student des Lycée Sisowath.

Aber Sar war gänzlich uninteressiert an Politik, er schien kaum wahrzunehmen, was sich in der Welt ereignete. Er scherzte mit den Freunden, mochte Fussball, besuchte seine Schwester im Palast, träumte sich durch die Zeit. Gegen Ende seiner Schreinerausbildung verliebte er sich in ein Mädchen namens Maly. Ihre Mutter war eine Prinzessin, und Maly war so hübsch, dass sie den Übernamen «Beauty Queen» hatte. Sie wurde seine Freundin, aber bald trennte sich das junge Paar wieder. Sar war in den Genuss eines der Auslandstipendien für Paris gekommen, die Sihanouk, mittlerweile König, seit kurzem gewährte. Kaum mehr als 220 Studenten hatten seit Jahrhundertbeginn das Land zu Weiterbildungszwecken verlassen. Frankreich hatte die höhere Ausbildung seiner kolonialen Subjekte völlig vernachlässigt. Am 31. August 1949 bestieg Sar mit den 20 anderen Stipendiaten in Saigon einen Dampfer und kam vier Wochen später in Paris an.

Er schrieb sich an einer Fachschule für Radioélectricité ein und fand sich schnell zurecht. Häufig nahm er an Veranstaltungen der Association des Etudiants Khmer (AEK) teil. Er galt als Bonvivant, ohne besondere Fähigkeiten, etwas ziellos, aber sympathisch. Die Prüfung am Ende des ersten Jahres bestand er knapp im zweiten Anlauf.

Irgendwann im zweiten Jahr seines Aufenthalts begann er sich zu verändern, und er gab seinem Leben eine Richtung. Aktivisten der AEK hatten eine regelmässige Debattierrunde zur Politik ins Leben gerufen. Die Teilnehmer waren sich darin einig, dass Kambodscha von den Franzosen befreit werden müsse, aber wie und durch wen, darüber stritt man sich. Einige der Studenten hatten sich zunehmend nach links entwickelt. Sar nahm auch teil, vor allem weil er die Geselligkeit schätzte. Die meisten anderen waren intellektuell gewandter als er, meistens schwieg er, trotzdem hörte er immer aufmerksamer zu.

Bald gründeten die Linken der Runde einen neuen, geheimen Kreis, den «Cercle Marxiste». Wer sich in den Diskussionen als ideologisch lernfähig und zuverlässig erwiesen hatte, wurde individuell angegangen und eingeladen. Der Cercle organisierte sich in Zellen von drei oder sechs Leuten, nur einer hatte Zugang zur Führung, niemand wusste, wie viele Zellen es gab und wer zu den anderen Zellen gehörte. Drei Studenten, unter ihnen Ieng Sary, bildeten das Führungskomitee. Sie unterhielten mittlerweile engen Kontakt mit der erzstalinistischen Kommunistischen Partei Frankreichs und mit kommunistisch unterwanderten französischen Studentenorganisationen. Ende 1951 wurde auch Sar in den Kreis aufgenommen. Der Cercle war das Urmodell von Angkar, die wichtigsten späteren Führer der Roten Khmer waren in ihm versammelt und entwickelten die weltanschaulichen und mentalen Grundlagen ihrer politischen Praxis.

Sie kämpften sich durch die Pflichtlektüre kommunistischer Novizen. Sar gestand später, als er die «grossen, dicken Werke von Marx gelesen habe […], habe ich sie nicht alle wirklich verstanden». Aber das Gefühl, die Türe zu einem höheren Wissen aufgestossen zu haben und Teil einer weltumspannenden Bewegung zu sein, verlieh ihren Mühen Sinn und ihnen selbst das erhebende Gefühl der historischen Auserwähltheit. Leichter zu verstehen als Marx oder Lenin, so Sar weiter, seien die Schriften von Stalin und Mao gewesen. «Um siegreich zu sein», hatte der russische Diktator geschrieben, «müssen wir als erstes die Partei der arbeitenden Klasse und ihre Festung, ihre Führung im Hauptquartier von Kapitulationisten, Deserteuren, Kriminellen und Verrätern säubern.» Die einzige Antwort auf diesen «Bodensatz der menschlichen Spezies» sei «mitleidlose Unterdrückung». Und in einem Traktat von Mao, der vor kurzem in China die Macht erobert hatte, hiess es: «Wer immer sich der Kommunistischen Partei entgegenstellen will, muss sich darauf vorbereiten, dass er zu Staub zermahlen wird.»

Sar war wie andere Mitglieder des Cercle der französischen KP beigetreten und schrieb seinen ersten Artikel. Unter dem Pseudonym Khmer Daeum, Alter Khmer, attackierte er Sihanouk und die Monarchie. Sihanouk hatte mit Hilfe der Franzosen die Regierung entlassen und sich als Premier eingesetzt. Die Monarchie, klagte Sar an, würde das Volk «auf die Stufe von Tieren» reduzieren. Die Demokratie hingegen, pries er, sei «unbezahlbar wie ein Diamant». Demokratie bedeutete in der Sprachregelung der Stalinisten damals Kommunismus. Der Cercle diskutierte heftig, welche der Gruppen, die gegen den König und die Franzosen einen bewaffneten Aufstand lanciert hatten, man unterstützen solle. Man beschloss, einen Emissär in die Heimat zu schicken, der die Lage analysieren sollte. Sar bot an, dies zu übernehmen. Das Stipendium war ihm gestrichen worden, er war durch die zweite Prüfung geflogen. Die Gruppe, die Sars Fähigkeit kannte, Kontakte herzustellen, willigte ein. Anfang 1953 war er wieder in Phnom Penh. Er hatte zum ersten Mal eine Aufgabe und ein Ziel.

Sehnsucht nach Maly

Sein nächstälterer Bruder Chhay, ein intellektueller Kopf, Herausgeber einer republikanischen Zeitung, war Repräsentant einer der nichtkommunistischen Rebellengruppen. Er brachte Sar mit seiner und anderen, politisch ähnlich ausgerichteten Gruppen zusammen. In seinem Bericht nach Paris schrieb danach Sar, die einen seien «simple Briganten» und die anderen behaupteten, sie kämpften, «tun aber nichts». Vielversprechend seien nur die kommunistischen Khmer Viet Minh, kambodschanische Rebellen. Er hatte sie zwar noch nicht kennengelernt, machte sich aber bald danach, zusammen mit einem Freund aus dem Cercle, zu ihnen in den Dschungel auf.

Der fast einjährige Aufenthalt in den «befreiten Zonen», den von den Viet Minh kontrollierten Gebieten entlang der vietnamesischen Grenze, konkretisierte und härtete Sars neue Weltsicht. Er musste feststellen, dass die Rebellenbewegung vollständig von den Vietnamesen kontrolliert war. Kein Kambodschaner war in einer leitenden Funktion, nicht einmal für Botendienste wurden sie eingesetzt. Die vietnamesischen Kommunisten verfolgten rücksichtslos ihre eigenen Interessen. Sar wurde klar, dass es notwendig sein würde, sich unabhängig von ihnen zu machen. Das hiess nicht, dass man nichts von ihnen lernen konnte.

In Paris hatten sich Sar und die Freunde berauscht an der Revolutions-, Einheits- und Siegreiche-Volksmassen-Rhetorik der marxistischen Autoren. Die erfahrenen Vietnamesen zeigten, wie die Praxis aussieht. Sie operierten mit kleinen, bewaffneten Propagandaeinheiten, die in den Siedlungen das Vertrauen «progressiver Elemente» zu gewinnen suchten, vorsichtig, hilfsbereit und geduldig, bis eine solide Kerngruppe aufgebaut, der Ort mit Gewalt befreit und die alte Dorfführung, die «Feudalherren» und «Kapitalisten», liquidiert werden konnte. Weigerte sich die Bevölkerung zu kooperieren, wurde sie massakriert und das Dorf abgebrannt, als Warnung für die anderen. Mit dieser Mischung aus Zuwendung, Indoktrination und Terror hatten sie grossen Erfolg. Sar merkte sich die Lektion.

Eines der Mitglieder des Cercle Marxiste hatte später gemeint, Sar sei nur nach Phnom Penh zurückgekehrt, weil er Sehnsucht nach der schönen Maly gehabt habe. Tatsächlich begann er sich wieder um sie zu bemühen. Wenn er sie einlud, fuhr er, elegant gekleidet, im schwarzen Citroën vor, den er bei seiner Schwester Roeung, der königlichen Ex-Konkubine, ausgeliehen hatte. Es standen die Wahlen von 1955 bevor, und er erzählte ihr, dass er für die Demokratische Partei arbeite. Sie ging davon aus, dass er nach einem Wahlsieg einen wichtigen Posten in der Regierung einnehmen würde und sie heiraten könnten.

Sar lebte aber bereits seine Doppelexistenz. Eine verschworene Gruppe um die zurückgekehrten Cercle-Leute hatte beschlossen, sowohl die Demokraten zu infiltrieren als auch mit einer von ihnen gelenkten, aber getarnten Frontpartei an den Wahlen teilzunehmen. Sar wurde bestimmt, einerseits auf der «legalen» Seite als Berater für die Demokraten zu arbeiten, andererseits die verdeckte Strategie zu koordinieren. Zu diesem Zweck logierte er unter einem anderen Namen in einer Hütte in einem Armenquartier, wo er unbemerkt Besucher empfangen konnte. Mit Geschmeidigkeit wandelte er sich vom Slumbewohner zum Dandy und von diesem zum seriösen Politauguren.

Die Demokraten verloren die Wahlen, worauf Maly sich umgehend von Sar trennte und die zweite Ehefrau eines der mächtigsten Politiker des Landes wurde, des meistgefürchteten Feindes der Linken. Sar tat sich nach dem Verrat von Maly mit einer Genossin zusammen, mit Khieu Ponnary, der älteren Schwester der Frau von Ieng Sary. Sie bildeten ein ungewöhnliches Paar. Ponnary war fünf Jahre älter als der gutaussehende, charmante dreissigjährige Sar, und ihr Gesicht war vernarbt als Folge einer Pockenerkrankung in ihrer Kindheit. Sie kleidete sich unauffällig, schmucklos, benützte keinen Lippenstift. Aber sie war intelligent, und er konnte sich unbedingt auf sie verlassen.

Als erstes Mädchen des Landes hatte sie die Matura gemacht, und in der Untergrundstruktur der Kommunisten fungierte sie als klandestine Verbindungsperson zwischen den Viet Minh und Phnom Penh. Die beiden heirateten in seinem Dorf in einer traditionellen, dreitägigen Zeremonie, mit buddhistischen Mönchen, Gesängen und Weihrauchkesseln.

Was, wenn die Demokraten die Wahlen gewonnen hätten und Maly bei ihm geblieben wäre? Wäre aus Sar nicht Pol Pot geworden, sondern ein Staatsmandarin, vermögend, korrupt, gut gelaunt? Welcher war der richtige Sar, welcher nur eine Maske? Die Natürlichkeit, mit der er in die verschiedenen Rollen schlüpfte, legt nahe, dass in jeder ein Teil seiner Persönlichkeit steckte. Andererseits fällt es schwer, sich vorzustellen, dass er übergangslos vom ergebenen Kommunisten zum prinzipienlosen Beamten mutiert wäre. Die Kaltblütigkeit, mit der er den Terror der vietnamesischen Genossen gegenüber der Bevölkerung beurteilt hatte, zeigt, dass er an seinem in Paris eingeschlagenen Weg festhalten wollte.

In den folgenden Jahren führte er sein Doppelleben fort, aber mit einer neuen öffentlichen Rolle. Er unterrichtete Geschichte und französische Literatur an einem privaten Gymnasium. Wieder erfüllte er die Aufgabe perfekt. Der gescheiterte Radioelektriker erwies sich als begnadeter Lehrer. Alle Erinnerungen ehemaliger Schüler beschreiben ihn übereinstimmend als «redegewandt», «bescheiden», «ehrlich», «menschlich». Ein Ehemaliger, der Schriftsteller Soth Polin, sagte: «Ich erinnere mich gut an seinen Vortragsstil auf Französisch: sanft und musikalisch. Er war offensichtlich der französischen Literatur sehr zugetan, im Speziellen der Poesie: Rimbaud, Verlaine, de Vigny. Die Sätze brachen aus ihm heraus, er sprach ohne Notizen, ein wenig nach Worten suchend, aber nie den Faden verlierend, seine Augen halb geschlossen, fortgetragen vom lyrischen Fluss seiner Gedanken. Die Studenten waren bezaubert von diesem Lehrer, der so zugänglich war.»

In seinem zweiten, geheimen Leben arbeitet er für die revolutionäre Sache. Die Franzosen hatten sich 1954 aus Indochina zurückgezogen, schleichend abgelöst durch die Amerikaner, während Sihanouk sein Land aus dem Krieg in Vietnam heraushalten wollte, indem er sich mit den Kommunisten in Nordvietnam und China gut stellte, die Kommunisten zu Hause aber unbarmherzig verfolgte. Sar und seine Genossen schwankten zwischen einer Politik der Legalität mit Deckorganisationen und einer Politik des bewaffneten Aufstandes. Die Loslösung aus der vietnamesischen Bevormundung kam vorläufig nicht in Frage, die Partei serbelte dahin und drohte zu implodieren. Immerhin kam es 1960 zu einer geheimen Neugründung, mitten im Herzen von Phnom Penh, mit ausschliesslich kambodschanischer Führung: Arbeiterpartei von Kampuchea.

Fantasien aus dem Dschungel

Sar wurde Mitglied des Ständigen Komitees. Unter den Eingeweihten nannte man ihn scherzhaft «Matratze», wegen seiner Fähigkeit, Konflikte zu schlichten, so dass alle weich landeten. Als zwei Jahre danach der Parteiführer Tou Samouth, der als Arbeiter getarnt im Süden der Hauptstadt lebte, vom Geheimdienst entdeckt und getötet wurde, rückte Sar nach. Er hatte die ihm intellektuell überlegenen Kameraden aus dem Cercle alle überholt.

Ab 1963 lebte Sar im Dschungel. Sihanouk hatte eine Liste mit 34 Namen von bekannten oder verdächtigten Linksaktivisten veröffentlichen lassen. Ausser einem waren sämtliche Führungsmitglieder der Partei aufgelistet, auch Saloth Sar. Zum ersten Mal war seine Camouflage aufgeflogen. Sofort tauchte er ab.

Ausser für drei Besuche in Hanoi, nach wochenlangem Fussmarsch auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad, und einen Besuch in Peking verliess er seine Waldfestungen sieben Jahre nicht mehr. Er schuf sich eine kleine Leibgarde, zähe, treuergebene Angehörige des Dschungelstammes der Jarai, denen er mehr vertrauen sollte als den eigenen Khmer. Ansonsten hatte er nur Kontakte zu den wenigen Kader, die ebenfalls geflüchtet waren. Der Erste Bruder, abgeschieden und machtlos, in malariaverseuchten Lagern, hatte viel Zeit, um Pläne für eine perfekte Zukunft zu entwerfen.

Die vielleicht drei Millionen Menschen, die ein Jahrzehnt später, am 17. April 1975, von bewaffneten Halbwüchsigen aus ihren Städten getrieben wurden und während Wochen oder Monaten im Freien unterwegs waren, in kaum endenden Kolonnen, hungernd und terrorisiert, wussten nicht, dass sie den Fantasien gehorchten, die ein einziger Mann in einem Dschungelversteck für sie ausgebrütet hatte.

Lesen Sie nächste Woche Teil 2: Der Plan war perfekt, aber die Menschen nicht. Pol Pot hält am Plan fest und beginnt mit verheerenden Säuberungen. Nach vier Jahren wird sein Regime gestürzt. Pol Pot verzieht sich in den Dschungel und stirbt erst 1998, friedlich in seinem Bett.

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