Die Weltwoche / Eugen Sorg

21.06.2007

Gott und Trieb

Seit 17 Jahren existiert in Somalia kein Staat mehr. Die Regierung wird zwischen kriegerischenClans zerrieben. Sie überlebt nur dank äthiopischen Panzern. Wer in der Hauptstadt Mogadischunicht kämpft, redet über Frauen und kaut Rauschkraut.

Als die Maschine auf der Landepiste des Flughafens von Mogadischu endlich aufsetzt, glaubt man einen Seufzer der Erleichterung von den wenigen Passagieren zu hören. Vor einer Woche ist eine russische Frachtmaschine über der somalischen Hauptstadt von Clankriegern abgeschossen worden. Und heute Morgen, kaum waren wir im kenianischen Nairobi gestartet, sind wieder Kämpfe in Mogadischu ausgebrochen. Das hat ein Passagier von seinem Sohn erfahren, den er vor einer Stunde vom Flieger aus angerufen hat.

Wir sind nur sechs Personen, die von Bord gehen. Ich bin unter anderem hergereist, um diejenigen Leute wieder zu treffen, die ich bei meinem letzten Besuch in Mogadischu vor drei Jahren kennengelernt habe (siehe Weltwoche 15/2004). Sind sie noch in der Stadt? Ist Hassan, der freelance gunman und Liebhaber der Rapmusik Tupacs, noch am Leben? Oder Bashir Rage, Warlord und Besitzer der Camel Company: Im Internet habe ich gelesen, dass er Anfang 2006 mit anderen militanten Geschäftsmännern die «Allianz für die Wiederherstellung des Friedens und gegen den Terrorismus» gegründet habe. Die Allianz sollte den wachsenden Einfluss der Union Islamischer Gerichte (UIC) bekämpfen und international gesuchte Terroristen im gesetzlosen Dickicht von Mogadischu aufstöbern, liquidieren oder den Amerikanern ausliefern. Bashir Rage sei der «beste Mann der CIA in Mogadischu», hiess es halb verächtlich, halb bewundernd.

Als die Milizen der UIC im darauffolgenden Juni die Hauptstadt und Teile des Landes eroberten, konnte Rage im letzten Moment entkommen. Zusammen mit WarlordKollege Muse Sudi flüchtete er auf einem kleinen Boot ins Meer hinaus. Was weiter geschah, ist unklar. Die einen sagten, er sei von einem amerikanischen Kampfboot aufgefischt worden. Andere behaupteten, er sei weiter nördlich wieder an Land gegangen und im Stammesgebiet untergetaucht. Ist er zurück in Mogadischu, nachdem die Islamisten Ende 2006 nach sechs Monaten Herrschaft wieder vertrieben worden waren?

Ein Angestellter des Hotels «Global» erwartet mich am Rollfeld. Der zirka 30-Jährige, der sich als Bile vorstellt, ist dünn wie eine Giacometti-Figur, hat ein raubvogelartiges Gesicht und ist von einer nervösen Wachheit. Die Ankunft unserer Maschine hat eine unbeschreibliche Hektik unter den Wartenden ausgelöst. Bile schleust mich im Eiltempo durch das Chaos aus schreienden und fuchtelnden Menschen, organisiert für mich Formulare und Einreisestempel, kann aber offenbar nicht verhindern, dass ein Mann, der sich als Chef der inneren Sicherheit ausgibt, meinen Pass beschlagnahmt, den ich erst nach einigen Tagen gegen Finanzierung eines Bündels des Rauschkrauts Khat wieder würde auslösen können.

Das «Global», im Norden der Stadt gelegen, war mir von einem somalischen Bekannten empfohlen worden. Es sei gut bewacht, hatte er gemeint, weil etliche Mitglieder der Übergangsregierung dort wohnen würden. Im gleichen Hotel abzusteigen wie jene Politiker, die eine bevorzugte Zielscheibe von Anschlägen feindlicher Clans sind, schien mir zwar nicht die optimale Idee zu sein. Und die Regierungssoldaten, denen ich auf dem Weg dorthin begegne, sehen auch nicht aus, als wären sie bereit, ihr Leben für den Staat zu opfern.

In zusammengestückelten Uniformen und mit von Khat glasigen Augen lungern sie an den Checkpoints herum und werfen begehrliche Blicke ins Wageninnere. Es sind offensichtlich Clanmilizen, vielleicht auch ehemalige Mooryan, Banditen, die in aller Eile von der Übergangsregierung rekrutiert worden sind. Bile meint, ich solle das Handy verstecken. Es könnte sonst passieren, dass es von den Soldaten unter dem Vorwand beschlagnahmt würde, ich sei ein Spion und hätte mit der gegnerischen Seite telefoniert.

Aber was mir Bile über die neuesten Kämpfe erzählt, lässt mich annehmen, dass sie vorläufig auf die zwei, drei Quartiere im Westen, auf die sogenannte Industriezone, beschränkt bleiben werden, ohne auf den Norden oder andere Stadtteile überzuschwappen.

Die von der Uno und den Europäern gesponserte Übergangsregierung des Präsidenten Abdullahi Yusuf ist der vierzehnte Anlauf, das Land wieder unter das Joch des Rechts zu zwingen, seit sich der somalische Staat in den Bürgerkriegen Anfang der Neunziger spurlos aufgelöst und archaischen Clanverbänden Platz gemacht hat. Yusuf, ein grimmiger Darod und ehemaliger Warlord aus Puntland, weiss, dass er diesen demiurgischen Kraftakt ohne ausländische Truppen nicht vollziehen kann. Es war die überlegene Feuerkraft der von ihm herbeigerufenen äthiopischen Armee, welche im letzten Jahr die rasche Niederlage der Islamisten der UIC besiegelte, und es sind erneut die Äthiopier, die sich im Moment heftige Strassengefechte mit regierungsfeindlichen Clanmilizen und islamistischen Verbänden liefern. Nachdem vor einer Woche die Aufforderung an die Bewohner der Industriezone, fast ausschliesslich Angehörige des Habir-Gedir-Clans, ihre Waffen abzugeben, mit einem Kugelhagel beantwortet worden war, kehrten die äthiopischen Truppen heute Morgen wieder zurück, mit Panzern, Helikoptern, grober Artillerie. Und erneut wird aus allen Löchern und von allen Dächern auf sie geschossen.

Am nächsten Tag treffe ich Übersetzer Ajoos, der mich beim letzten Besuch souverän durch Mogadischus urbane Wildnis gelotst hatte. Sein Kommunikationsstil hatte mich damals beeindruckt. Wem immer wir begegneten, ob einem aggressiven Milizenführer, einem überheblichen Clan-Oberen, einem lauernden, beduselten Jugendlichen mit Kalaschnikow, sofort ging Ajoos in die verbale Offensive. Er stellte kurze Fragen, wich, wenn er Unmut verspürte, blitzschnell auf ein anderes Thema aus, verwickelte das Gegenüber in ein Gespräch, dessen Verlauf er vollständig kontrollierte und dauernd in Bewegung hielt und so dem anderen keine Zeit zur Besinnung liess. Bevor diesem seine ursprüngliche Absicht wieder einfiel, waren wir bereits weiter. Wie eine echogeleitete Fledermaus im Nachtflug sah er alle Widerstände und Gefahren voraus und umkurvte sie. Ajoos redete sich den Weg frei.

Der 38-Jährige hat zugenommen und ist gut gelaunt. Die Dinge laufen zu seiner Zufriedenheit. Die Frau erwartet das achte Kind, und er ist mittlerweile einer der Geschäftsführer des Hotel «Shamo» im Süden der Stadt, wie er mir auf der Fahrt dorthin erzählt. Über die kurze Regentschaft der Islamischen Gerichte, welche weltweit für Aufmerksamkeit sorgte, verliert er kaum ein Wort. Sie ist Vergangenheit und spielt keine Rolle mehr. Und die gegenwärtigen Kämpfe? Er zuckt mit den Schultern. Auch die werden vorübergehen.

Was Bashir Rage mache? Er habe gehört, dieser sei momentan in Uganda, geschäftlich. Ajoos lacht. Und Leyla, das Mädchen mit dem Beauty-Salon? Die Islamisten hätten ihr Geschäft geschlossen, sagt er, und Leyla habe es nicht wieder eröffnet, sie sei jetzt verheiratet. «Und was ist mit Hassan?» ­ «Komm», antwortet er, «ich zeige dir Hassan.»

Hassan erkennt mich zuerst. Er ist im Gesicht etwas runder geworden, aber er hat noch denselben aufmerksamen, kalten Blick. Seit anderthalb Jahren ist er als Wächter im «Shamo» angestellt. Warum er die Arbeit gewechselt habe, will ich wissen. Wenn er Freunde im «Shamo» besucht habe, sagt er, habe er immer den alten Besitzer gegrüsst. Und eines Tages habe ihm dieser die Stelle angeboten. «Ist dein jetziger Job besser als der alte?» ­ «Ja. Vorher musste ich immer die Augen offen halten, rennen und ein Gewehr tragen. Hier kriege ich zweimal Essen im Tag, und es ist entspannt.»

«Hast du geheiratet?» ­ «Nein. Mir fehlt das Geld.» ­ «Kontakt mit deiner Familie?» ­ «Kaum warst du damals abgereist, habe ich der Mutter telefoniert. Ich schaue jetzt zu ihr.» ­ «Wie war es unter den Islamischen Gerichten?» ­ «Die Sicherheit war gut.» ­ «Schlecht für deine alten Kollegen.» ­ «Ja. Einige flohen in den Norden oder nach Jemen. Und schlecht war, dass die Gerichte Fussball verboten und Khat. Der Preis für ein Bündel Khat ging auf 50 Dollar hoch, und oft musste man drei bis vier Tage alte Blätter kauen.» ­ «Wie ist die Situation jetzt?» ­ «Sie wird besser.» ­ «Was meinst du zu den äthiopischen Truppen in der Stadt?» ­ «Ein schlechtes Zeichen. Es bedeutet fitna, Aufruhr.» ­ «Warum sind sie hier?» ­ «Ich weiss es nicht.» Dann erzählt er noch, dass er schon länger nicht mehr Tupac gehört habe. Sein bevorzugter Musiker sei jetzt Mohamed Dahir. Er besorgt mir eine Kassette des somalischen Schlagersängers. Dessen Lieder klingen melodiös, süsslich, durchdrungen von jener etwas wehleidigen Sehnsucht, die orientalische Männer zu händchenhaltenden Seelenbrüdern verschweisst.

Von der Dachterrasse des «Shamo» aus sieht man die schwarzen Rauchpilze, die in rund zwei Kilometer Entfernung nach den Einschlägen einer äthiopischen Granate aufsteigen. Die meisten landen an genau zwei Stellen, dort, wo die Äthiopier Widerstandsnester vermuten. Ajoos wählt die Telefonnummer eines Bekannten, der in dieser Gegend wohnt. Auf der anderen Seite nimmt ein Junge ab. «Wo ist dein Vater?», fragt Ajoos. «Er verriegelt das Haus, damit niemand unsere Sachen stehlen kann.» ­ «Warum sprichst du so leise?» ­ «Die Milizen gehen draussen vorbei. Sie haben mir gesagt, komm mit uns und kämpfe. Aber ich habe mich versteckt. Jetzt darf ich nicht laut reden, sonst hören sie mich.» ­ «Wie alt bist du?» ­ «Elf.»

Als darauf ein äthiopischer Kampfhelikopter von einer Panzerfaust getroffen wird und, einen Rauchschweif hinter sich herziehend und an Höhe verlierend, Richtung Meer abdreht, wo er kurz nach der Notlandung auf dem Strand explodiert, bricht auf der Hotelterrasse ein Riesenspektakel aus. Es sind mehr Leute dazugekommen, auch ein Dutzend Araber, medizinische Fachleute eines islamischen Hilfswerkes. Die Araber kreischen vor Freude über den Abschuss, ein junger Einheimischer schreit: «Eine RPG [Rocket Propelled Grenade], Volltreffer, wir Somalis sind gut.» Aber auch auf den umliegenden Hausdächern haben sich jubelnde Leute versammelt. Die kollektive Euphorie hat jedoch unterschiedliche Ursachen.

Für die Araber ist offenbar die Vorstellung erregend, dass mit dem Helikopter Amerika und die Juden getroffen wurden. Zwei von ihnen, junge ägyptische Augenärzte, beginnen sofort über Israel zu schimpfen, als ich sie nach dem Grund ihrer Freude frage. Nachdem sie sich wieder beruhigt haben, zeigt sich aber, dass sie auch die Somalis verachten. «Sie sind unkontrollierbar», sagt der eine, «sie werden nie Frieden haben. Nur vier Dinge lieben sie: schlafen, essen, Khat kauen und kämpfen.» ­ «Und jeder Somali ist ein Dieb», fügt der Kollege hinzu. Wie sie zu dieser Diagnose kämen?

Sie seien als Freiwillige hergereist, erzählt der Erste, und hätten im Banadir Hospital mit der Arbeit begonnen. Für die Patienten sei die Behandlung gratis gewesen, den Lohn des somalischen Direktors, 8000 Dollar im Monat, habe das arabische Hilfswerk bezahlt. «Nach zwei Wochen und 200 Patienten haben wir uns beim Direktor verabschiedet, um wie vorgesehen ins nächste Spital zu wechseln. ‹Ihr geht nicht weg›, hat der Direktor geantwortet, ‹ihr macht 500 Patienten.› ‹Nein›, haben wir gesagt, ‹das ist nicht die Abmachung, wir gehen jetzt unsere Instrumente holen.› ‹Raus›, hat er daraufhin geschrien und seine Milizen gerufen, die uns mit gezückten Gewehren aus dem Gebäude führten. Die Instrumente hat er behalten.» ­ «Nachher haben wir erfahren, dass er von jedem unserer Patienten 40 Dollar verlangt und in den eigenen Sack gesteckt hat.» Aus Angst vor dem Direktor und seinen wilden Landsleuten verlassen sie kaum mehr die Zimmer. Ihre panislamische Solidarität ist erschüttert. «Wir wollen zurück nach Ägypten.»

In der Lounge des Hotels «Global» herrscht am frühen Abend gute Stimmung. Niemand scheint sich darum zu kümmern, dass zwei, drei Kilometer entfernt, dort, wo die dunkle Rauchfahne am Himmel steht, erbittert gekämpft wird und Leute sterben. Die somalische Besitzerin, eine aufgeräumte ehemalige Ärztin mit barocken Körperrundungen, erfreut sich mit einigen Kolleginnen am Hochzeitsvideo einer Verwandten. Eine Gruppe Geschäftsmänner unterhält sich über die besten Flugverbindungen zwischen Dubai, Frankfurt, Johannesburg, London, Toronto. Und mein Sofanachbar, ein gepflegter Mittvierziger, der sich als Gouverneur von Middle Shabelle vorstellt ­ «leider kann ich momentan nicht in mein Gebiet reisen, es ist zu unsicher» ­, klärt mich über die Aufgaben von Mann und Frau auf.

Es sei ganz einfach, setzt er an, die Frau müsse dem Manne dienen. Ihn empfangen, die Kleider sauber halten, die Kinder grossziehen. Europa sei schwach geworden, fährt er fort und mustert mich kurz, und die europäischen Männer ebenfalls. Sie machten keine Kinder mehr; die Frauen seien wie Männer. «Früher», sagt er, «war Europa dynamisch und aggressiv, es unterwarf mehr als die halbe Welt. Mit Waffengewalt, Raub und Vertreibung. Wie wir heute in Somalia.» Ich höre eine Spur von trotzigem Stolz aus seiner Stimme heraus. Auf meine Frage nach den gegenwärtigen Gefechten meint er nur, die Lage sei viel besser als in vergangenen Jahren, wo im Unterschied zu jetzt in der ganzen Stadt und auch in anderen Teilen des Landes gekämpft worden sei.

Die Einzigen, die sich offenbar für die kriegerischen Geschehnisse interessieren, sind eine Abordnung Notabler vom Clan der Abgal. Im obersten Stock des «Global» verlesen sie eine Presseerklärung, die das Vorgehen der äthiopischen Ordnungstruppen gegen die «Aufständischen, Banditen und Terroristen» gutheisst. Auch sie sind bestens gelaunt. Die Abgal und ihre Subclans dominieren Nord-Mogadischu und betrachten sich als die eigentlichen Herren der Stadt. Der Südteil jedoch ist das Gebiet von Habir-Gedir-Clans. Erst seit Anfang der Neunziger dort sesshaft, haben die aus den Steppen Zentralsomalias herbeigeströmten Nomaden unter dem Kommando des charismatischen Raubritters Aidid die damaligen Bewohner verjagt und deren Häuser übernommen. Obwohl beide, die Habir Gedir und die Abgal, der einflussreichen Clanfamilie der Hawiye angehören, gingen ihre Milizen in einem blutigen Bürgerkrieg aufeinander los. Die Genugtuung der würdigen Abgal-Vertreter über die äthiopische Offensive ist nachvollziehbar. Ohne dass sie sich vom Sessel erheben müssen, werden ihre Rivalen niedergemacht von einem mächtigen Verbündeten. Mitleid ist keine kulturelle Leit-Emotion in diesem Teil der Welt. Der Verlierer wird verachtet, der Sieger gefürchtet und geehrt. Rache ist ein Gebot des Stolzes und verleiht Respekt.

Später sitze ich mit Bile auf dem Balkon. Mogadischu liegt wie ein afrikanisches Buschdorf im Dunkeln. Die Millionenstadt hat seit siebzehn Jahren keine Stromversorgung mehr. Nur gelegentlich brennen Raketen oder Gewehrkugeln einen Feuerschweif in den Nachthimmel. Die wenigen Gebäude mit Generatoren haben die Lichter gelöscht, man geht früh schlafen. Zu riskant, abends auf die Strasse zu gehen. Ich erzähle Bile von den Jubelszenen auf den Dächern nach dem Helikopterabschuss, und er meint, diese Leute seien gegen die Regierung, weil sie befürchteten, ihre Häuser und Geschäfte wieder hergeben zu müssen. Bile ist wie Präsident Yusuf ein Darod.

Ein in den Norden geflüchteter Besitzer zum Beispiel, fährt er mit verschwörerischer Stimme fort, sei nach Jahren wieder nach Mogadischu zurückgekehrt und habe an die Tür seines Hauses geklopft. «Eine Frau öffnet, und er sagt ihr, er sei der Besitzer und wolle das Haus verkaufen. Sie bittet ihn, im Wohnzimmer zu warten, während sie ihren Mann aus dem Geschäft holen gehe. Sie verlässt das Haus und organisiert zwei Mooryan, zwei Banditen, die den Besitzer gegen Geld töten sollen.»

«Als der ahnungslose Mann auf die Toilette geht, erwacht im oberen Stock der Vater der Frau, geht ins Wohnzimmer und setzt sich auf den Stuhl, auf dem eben noch der Besitzer sass. In diesem Moment kommen die Banditen herein, erschiessen den Mann auf dem Stuhl, verschwinden wieder und sagen der Frau, der Job sei erledigt. Sie bezahlt, geht zurück ins Haus und findet den toten Vater.» Bile schaut mich eindringlich an. «Eugène», schliesst er, «über jedes Haus kannst du einen Roman schreiben. Es gibt keinen Frieden hier.»

Am dritten Tag wird weiterhin geschossen. Die Kämpfe haben sich auf zwei, drei weitere Quartiere ausgeweitet. Auf der Fahrt durch die Stadt merkt man davon nichts. Händlerinnen dösen hinter ihrem Fischangebot, knochendürre Männer schlendern über die staubigen Gassen, räudige Hunde blinzeln in der Sonne. Auch im «Shamo», wo ich mit Ajoos verabredet bin, sitzen die Angestellten schläfrig herum. Die Front ist einige Strassenzüge entfernt, sie geht einen nichts an. Es ist ein normaler, heisser Apriltag in Mogadischu.

Ajoos studiert aufmerksam einen Stammbaum somalischer Clanfamilien, den ich ihm mitgebracht habe. Plötzlich fängt er an zu murmeln und den Kopf zu schütteln und schaut mich nach einer Weile aufgebracht an. «Ich bin aus dem Clan der Banadiri, der ‹Weissen Somalis›, und wir Banadiri sind schon lange hier. Aber die Banadiri sind nicht auf der Liste. Diese Liste ist falsch.» Er ruft einen Clanältesten an, und zusammen gehen sie die verästelte Genealogie mit den rund hundert Namen nochmals durch. Ajoos reicht mir das Telefon. Der Clanälteste will mich sprechen.

«Diese Liste ist falsch», urteilt auch er und klärt mich ausführlich und auf Italienisch über die Herkunft und Verwandtschaft und Abspaltung der diversen Clanfamilien auf. Es ist so kompliziert wie ein Vortrag über Stammzellenforschung. «Wer hat diese Liste gemacht?», fragt er zum Schluss. «Professor Ioan Lewis, ein weltberühmter Gelehrter.» ­ «Gehe zu ihm, wenn du in dein Land zurückfährst. Sage dem Mann, dass er irrt.»

Sie, die Banadiri, sagt Ajoos darauf, seien eben friedliche Leute, ohne Waffen, und darum nicht berühmt. Die Abgal, die jeder kenne, weil sie ständig in Streit verwickelt seien, behaupteten, sie seien die Ersten in Mogadischu gewesen. Ob ich jedoch wisse, wie es wirklich gewesen sei? Nein? «Die Abgal sind Nomaden, die hinter Kamelen herlaufen. Als sie nach Mogadischu kamen, diese schöne Stadt mit den weissen Häusern, lebten wir schon da. Wir liessen sie hinein, aber sie mussten abends wieder draussen sein. Damit wir sie erkannten, malten wir ihnen die Beine an.» ­ «Wann war das?» ­ «Vor ein paar hundert Jahren.»

«Oder hör dir dies an. Es passierte vor nicht langer Zeit. Ein Mädchen steht auf einer Dachterrasse, als unten ein Mann mit einem Gewehr vorbeigeht. ‹Abgal, Abgal›, lacht das Mädchen und hüpft hin und her. Sofort kommt die Mutter und mahnt: ‹Pst, das darf man nicht sagen. Er kann nichts dafür, dass er Abgal ist. Allah hat das so gemacht.’» Ajoos kugelt sich vor Lachen. «Ist das nicht gut? Allah hat das so gemacht.»

Seine gute Laune ist wiederhergestellt. Auch die anderen, die um uns herum im Innenhof sitzen, sind nun munter und freuen sich mit. Es sind keine Abgal dabei. Aus irgendeinem Grund wendet sich das Gespräch plötzlich dem Thema Frau zu, und der Frage, ob man diese vor der Heirat schon einmal gesehen haben sollte. Die meisten sind dafür. Einzig Ali, der Neffe des alten Besitzers, ein zirka 35-jähriger schnurrbärtiger Stoiker, den man nie lachen sieht, ist anderer Auffassung. Er ist zum fünften Mal verheiratet. Die ersten zwei Frauen habe er verlassen, sagt er, weil sie, als er nach Hause kam, auswärts bei Freundinnen waren. «Arabische Eifersucht», kommentiert Ajoos. Die dritte sei zwar im Hause geblieben, aber er habe sie trotzdem verlassen. Sie habe die Freundinnen zum Khatkauen eingeladen. Die vierte habe sich vom Dach gestürzt, als sie vernahm, dass er während eines Besuchs in Nairobi noch eine andere geheiratet habe, worauf ihn die Familie der vierten eine Zeitlang durch einen Killer verfolgen liess. Mit jener fünften nun sei er seit einigen Jahren zusammen, und es gehe gut. Sie sei die Einzige, die er erstmals an der Trauung gesehen habe.

Ganz in der Nähe sind Gewehrsalven zu hören. Einer läuft zum Tor, um nachzuschauen. Nichts Besonderes, sagt er nur, als er zurückkommt. «Wie viele Ehefrauen darf man in deinem Land haben?», fragt mich einer. «Das Gesetz erlaubt nur eine.» «Das ist gut so», sagt er und tischt eine Geschichte von einem reichen Bekannten auf, der sich mit vier Frauen nicht nur finanziell, sondern auch gesundheitlich ruiniert habe. «Er musste jede Nacht eine andere befriedigen, schön rundum, tacktacktack, und wenn er bei der vierten fertig war, musste er gleich wieder zur ersten, weil die sonst eifersüchtig geworden wäre. Er wurde immer eingefallener, und schliesslich war er so schwach, dass er sogar die Hosen nass machte. Er hatte zu wenig Kraft, um rechtzeitig auf die Toilette zu gelangen.» «Ich habe auch vier Frauen», stimmt ein anderer ins allgemeine Gelächter ein, «Ehefrau, Khat, Whisky und Zigaretten. Aber mir geht es gut.»

Ob man Frauen näher kennenlernen könne, ohne sie gleich heiraten zu müssen, frage ich. Das sei einfach, behauptet einer. Trotz Bewachung durch Brüder, frage ich zurück, und Verhüllung von Kopf bis Fuss? «Vergiss die Verhüllung», antwortet Ajoos, «das ist äusserliche Show. Es ist leicht, Sex zu haben.» ­ «Wie?» ­ «Du wählst dir eine Geschiedene aus, beschaffst dir ihre Nummer, sagst ihr nette Sachen und machst mit ihr ab.» ­ «Wo?» ­ «In der Wohnung eines unverheirateten Freundes.» ­ «Eine Frau kann nicht lange wegbleiben. Sonst fällt es auf.» ­ «Eine halbe Stunde reicht.»

Unter Grinsen werden ein paar Heldentaten ausgetauscht, und Ajoos beginnt Hiddig aufzuziehen, einen jüngeren, etwas naiv wirkenden Gehilfen. Die Männer pflegen eine deftig-rustikale Sprache. Hiddig habe vor der Hochzeitsnacht noch nie eine Frau berührt, erzählt Ajoos, er habe nur gewusst, dass die Frau ein Loch habe und er sein Ding dort reinbringen müsse. Zuerst habe er es beim Bauchnabel versucht, worauf die Frau sagte: weiter unten, und so habe er irgendwo zwischen den Schenkeln gestochert ­ Ajoos macht mit den Armen Schaufelbewegungen wie ein Maulwurf ­, im Dunkeln, verzweifelt, ohne Erfolg. Ajoos hat Tränen in den Augen vor Lachen. «Nach drei Stunden hat er sich in die Toilette geschlichen und mich angerufen. ‹Ajoos, was soll ich tun? Meine Spermien sind draussen, aber das Loch habe ich nicht gefunden.› Er hat geweint.»

Ajoos übertreibe, sagt Hiddig, verlegen lächelnd, er habe zwar telefoniert, aber nicht geweint. Er wollte Ajoos› Rat. Dieser habe viel Erfahrung mit Frauen. Sogar Mzungu-Frauen, Weisse, seien zu ihm gekommen. «Europäerinnen sind gut», lacht Ajoos, «sie haben eine grosse Klitoris.» Die Somalierinnen dagegen seien beschnitten, die einen nur vorne, und den anderen sei alles herausgeschnitten worden. Er demonstriert es an seinem Zeigefinger. «Beim Sex empfinden sie nichts, rein nichts, wie ein Brett. Du musst sie streicheln, an den Brüsten, am Körper, damit sie sich wohlfühlen.» ­ «Lässt du deine Töchter beschneiden?» Er zögert einen Moment. «Nein, davon steht nichts im Koran. Es ist einfach Tradition.»

Am vierten Tag flauen die Kämpfe ab, und am fünften sind keine Schüsse mehr zu hören. Es wurde ein Waffenstillstand vereinbart, um die Toten bergen zu können. Ich will die Quartiere der Aufständischen sehen, und wir fahren zu fünft los. Vorne sitzen Ajoos und der Chauffeur, ich sitze hinten, eingeklemmt zwischen Hurdaaye und Abdallah, «um kein leichtes Ziel abzugeben», wie mir Hurdaaye gesagt hat. Er ist Wächter im «Shamo», Hurdaaye ist ein Übername und bedeutet «Schläfer». Man nennt ihn so, weil er sich sehr langsam bewegt und die Augen immer halb geschlossen hält.

Er ist Ayr, Angehöriger eines kriegerischen Subclans der Habir Gedir. General Aidid war Ayr, Scheich Aweys, der extremistische Führer der Islamischen Gerichte, ist Ayr, das Rückgrat der Aufständischen bilden Ayr. Als ich ihm einmal gesagt habe, dass sein Clan für seine Gefährlichkeit weit herum gefürchtet sei und dass viele denken, sie seien Killer, hat er gelächelt. Seither nickt er mir immer verschwörerisch zu. Heute Morgen habe ich ihm erzählt, dass ich gerne mit einem der aufständischen Kämpfer sprechen würde. Er tätigte einen Anruf, und vierzig Minuten später stand Abdallah im «Shamo». Der sehnige 25-Jährige, ein Ayr, kam direkt von der Front.

Sobald man die Hauptstrassen verlässt, glaubt man sich in einem Dorf. Man fährt durch sandige Gassen, eine Ziegenherde frisst an einem Baum, ein Mann zieht eine Handkarre. Je näher man zur Industriezone kommt, desto weniger Leute sind in den Häusern zu sehen. Viele sind vorläufig in andere Stadtteile oder zu Verwandten aufs Land gezogen, um sich in Sicherheit zu bringen. «Abdallah, worum geht es in diesen Kämpfen?» ­ «Wir kämpfen gegen die äthiopischen Kolonialisten. Yusuf, der Präsident, hat sie geholt, um sich dafür zu rächen, dass die Darod davongejagt wurden.» Abdallah meint den Sturz des Diktators Siad Barre, der wie Präsident Yusuf ein Darod war. «Wie organisiert ihr euch?» ­ «Es gibt kein Zentralkommando. Wir kämpfen in Vierergruppen. Jeder gibt Befehle. So sind wir Somalis.» Er lacht.

«Wie wird entschieden, wo man kämpft?» ­ «Das entscheidet sich in der Situation. Als beispielsweise die Panzer kamen und auf alles schossen, mussten wir nahe an sie heran. Weil man nicht die Strasse benutzen konnte, gingen wir in die Häuser rein und schlugen Löcher in die Wände, eins ums andere, bis wir auf der Höhe des Tanks waren.» ­ «Habt ihr Anti-Panzer-Waffen?» ­ «Nein, nur Kalaschnikows und RPGs. Aber wenn du sehr nahe bist und die Turmhalterung triffst, blockierst du den Turm, und er kann sich nicht mehr bewegen und nicht mehr schiessen. Dann grillst du die Soldaten wie Fische.»

Unterdessen sind wir an der breiten Strasse angelangt, die durch die Industriezone führt. Links und rechts erstrecken sich Fabrikgelände und Lagergebäude, dazwischen stehen einzelne Wohnhäuser. Man sieht rauchgeschwärzte Einschusslöcher von Granaten, verkohlte Marktstände, von Explosionen aufgerissenen Strassenbelag. Das Sportstadion taucht auf, in dem eine Truppe Äthiopier zwei Nächte eingekesselt war. Das Skelett eines Lastwagens, der ihnen Nahrung hätte bringen sollen, liegt ganz in der Nähe am Strassenrand. Er war von den Insurgenten in Brand geschossen und sofort in Einzelteile zerlegt worden, die nach Hause getragen wurden. Überall stehen Bewaffnete herum, Clankämpfer, einige mit Bart, als Zeichen ihrer islamistischen Gesinnung. Sie werfen misstrauische Blicke in unseren Wagen, und Hurdaaye mahnt mich, den Kopf nicht zu weit nach vorn zu strecken. Die Gegend ist vollständig unter Kontrolle der Aufständischen.

Dort sei sein Haus, sagt Abdallah. Es liegt direkt an der Strasse, in jenem Abschnitt, wo die meisten Granaten landeten. Es ist unversehrt geblieben. Und hinter jener Mauer hätten sie fünfzehn Äthiopier begraben. «Sie hatten so gestunken, dass wir Angst hatten, krank zu werden.» ­ «Könnt ihr die Äthiopier besiegen?» ­ «Ein Mann, der zu Hause kämpft, ist stolz zu sterben. Die Äthiopier aber wurden in den Krieg gezwungen. Sie schreien vor Angst, wenn sie kämpfen sollen. Und sie schreien, wenn sie verletzt sind. Sie können nirgendwo hin, nicht in ein Haus, nicht aufs Dorf, sie kennen niemanden und werden getötet.»

Etwas weiter vorne ist die Strasse plötzlich leer. Keine Autos, keine Menschen. Sofort wendet der Fahrer den Wagen und biegt in eine Nebenstrasse. Offenbar wurde dort vor kurzem geschossen. «Kämpfen auch Extremisten mit euch?» ­ «Nein, wir nehmen Khat und trinken Wodka.» ­ «Viele klagen, dass die Äthiopier unschuldige Kinder und Frauen getötet hätten. Aber die Regierung hat die Offensive eine Woche vorher angekündigt. Warum brachtet ihr die Familien nicht weg?» ­ «Wir Somalis scheren uns nicht darum, was die Regierung sagt.» ­ «Wie geht es nach den Kämpfen weiter?» ­ «Die Ältesten werden zusammensitzen und eine Lösung finden.»

Im Hotel «Global» wechsle ich ein paar Worte mit dem Gouverneur von Middle Shabelle. Ich erkundige mich nach Bashir Rage, und er bestätigt, dass dieser in Uganda sei. Rage habe, meint er, sein Geld nicht zusammenhalten können. Krieg sei teuer, nur schon die Munition, und dann all die Frauen, der Whisky, Khat. Aber er sei hier im Norden beliebt gewesen, er habe viel für die Armen getan. Sein jüngerer Bruder Abdid sei übrigens wieder in Mogadischu. Dieser habe heldenhaft gekämpft, sei dabei verletzt und nach Nairobi ausgeflogen worden. Ich frage den Gouverneur nach dessen Nummer. Eine Stunde später steht Abdid im «Global».

Wir haben uns vor drei Jahren im Anwesen seines Bruders kennengelernt. Zu meiner Verblüffung hat mich Abdid auf Berndeutsch angesprochen. Er war 1990, als der Bürgerkrieg ausbrach, als Zwanzigjähriger in die Schweiz gereist und lebte dort als Asylbewerber, bis man ihn im Frühjahr 1994 wieder auswies. Er habe getrunken, erzählte er, ständig Schlägereien gehabt und einmal habe er einem Jugoslawen einen abgebrochenen Flaschenhals in den Hals gestossen. Der Mann sei nur nicht verblutet, weil zufällig eine Ambulanz vor dem Haus stand. «Ich war kaum über zwanzig, unreif, dumm, ein richtiger Unruhestifter.» Und wieder war ich etwas erstaunt, als er sagte: «Die Schweiz hatte recht, als sie mich ausschaffte. Ich war Gast, und wer sich als Gast nicht an die Gesetze hält, soll gehen.»

Er sei dick geworden, sagt er jetzt zur Begrüssung und lässt sich in ein Sofa sinken, es gebe eben nicht mehr so viel zu tun. Hafen, Flugplatz, Strassenbau, die Hauptposten ihrer Camel Company seien momentan nicht in Betrieb. Dann erzählt er vom letzten Gefecht gegen die Milizen der Islamischen Gerichte. Er sei mit einer Einheit von 35 Mann unterwegs gewesen, sein Bruder sei bereits geflüchtet, sie hätten Mann um Mann verloren. Als sie nur noch zwanzig waren und er von einem Bauchschuss niedergestreckt wurde, hätten sie sich ergeben und ihre Waffen überreicht. Die Islamisten hätten erlaubt, dass er das Land verlässt. Sie seien vom selben Subclan gewesen.

Ob sein Bruder Bashir an eine Rückkehr denke? Ja, meint Abdid, er komme bald wieder. Und ob es stimme, dass er mit der CIA zusammen gearbeitet habe? Ja, die Männer vom Geheimdienst seien jeweils mit einer kleinen Maschine auf Bashirs Flugplatz Esalay gelandet und hätten Köfferchen voller Geld überbracht. Zwei oder drei Mal seien sie auch in Bashirs Haus gewesen. Sie hätten den Kampf gegen die Terroristen unterstützt. «Auf einmal gab es auch in unserem Land Terroristen und Märtyrer. Das war etwas Neues. Niemand hier glaubte, dass ein Somali so dumm sein könne, sich in die Luft zu sprengen. Die Somalis denken nämlich, sie seien sehr schlau und es sei unmöglich, sie einer Gehirnwäsche zu unterziehen.»

Am Tag meiner Abreise treffe ich mich noch mit einem Kämpfer der Islamisten. Wieder hat Hurdaaye die Begegnung organisiert. Die letzten Tage waren ruhig geblieben, die Krieger haben freie Zeit. Der Mann ist um die vierzig, sagt, er heisse Ahmad, und als ich nach seinem Clan frage, nennt er nur den Namen der Clanfamilie, ohne seine genauere Zugehörigkeit preiszugeben: «Ich bin Hawiye, das genügt.» Dies ist die Sprachregelung der Aufständischen, die sich damit eine grössere Legitimation verleihen wollen. Auch Ahmad ist Ayr, wie mir Hurdaaye später verrät.

Es sind nicht seine Antworten, die in mir jenen starken Eindruck hervorrufen, dass Ahmad ganz anders ist als die streitlustigen Tagediebe und Pragmatiker des Überlebens, denen ich bisher begegnet bin. Wie für diese ist auch für ihn Wahrheit, was ihm und seiner Gruppierung nützt. Er stellt sich naiv, er übertreibt, er lügt, er erfindet, je nach situativer Notwendigkeit und mit der grössten Selbstverständlichkeit. Wohin die Extremisten unter den Islamischen Gerichten nach deren Sturz geflüchtet seien? Er habe nie einen Extremisten gesehen. Verbot von Kinos und Videotheken während des Regimes der UIC? Pornografie sei auf der ganzen Welt verboten. Gliederamputation wegen Diebstahl? Nie vorgekommen. Der Führer der Islamischen Gerichte, Scheich Aweys, soll von al-Qaida unterstützt werden? Äthiopische Propaganda. Scheich Aweys sei ein Mann mit einem guten Charakter und einer guten Religion.

Was Ahmad von den anderen unterscheidet, ist seine Ausstrahlung. Das Wilde und Anarchische seiner Clangenossen, deren Sprunghaftigkeit und Bereitschaft, zu verschwenden und aus einer Laune heraus zu töten, gehen ihm ab. Ahmad wirkt hart, diszipliniert, geleitet von einer Mission. Wie die Verkörperung eines Bündnisses von Gott und Trieb. Als ob in ihm die rohe Energie der Hirtennomaden, die zerstörerische Urkraft der Insurrektion in der Idee eines höheren Meisters gebündelt und gerichtet worden wären.

Soll Somalia eine Zukunft haben, muss es die Zerrissenheit überwinden und sich einem elementaren zivilisatorischen Gesetz unterordnen. Ahmad und seine Glaubensbrüder scheinen die Einzigen zu sein, die über ein entsprechendes Modell verfügen und die Entschlossenheit und mentale Kraft haben, es durchzusetzen. «Die kommen in Einerkolonne», hatte Abdid Rage gesagt, «einer hinter dem anderen. Du erschiesst den einen, und schon steht der Nächste da und dann wieder der Nächste, und irgendwann haben sie die Stellung erobert. Und wenn einer noch am Leben ist, geht er zu seinem Kommandanten und entschuldigt sich. Die gehen in den Kampf, um zu sterben. Wie willst du gegen solche Leute gewinnen?»

Der erste Herrschaftsversuch ist vereitelt worden, aber Ahmads fromme Streiter formieren sich neu. Werden sie schlussendlich doch die Macht erobern, wird in Somalia vorerst Ruhe einkehren. Der Krieg jedoch wird in die Regionen hinausgetragen werden. Das Gottesreich kennt keine Landesgrenzen.

Ende August erscheint «Unbesiegbar»,ein Band mit Reportagen aus Bürgerkriegsgebietenvon Eugen Sorg und Nathan Beck (Bilder), mit einem Vorwort von Leon de Winter, Verlag Nagel & Kimche.

Somalia

Hang zur Anarchie

Eugen Sorg

Das Clansystem der Nomaden ist die bestimmende Kraft imchaotischen Land am Horn.

Verschiedenste Mächte unterwarfen in den letzten 2000 Jahren das von ethnischen Somalis bewohnte Gebiet am Horn von Afrika: die Äthiopier, die Portugiesen im 16., die Türken im 18., die Franzosen, Engländer, Italiener im 19.Jahrhundert. Sie hinterliessen kaum Spuren. Die Matrix der somalischen Gesellschaft, das archaische Clansystem der Hirtennomaden mit seinem Hang zur Anarchie, blieb die bestimmende politische und kulturelle Kraft. Dies änderte sich auch nicht, als 1969 der Putsch-Offizier Siad Barre ein stalinistisches Regime errichtete. Er dekretierte moderne Familiengesetze und verdoppelte das Blutgeld, das heisst die Anzahl Kamele, die für eine getötete Frau an deren Clan gezahlt werden musste. Damit stellte er die Frauen den Männern gleich. Kaum war Barre gestürzt, löste sich der Staat in sich bekriegende Clans und Banden auf. Das soziale Desaster bewog die Uno 1992 zur Operation «Restore Hope», ihrer ersten bewaffneten humanitären Mission. Sie scheiterte. Die Uno war wie ein Clan bekämpft worden.

Somalia ist seit 17 Jahren ohne Staat. Die provisorische Regierung ist wie die 13 vorherigen faktisch machtlos und würde ohne äthiopische Truppen keinen Tag überleben. Die geschätzt zehn Millionen Somalis leben von Überweisungen ihrer Verwandten im Ausland (rund 1 Milliarde Dollar jährlich); Nebeneinkünfte bringen Fischfang und Piraterie; exportiert werden Holzkohle, Vieh und Militärschrott; Industrie ist inexistent, seit im Krieg sämtliche Fabriken des Landes zerstört und als Einzelstücke ins Ausland verhökert worden sind. Rekordzahlen liefert Somalia nur mit Bürgerkriegstoten, 300000, und mit der Geburtenrate, fast sieben Kinder pro Frau.

Vom Ordnungsvakuum profitierten Glaubensbrüder von Bin Ladens al-Qaida. Deren Kampforganisation al-Ittihad mischte in den Bürgerkriegswirren mit und kontrollierte zeitweise wichtige Häfen; von Somalia aus wurden die Anschläge von 1998 auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam geplant; und als im Juni 2006 die fundamentalistische Union Islamischer Gerichte die Macht übernahm, spielten die Gotteskrieger eine wichtige Rolle. Zwar wurden sie sechs Monate später von äthiopischen Truppen wieder vertrieben. Aber nicht besiegt. Viel spricht dafür, dass sie weiter erstarken.

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