Die Weltwoche / Von Eugen Sorg

10.07.2008

Kolumbien

«Viva Colombia»

Die mit militärischer Kühnheit und höchster List durchgeführte Befreiung von Ingrid Betancourt und vierzehn weiteren Geiseln war ein Meisterstück. Der Erfolg ist letztlich eine Bestätigung der vonKolumbiens Präsident betriebenen Politik.

Als Álvaro Uribe im Jahre 2002 zum Präsidenten Kolumbiens gewählt wurde, übernahm er einen Staat, der nur auf dem Papier existierte. Über die Hälfte des Landes wurde von bewaffneten Banden beherrscht, von den mächtigen Farc, deren kleinerem Bruder ELN (Ejército de Liberación Nacional) und von paramilitärischen Verbänden. Die ersten beiden hatten als älteste stalinistische Guerilla Lateinamerikas jahrzehntelange Kampferfahrung, alle verfügten sie dank Kokainhandel, Entführungsindustrie und Schutzgelderpressung über genügend Mittel, um sich mit den besten Waffen und den modernsten Kommunikationstechnologien zu versorgen.

Es ist schwierig für einen Bewohner aus Europa, sich in die Situation eines normalen Kolumbianers zu jener Zeit hineinzuversetzen. Überlandreisen von Bogotá zu den Verwandten in Cali oder Cartagena wurden wenn möglich vermieden, um nicht unterwegs an einer Strassensperre von aggressiven Guerilleros aus dem Auto geholt zu werden und für die nächsten Jahre oder für immer im Dschungel zu verschwinden. Ein Abendbummel im Zentrum Medellíns war nicht ratsam. Gangster verschleppten Passanten und verkauften sie an die ruchlosen Farc. Jeder in Kolumbien kannte jemanden, der von einer Entführung betroffen war.

Alle Staatschefs waren beim Unterfangen gescheitert, das Gewaltmonopol durchzusetzen. Der letzte Präsident, Andrés Pastrana, hatte es mit Dialog versucht, nachdem man mit militärischen Mitteln nicht weitergekommen war. Für die Dauer der Friedensverhandlungen hatte er den Farc als vertrauensbildende Massnahme ein riesiges Gebiet überlassen. Diese dankten es, indem sie es heimlich benützten, um die Leute, die sie weiterhin verschleppten, zu verstecken, um Anschläge vorzubereiten und aufzurüsten. Als Pastrana merkte, dass er betrogen wurde, brach er, um eine politische Einsicht klüger geworden, nach drei Jahren die Gespräche ab.

Vor den Wahlen hatte Uribe versprochen, er werde bis 2006 die Terroristen besiegt haben. Dieses Ziel hat er nicht erreicht, aber er ist ihm sehr nahe gekommen. Zehntausende Paramilitärs sind mittlerweile demobilisiert, die ELN ist praktisch besiegt und bereit zu verhandeln, die Farc sind schwerverwundet. Im einst gewalttätigsten Land der Erde ist die Anzahl Morde pro Jahr von 35 000 auf 17 000 gesunken, die Zahl der jährlichen Kidnappings von der Weltrekordziffer 3000 auf 270. Die Strassen sind wieder sicher, das Land erlebt einen ökonomischen Aufschwung. Ausländische Anleger trauen sich wieder zu investieren, und gutausgebildete junge Einheimische gründen Geschäfte, statt ins Ausland abzuwandern.

Und als eine Gruppe junger kolumbianischer Facebook-Nutzer zur Demonstration gegen die Farc aufriefen: «No más Farc» («Nie mehr Farc»), folgten am 4. Februar dieses Jahres Leute in 140 Ländern der Aufforderung. In Bogotá gingen zwei Millionen auf die Strasse, in Medellín 500 000. Sie trugen weisse T-Shirts mit der Aufschrift «Colombia soy yo» («Ich bin Kolumbien»). Das Land hat den Glauben an sich wiedergefunden.

Gleich nach der Wahl von 2002 hatte Uribe mit einer massiven Aufstockung der Truppen begonnen und die Guerilla mit sorgfältig geplanten und spektakulären Operationen aus jenen Gebieten verjagt, wo sie die Leute am empfindlichsten drangsalierten: von den Hügeln um die Millionenstädte Bogotá und Medellín und den wilden Zonen entlang den grossen Überlandstrassen. Er brauchte schnelle Erfolge, um die Unterstützung der resignierten und eingeschüchterten Bevölkerung nicht zu verlieren. Auch die Armee brauchte Erfolge. Sie war demoralisiert, korrupt, bequem, unbeliebt.

Uribe ernannte intelligente Kommandanten, beförderte unfähige auf ungefährliche Posten, entliess fehlbare. Wenn er von einer misslungenen Operation oder einem ernsteren disziplinarischen Vorfall irgendwo im Lande hörte, unterbrach er seine Arbeit, flog sofort hin, liess sich die Situation erklären, analysierte, lobte, kritisierte. Er reservierte den Montag dafür, jedes Mal in eine andere Stadt des Landes zu reisen, um mit den dortigen Polizei- und Armeekadern die Sicherheitslage zu besprechen. Diesen Termin hält er bis heute ein.

Verschiedene Eigenschaften kamen Uribe für sein Amt zugute. Der nüchterne und etwas pedantisch wirkende Jurist aus Medellín mit Zusatzstudien in Oxford und Harvard liebt Zahlen. Mit ihnen können klare Ordnungen geschaffen, Dinge gezählt und Resultate verglichen werden. Sein Zahlengedächtnis ist berüchtigt. In Interviews verblüfft er mit detaillierten Statistiken, die den steten Rückgang ermordeter Gewerkschafter belegen, den Anstieg der Firmengründungen oder des Bruttosozialprodukts. Er weiss, wie viele Beamte in den Abteilungen tätig sind, wie gross ihre Arbeitsleistung ist und wie viele Angestellte es wirklich dafür brauchen würde.

Hilfreich war auch, dass er Frühaufsteher ist, unermüdlich fleissig und dazu mutig. Eine Reihe Attentate sind auf ihn verübt worden, sein Vater, ein Pferdezüchter, wurde von den Farc ermordet, ein Bruder schwerverletzt. Er liess sich nicht ablenken. Mit Geduld und Beharrlichkeit hält er an einer Politik fest, wenn er sie für richtig befunden hat.

Die meisten europäischen Medien versehen den Namen Uribe naserümpfend mit dem Zusatz «Hardliner», «rechtskonservativ», «treuer Verbündeter von George Bush». Er wird als Politiker der «militärischen Härte» klassifiziert, und mit vorwurfsvollem Unterton erwähnt man seine «unerbittliche Ablehnung» eines «humanitären Geiselaustausches». Als ob er und nicht die bewaffneten Banditen Geiseln halten und das Land terrorisieren würde. Besonders in den friedensfrömmelnden Hilfswerkmilieus verkörpert der arbeitsame Kolumbianer das Böse schlechthin. Man ist empört, dass er auf Gewalt setzt, statt ihre Friedensprojekte zu übernehmen. Etwa diejenigen des SUIPPCOL, eines vom EDA Micheline Calmy-Reys finanzierten Zusammenschlusses von NGOs wie Caritas, Heks, Amnesty International, Arbeitsgruppe Schweiz – Kolumbien, zur «Stärkung der Zivilgesellschaft in Kolumbien».

«Förderung der kolumbianischen Frauenfriedensförderung» hätte man für den Präsidenten im Angebot, denn: «Krieg und Frieden ist zu oft noch reine Männersache!». Oder: «Aufarbeiten von kollektiven Opfergeschichten», oder: «Vernetzung von Friedensinitiativen von unten aus der Sicht der Opfer (indígenas, afrocolombianos, Friedens- und Bauerngemeinden)». Schliesslich, so behaupten die Friedensexperten wider alle Realität (2005), habe der «bisherige Frontalangriff auf die Guerillas bis heute keine militärischen Resultate gezeitigt, ausser der Verschärfung der Waffengänge».

Überwältigende Zustimmung

Durch die Stärkung und Disziplinierung wurde die Armee nicht brutaler, wie der pazifistische, aber auf Uninformiertheit beruhende Abwehrreflex der Europäer nahelegt, sondern intelligenter und effizienter. Gut geführt, konzentrierte sie sich auf die Bekämpfung des eigentlichen Feindes, und die gefürchteten Grausamkeiten einzelner Armeeangehöriger an Zivilisten gingen rapide zurück. Auch wurden überwältigte Aufständische nicht mehr gleich erschossen, sondern man befragte sie systematisch.

Nach dem Verlust von vier Topkadern, unter anderem des legendären Gründers Tirofijo, durch Tod, Verrat und Desertion und nachdem es gelungen war, das Nervensystem der Farc, die elektronischen Kommunikationswege, zu unterbrechen, gab Uribe grünes Licht für die Befreiung von Ingrid Betancourt, der prominentesten Geisel der Welt, und für vierzehn weitere Gefangene, unter ihnen drei Amerikaner. Das Codewort für einen erfolgreichen Verlauf hiess «Viva Colombia». Die Operation, ein Meisterstück militärischer Kühnheit und höchster List, abgewickelt, ohne eine Kugel abzufeuern, auf einer Coca-Plantage im Südwesten Kolumbiens, war geglückt. Sie war letztlich die Frucht einer ausdauernden, realistischen Politik.

Gratulationen aus der ganzen Welt trafen für Uribe und seine Crew ein. Sie nahmen sie stolz entgegen. Eine Umfrage wenige Tage nach der Befreiung zeigte, dass überwältigende 91 Prozent hinter ihrem Präsidenten standen.

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