Die Weltwoche

24.07.2008

Von Eugen Sorg und Nathan Beck (Bilder)

Die Stille im Zentrum des Orkans

Während in Khartoum trügerische Ordnung herrscht, droht dem Rest des Sudans dauernd die Auflösung. Unterdrückte Stämme rebellieren gegen Diktator Bashir, und dieser reagiert mit einer Politik des Äussersten. Eine Reise in die Hauptstadt des Völkermords.

Das Zentrum Khartoums ist ein trostloser grosser Platz aus gestampfter Erde. Selten betritt ihn jemand, und wer es trotzdem tut, überquert ihn schnell, als wolle er nicht auffallen. Wenn gegen sechs Uhr abends in der Stadt die Rollladen der Geschäfte heruntergezogen und die Marktstände geschlossen werden, leeren sich die Gehsteige und Gassen bald, und bei Dunkelheit trifft man kaum mehr einen Menschen draussen an. Es gibt keine Flanierzonen, keine Bars, keine Musiklokale, keine Orte, wo das Volk sich zwanglos tummelt, sich herumtreibt und sich mischt.

Obwohl in Gross-Khartoum heute rund acht Millionen Menschen leben und es täglich viele Hunderte mehr werden, hat die Hauptstadt des Sudans am Zusammenfluss des Weissen und des Blauen Nils etwas Kulissenhaftes, Unwirkliches, fast Gespenstisches. Der Ölboom hat viel Geld ins Land geschwemmt, einheimische Profiteure, chinesische, malaysische, pakistanische Investoren verwandeln die Stadt in eine grosse Baustelle. Aber man kann sich schwer vorstellen, dass in den funkelnden Glaspalästen, die zwischen verlotterten Immobilien emporgezogen werden, tatsächlich Leute leben und arbeiten werden. Wenn die Stadt je eine Seele hatte, dann hat sie sich gut versteckt.

1956 wurde der Sudan von den Briten in die Unabhängigkeit entlassen. Gleichzeitig brachen in dem riesigen Land Revolten und Bürgerkriege aus, die bis heute andauern. Millionen flohen und fliehen vor der Gewalt und dem Hunger aus den Sümpfen des Südens, den Wüsten Darfurs, den Nuba-Bergen, und viele von diesen schlugen sich nach Khartoum durch, wo sie am Stadtrand Lehmhütten errichteten. Man schätzt, dass zwischen drei und vier Millionen in jenen Siedlungen ohne Toiletten und fliessendes Wasser leben, die als erdfarbener Gürtel die Stadt umlagern.

Umso bemerkenswerter ist es, dass Khartoum als sichere Stadt gilt. Er könne sich nicht daran erinnern, bestätigt mir Adam Cholong, einer der Herausgeber der Tageszeitung Khartoum Monitor, je von einer Messerstecherei gehört zu haben, und auch Diebstähle seien sehr selten. Früher hingegen habe es mehr Kriminalität gegeben, und mit früher meint er die Zeit vor 1983. In jenem Jahr hatte der damalige Militärdiktator Numeiri nach einem Schwenk von einem prosowjetischen auf einen prowestlichen und gleichzeitig islamistischen Kurs die Scharia eingeführt.

Das islamische Recht, das Biertrinker mit Auspeitschung, Diebe mit Handabhacken, Ehebrecherinnen mit Steinigung bestraft, entfaltete zumindest in Khartoum sein drakonisches, aber wirksames Regime und blieb auch nach Numeiris Sturz 1985 in Kraft. Ein dichtes Netz von Geheimdiensten und Quartierspitzeln sichert neben der religiösen auch die politische Hausordnung ab. Gegenwärtiger Herrscher ist General Omar al-Bashir, der 1989 mit einem Staatsstreich an die Macht gelangt war. Bei unseren Spaziergängen durch die Stadt waren die Agenten seiner Dienste allgegenwärtig. Alle paar hundert Meter tauchten sie wie aus dem Nichts vor uns auf und prüften schweigend unsere Dokumente.

Die Ruhe in Khartoum trügt, der Rest des Landes ist nicht unter Kontrolle, der Diktatur fehlt es an verlässlichem Personal. General Bashir und seine winzige Machtclique haben die Schlüsselstellen im Staat mit Getreuen aus den eigenen Stämmen besetzt, mit Jaalin, Shaiggia und Danagla. Diese drei sesshaften arabischen Stämme aus dem nördlichen Niltal beherrschen seit der Unabhängigkeit den Apparat, repräsentieren aber nicht einmal fünf Prozent der geschätzten 40 Millionen Einwohner. Der Sudan ist das grösste Land Afrikas, so gross wie Westeuropa, ein politisches Artefakt kolonialer Strategien. Sechshundert Stämme mit hundert verschiedenen Sprachen und Kulturen sind in ihm zu Hause. Ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl existiert nicht, hingegen die Bereitschaft der grossen Mehrheit, sich gegen die selbstsüchtige und skrupellose Elite in Khartoum zu erheben.

Die Überwachungsparanoia der Machthaber widerspiegelt die Realität, der Staat ist schwindsüchtig, jederzeit könnten die Verhältnisse kippen. Wie am 10. Mai, kurz vor unserer Ankunft, als in Omdurman, der Schwesterstadt Khartoums und von dieser nur durch eine Nilbrücke getrennt, plötzlich heftige Gefechte ausbrachen. Dreissig Fahrzeuge einer 2000 Mann starken Rebellentruppe der JEM (Justice and Equality Movement) aus Darfur waren fünf Tage lang unterwegs gewesen, tausend Kilometer durch eine leere Landschaft, in der sich nicht einmal ein Schakal verstecken könnte, ohne dass sie von der Armee gestoppt worden wären. Der Präsidentenpalast am anderen Nilufer war beinahe in Sichtweite, als sich ihnen endlich die persönliche Garde Bashirs entgegenstellte und sie vertrieb.

Im Schatten eines Baumes verkauft eine Frau heissen Tee. Ein paar Männer sitzen auf niedrigen Schemeln um sie herum. Wir gesellen uns zu ihnen. Es stellt sich heraus, dass die Frau und die meisten der Männer aus Darfur stammen. Seit wann sie in Khartoum sei, frage ich die Frau. «Seit ein paar Jahren.» «Warum sind Sie in Khartoum?» «Unsere ganze Familie ist gekommen», meint sie ausweichend. – «Wie ist das Leben hier?» – «Wir haben kein eigenes Haus. Und es ist schwierig, die Miete zu bezahlen.» «Wovon haben Sie in Darfur gelebt?» – «Wir waren Bauern.» «Steht Ihr Dorf noch?» «Ich weiss es nicht. Alle aus dem Dorf sind hier.» «Was ist eigentlich in Darfur los?» Sie mustert mich, dann zuckt sie mit den Schultern und lacht. «Ich verfolge die Dinge nicht. Die Probleme dort sind grösser als ich.»

Auch die Männer zeigen kein Interesse, über ihre Heimat zu reden. Sie seien wegen der Arbeit hergekommen, und keiner habe seinen Ort seit da wieder besucht. «Warum?» – «Weil man nicht wissen kann, ob man je ankommt.» Sie wechseln zum Thema Fussball, sie erzählen, dass ihr Nationaltrainer ein Deutscher sei, und sie loben das deutsche Spiel, die Stimmung wird besser, und dann fragt einer plötzlich, wie viele Moscheen es in meinem Land gebe. Einige, sage ich, und es würden immer mehr. Sie schauen sich vielsagend an, und es stellt sich heraus, dass sie am Fernsehen gehört haben, man wolle in der Schweiz die Moscheen verbieten. Nicht Moscheen, sage ich, nur den Bau von neuen Minaretten, aber das Volk würde wahrscheinlich gegen diese Forderung stimmen. Sie blicken misstrauisch, und um sie wieder aufzumuntern, sage ich, die Muslime würden viel mehr Kinder machen als unsere Leute und darum in fünfzig Jahren die Mehrheit stellen und wir alle würden Bärte tragen. Sie klatschen lachend in die Hände. «Ja», feixt einer, «wir machen schöne Fortschritte.»

Und wie ich die Frauen hier finde, fahren sie gutgelaunt fort. «Sehr schön», antworte ich, «obwohl ich nicht allzu genau hinschaue, denn ich will keine Probleme mit ihren männlichen Verwandten.» Sie gehen nicht darauf ein, sondern zeigen auf die Teeköchin und wollen wissen, was ich von ihr denke. Die junge Frau ist keine Schönheit, aber sie wirkt selbstbewusst und sympathisch. Der Schleier bedeckt nur lose ihr Haar, die strenge, wahhabitische Variante der Gesichtsverhüllung hat sich im Sudan mit seinen unorthodoxen, sufistischen Traditionen trotz islamistischen Anmassungen nie durchsetzen können.

Politik des genozidalen Schreckens

Sie sei sehr hübsch, antworte ich höflich, und mache einen ausgezeichneten Tee. Die Übersetzung meiner kurzen Aussage dauert verdächtig lange, und immer wieder lachen alle laut heraus. Die Frau lockert ihren Schleier, senkt leicht und anmutig ihren Kopf, klimpert mit den Wimpern und schenkt mir ein langes, überfreundliches Lächeln. «Was habt ihr zu ihr gesagt?» Erneut prusten sie los. «Dass du sie süss fändest wie Honig, anmutig wie eine Gazelle und schön wie eine Jasminblüte und dass du sie mitnehmen willst in dein Land.»

In der Schwäche der Regierung liegt ihre Gefährlichkeit. Ohne Rückhalt und Legitimierung und ohne ausreichenden Ordnungsapparat kann sie sich nur halten, wenn sie bereit ist, eine Politik des Äussersten, des genozidalen Schreckens zu betreiben: Massaker, verbrannte Erde, Aushungerung, Vertreibung. Zu Hilfe kommen ihr dabei traditionelle und neuere Animositäten.

Unzählige Trennlinien durchschneiden das Land. Die tiefste liegt zwischen den eher im Norden lebenden islamischen Arabern und den afrikanischen, christlich-animistischen, mehrheitlich im Süden lebenden Völkern. Die kriegerischen Arabernomaden, eingewandert im Zuge der muslimischen Expansion, betrachteten sich gegenüber den schwarzen, heidnischen Eingeborenen als überlegene Rasse und natürliche Herren. Mit regelmässigen Jagden belieferten sie während Jahrhunderten die Märkte von al-Fascher in Darfur bis Kairo und Dschidda mit Straussenfedern, Elfenbein und Negersklaven.

Ungeachtet dessen führten sie jedoch auch untereinander ewige Fehden um Weidegründe, Einfluss, Ehre. Und dem stehen die afrikanischen Stämme des Südens in nichts nach. In zwei Aufständen gegen Khartoum, die etwa vierzig Jahre dauerten und 2005 mit einem fragilen Friedensabkommen endeten, verloren sie drei Millionen Menschen. Die unerträgliche Dauer und Grausamkeit des Konflikts hatten auch damit zu tun, dass sich die Rebellenarmee SPLA (Sudan People’s Liberation Army) immer wieder entlang ihrer tribalen Grenzen spaltete und selbst bekämpfte.

Ein Kollege hatte mir gesagt, Khartoum sei eine Stadt der offenen Türen. Er hatte Recht. So abweisend sie nach aussen wirkte, so unkompliziert war es, kurzfristig Termine auch mit hochgestellten Personen zu vereinbaren. Die Gespräche mit den Politikern und Intellektuellen verstärkten allerdings mein Gefühl, mich in einer irrealen Sphäre zu bewegen. Die meisten machten das zentralistische, von den Engländern eingeführte Staatssystem für die Kriege verantwortlich. Sie erörterten Verfassungsfragen, erwähnten gebrochene Verträge und stellten Vergleiche an. «Wir sind nicht so hart und so gespalten wie im Irak» oder: «Somalia ist noch mehr im Schlamassel als wir. Die Somalis sind unrealistisch, kriegerisch und lustig. Sie beschweren sich und fragen: ‹Warum war der Prophet Mohammed kein Somali?›» Und als ob sich der Sudan nicht schon ewig in heillos anarchischem Zustand befände und als ob man die Welt aus dem Kopf neu erschaffen könnte, entwarfen sie todsichere politische Konzepte und Lösungsstrategien. ›››

Ihre Gedankengänge schienen mir oft zwischen Begriffsgläubigkeit und Fantastik zu changieren und neigten zu Rechthaberei. Nur wenn es, wie im Fall der Somalier, um eine andere Gruppe ging, verliessen sie manchmal den förmlichen Diskurs und wurden direkter. Als beim Treffen mit Adam Cholong, südsudanesischer Christ und Herausgeber des Khartoum Monitor, mein arabischer Übersetzer das Zimmer verliess, meinte Adam, ich solle nicht glauben, was die Araber erzählen. «Sie lügen. Nichts stimmt, was sie sagen.» Später fragte ich den Übersetzer, was er von Adam halte. «Nicht viel. Die Afrikaner aus dem Süden lügen und stehlen.»

Vor allem aber fiel mir im Nachhinein auf, dass die Interviewten sozusagen nie über die Opfer der Tragödie in Darfur oder in anderen Gegenden gesprochen hatten. Wenn ich sie auf die ungewöhnliche Brutalität der Vorgänge ansprach oder auf die Lage der Davongekommenen, dann reagierten sie mit Verachtung für die Täter «Ungebildete, Wilde, die können wahrscheinlich nicht einmal richtig beten» , oder sie wiegelten ab: «Missverständnisse, Kriminelle, einzelne Zusammenstösse.» Letzteres, wenn sie mit den Angreifern über Stammesbeziehungen verbunden waren. Aber die Opfer waren kein Thema. Weder stellte jemand die Frage, wie es mit Überlebenden weitergehen soll, noch wurde Mitleid geäussert.

Der Aufstand im Westen des Sudans, im vernachlässigten Darfur, wurde 2003 von Rebelleneinheiten der nichtarabischen Stämme der Fur, Massalit und Saghawa losgetreten. In jenen Tagen zeichnete sich das Friedensabkommen zwischen Khartoum und der SPLA ab. Die südsudanesische Guerilla hatte vorgemacht, dass man mit bewaffnetem Kampf Rechte erzwingen kann.

Spannungen und Rassendünkel

Khartoums Antwort auf die Attacken gehorchte eingeübten Reflexen. Transportflugzeuge der Armee warfen Fässer gefüllt mit Sprengstoff und Schrott über den Siedlungen der Aufständischen ab, nachfolgende Kampfhubschrauber dezimierten die Fliehenden mit Maschinengewehrgarben, und die Überlebenden wurden von den gefürchteten Dschandschawid, den arabischen Reiterhorden, mit den Häusern verbrannt, massakriert, vergewaltigt, verschleppt.

Zwischen den nomadisierenden Arabern und den meist sesshaften afrikanischen Bauern besteht in Darfur seit je ein diffiziles Verhältnis. In Trockenzeiten schrumpfen die Weideflächen, und die Wanderhirten weichen auf der Suche nach Nahrung auf die Hirseäcker der Bauern aus. Die Spannungen und den Rassendünkel der Abkömmlinge der Sklavenhalter ausnützend, bewaffnete nun die Regierung die Beduinen mit Kalaschnikows und Panzerfäusten und schickte sie los. Als Lohn erwartete sie Beute, Enthemmung und Straffreiheit. Allein in Norddarfur, im kargen Reich der Kamele züchtenden Rizeigat, entstand bald eine Armee von 20 000 Dschandschawid, befehligt vom Stammesoberhaupt Musa Hilal. Und Tausende von arabischen Brüdern aus Libyen, Marokko, Niger schlossen sich den erbarmungslosen Brigaden an.

Nicht alle arabischen Stämme beteiligten sich am Feldzug. Said Madibo, das Oberhaupt der wohlhabenden, Rinder züchtenden Rizeigat in Süddarfur, beispielsweise verweigerte sich Bashirs Kriegsruf. Die Rizeigat seien schon immer für friedliches Zusammenleben eingestanden, begründete er den Entscheid. Andere sagen, Said Madibo sei gekränkt gewesen, weil ihn Bashir nicht in die Friedensverhandlungen mit der SPLA einbezogen habe, obwohl seine Nomaden für Khartoum gegen die heidnischen Aufständischen im Süden und in den Nuba-Bergen gekämpft hatten.

Die Rizeigat sind ein mächtiger Stamm, angeblich von der arabischen Halbinsel eingewandert, und die Madibo sind sein edelstes Geschlecht. Eine der stolzesten Überlieferungen erzählt, wie Vorfahre Ali Madibo, Emir von Darfur, seine Krieger in die Schlacht gegen die Armee von Slatin Pascha führte und 8000 von dessen Männern in weniger als 20 Minuten niedermachte.

Waleed Madibo, Neffe des Rizeigat-Oberhaupts, will nun die definitive Abkehr von der rauen Tradition seines Stammes einleiten. Er führt in Khartoum das Governance Bureau, eine NGO, die in der Kunst des richtigen Regierens beraten will. Er hat an der Universität Florida Politik studiert, das Doktordiplom hängt an der Bürowand. Der erste Schritt zum Frieden besteht für ihn offenbar in der Pazifizierung der Sprache. Wenn der elegante Enddreissiger über den Bürgerkrieg in Darfur doziert, macht sich die beruhigende, einschläfernde Stimmung eines akademischen Seminars breit. Die Tragödie gerinnt zum geruchlosen theoretischen Problem, alle hässlichen Worte sind verdampft.

Verschiedene «historische, dialektische Konflikte» spielen eine Rolle, referiert Dr. Waleed, zwischen «mobilen und arbeitenden Klassen», zwischen «Zentrum und Peripherie». Warum diese Grausamkeiten? Sie seien vorgekommen, ja, aber «lasst uns von Fragen, wer die Grausamkeiten begangen hat, Abstand nehmen». Dschandschawid? Er möge dieses Wort nicht. «Aber wer tötete wen?» «Eine komplizierte Frage, über die viel geschrieben worden ist.» Es sei getötet worden, ohne Zweifel. Umweltprobleme spielten eine Rolle, Bevölkerungswachstum, Gesetzlosigkeit.

«Musa Hilal, der Führer der nördlichen Rizeigat-Stämme, hat gesagt, dass die afrikanischen Stämme aus Darfur verschwinden müssen.» Dr. Waleed wird ungeduldig. «Wir haben keinen Konflikt zwischen arabischen und afrikanischen Stämmen. Wir haben einen politischen Konflikt. Tribalismus ist ein kulturelles, kein rassisches Phänomen. Rasse ist eine westliche Idee.» «Die Überfälle der Dschandschawid auf deren Dörfer fanden unter dem Schlachtmotto ‹Tötet die Sklaven› statt.» «Die westlichen Medien wollen ablenken vom Israel-Palästina-Konflikt, indem sie ein Bild vom bösen Araber zeichnen.»

Pulverfass der Welt

Lösungen? Waleed Madibo wechselt mühelos in den internationalen Jargon der Hilfswerkszene. Er redet von «Stärkung der Zivilgesellschaft», «Workshops mit lokalen Partnern», «friedvoller Integration», «Wandel von unten», der sich in «konzentrischen Kreisen» ausbreitet, selbstverständlich «nachhaltig». Er moniert, dass die «internationale Gemeinschaft» bisher «nichts getan» habe und verweist immer wieder auf die «menschliche Verpflichtung» der Welt, «vor allem Amerikas», den Aufbau Darfurs zu finanzieren, wobei er damit eher seine Organisation meint. Ansonsten, so Dr. Waleeds diskreter Druckversuch, könnte Darfur zum «Ort des grössten Massakers der Geschichte» werden und den «Rest der Welt in Brand setzen». Er übergeht, dass sich Hunderte von Hilfsorganisationen um die Flüchtlinge kümmern und dass die Regierung Bush allein 2004 und 2005 zweieinhalb Milliarden Dollar für Darfur gespendet hat.

Gleich nach dem Raid der JEM-Rebellen auf Khartoum vom 10. Mai wurde der islamistische Politiker und Intellektuelle Hassan al-Turabi kurzfristig verhaftet. Die Regierung verdächtigt ihn, mit den Rebellen gemeinsame Sache zu machen. Das Misstrauen ist nicht abwegig, beim JEM kämpfen Islamisten, ihr Anführer ist ein Vertrauter Turabis. Seit über vierzig Jahren spielt der 76-Jährige eine zentrale Rolle im sudanesischen Chaos. Wir rufen ihn an, und er lädt uns gleich zu sich ein.

Als promovierter Jurist 1964 von der Pariser Sorbonne nach Khartoum zurückgekehrt, schloss sich Turabi den Muslimbrüdern an. Gegründet 1928 vom Ägypter Hassan al-Banna, strebt die Muslimbruderschaft eine Rückkehr zum reinen Islam an. Vergleichbar mit dem Jesuitenorden setzt sie wie dieser auf Konspiration, Infiltration des Staatsapparates, Unterwanderung der Eliten, zuerst der arabischen, später der westlichen. Von der Hamas bis zu al-Qaida wurde sie die Matrix aller späteren Sekten des politischen Islams. Turabi, hoch gebildet, agil, in Ost und West zu Hause, verkörperte den Idealtypus des Muslimbruders, wurde bald Führer der sudanesischen Gruppe und gründete eine Partei, die Nationale Islamische Front (NIF).

Es folgten wechselhafte Jahre. Von Putschgeneral Numeiri zuerst für mehrere Jahre ins Gefängnis geworfen, berief ihn dieser 1979 zum Generalstaatsanwalt. Turabi war der Autor der berüchtigten Septembergesetze von 1983, die den Sudan in einen Gottesstaat verwandelten und den Bürgerkrieg im Süden entfesselten. Nach dem Sturz Numeiris wurde 1986 Sadiq al-Mahdi Urenkel des Mahdi und Schwager Turabis Premierminister, um drei Jahre später durch Bashirs Militärcoup abgesetzt zu werden. Geheimer Drahtzieher des Staatsstreiches war Turabi.

Die Neunziger wurden seine einflussreichste Zeit. Die internationale Presse nannte ihn den «schwarzen Papst» oder «Lenin des Islamismus». Als Graue Eminenz des Regimes verschärfte er die Scharia, weihte das Gemetzel im Süden zum Dschihad und machte Khartoum zur Weltmetropole des heiligen Terrorismus. Bin Laden zog mit seiner Familie in die Nachbarschaft Turabis, und dieser gab ihm eine seiner Nichten zur dritten Frau. Attentatsmeister Abu Nidal fachsimpelte an Konferenzen mit Carlos, dem Schakal, Hisbollah-Führer debattierten mit iranischen Geheimdienstlern über die besten Entführungsstrategien.

Beim Anschlag von 1993 auf das World Trade Center in New York waren fünf der fünfzehn Verdächtigen Sudanesen. Als zwei Jahre darauf der ägyptische Staatschef Mubarak knapp einem Attentat entging, lobte Turabi den Anschlag, und es gab starke Indizien, dass die sudanesische Regierung in die Verschwörung verwickelt war. US-Präsident Clinton verhängte Sanktionen und liess 1998 eine angebliche Fabrikationsstätte für chemische Kampfstoff in Nordkhartoum bombardieren.

Der Druck auf den Sudan wuchs, zwischen Bashir und Turabi entwickelte sich ein Machtkampf. Turabi träumte weiterhin von einem panislamischen Grossreich, während Bashir eher daran gelegen war, die Pfründe seines reich gewordenen Stammes zu erhalten. Nach dreissig Jahren taktischer Hochleistungen und brillanter Schachzüge bis an die Spitze der Macht wurde Turabi 1999 aus seinen Ämtern entfernt. Bashir, der grobe, unterschätzte Soldat, war schlauer gewesen als der hochmütige Intellektuelle Turabi. Dieser hat es bis heute nicht mehr zurück in den Regierungspalast geschafft. Aber sein Ansehen ist noch gross, vor allem unter der studentischen Jugend.

Weltweite Renaissance des Islam

Während wir im Gästezimmer auf den Alten warten, gesellt sich Issam, einer seiner Söhne, zu uns. Der rund vierzigjährige Geschäftsmann war ein Freund Bin Ladens gewesen, mit dem er jeden Freitag auf der Pferderennbahn Runden drehte. Osama sei ein typischer «Saudi Boy» gewesen, ein ausgezeichneter Reiter, der seine Pferde mehr als alles andere liebte. «Osama war dünn und sprach weich und leise. Nicht er, seine Ägypter sind die Killer, Zawahiri und die anderen. Sie sind zum Töten geboren, es ist ihre Natur. Osama war sanft.» Am nächsten Tag wird uns Issam auf seine Pferdefarm mitnehmen und seinen Stolz vorführen: eine feingliedrige arabische Stute, Bin Ladens Lieblingspferd, das er Issam schenkte, als er den Sudan verlassen musste und nach Afghanistan weiterreiste.

Unverhofft tritt Vater Turabi in den Raum. Klein und zierlich bewegt er sich flink, seine Augen sind wach, seine Laune ist blendend. Ohne eine Frage abzuwarten, setzt er zu einem einstündigen Diskurs an, der im lockeren Plauderton durch die ganze Weltgeschichte mäandriert und sich schwer unterbrechen lässt. Er preist das Wiederaufleben des Islams nach dem Kollaps der sozialistischen Ideen. Auf der ganzen Welt erlebe man seine Ausbreitung, auch in Russland, England, Frankreich. Die Muslime, einst mächtig, hätten der Welt viel von ihrem Wissen gegeben, in Spanien zum Beispiel, bis man sie dort verjagt habe. Die islamische Renaissance knüpfe an diese grosse Tradition an, viele junge europäische Muslime studierten an Universitäten.

Was der Westen vom Islam lernen könne, versuche ich dazwischenzuwerfen. Dialog und Toleranz, antwortet er und zwinkert mir einvernehmlich zu, wenn wir mit dem Islam zu tun hätten, müssten wir zuerst sprechen und nicht schiessen. Darauf schimpft er Bush und Blair Lügner, lacht über Clinton und seine Affäre mit Monica Lewinsky, der, um davon abzulenken, die Medikamentenfabrik in Khartoum zerstören liess, und er höhnt über Reagan, den er im Oval Office getroffen hätte und der gemeint habe, der Sudan liege südlich von Brasilien. Aber der Einfluss des Westens sei am Schwinden, die Zivilisation verlagere sich in den Osten, nach China, Indien, das westliche Wissensmonopol sei aufgebrochen.

Einige Male kommt er auch auf das Christentum zu sprechen, welches von allen Doktrinen dem Islam am nächsten stünde, aber weniger rational als dieser sei. So habe jedes richtige Unternehmen nur einen Chef und nicht drei, wie die Christen mit Gott, Sohn und Heiligem Geist. Überhaupt, spöttelt Turabi, dessen Gesetzgebung die Beleidigung des Propheten mit dem Tode bestraft, überhaupt sei der Christengott, der zuliess, dass sein Sohn gekreuzigt wurde, ein seltsamer Gott. Einen solchen Vater müsste man vor Gericht stellen. Er selber würde bis ans Ende des Lebens für seinen Sohn kämpfen.

Irgendwann frage ich, warum die arabischen Länder trotz Ölreichtum derart zurückgeblieben seien. Sie, die Araber, pariert er, hätten die höchstentwickelte Sprache der Welt, und die Sprache folge bekanntlich dem Hirn. Ihre Zungen seien aktiv, aber nicht ihre Hände, sie liebten es nicht, hart zu arbeiten. Und sie seien leicht erregbar. Ein böses Wort, und sie explodierten. Der ständige Streit verhindere die Einheit.

Zum Schluss erwähnt er den Angriff der Darfur-Rebellen auf Khartoum. Er zeige, wie verletzbar die Regierung sei. Er habe Bashir gesagt, er solle mit den Darfuri zusammensitzen und reden, statt sie zu unterdrücken. Aber Bashir sei so wütend geworden, dass er den Tisch umgestossen habe. Als ich ihn fragen will, warum er dies mit dem Süden nicht selber gemacht habe, steht er auf und bedankt sich lächelnd für die interessante Unterhaltung.

Sudan am Pranger

General Omar al-Bashir, Sohn arabischer Bauern aus dem Niltal, putschte sich 1989 im Sudan an die Macht und errichtete mit Hilfe einer Clique Islamisten einen Gottesstaat. Während fünfzehn Jahren führte er einen Vernichtungskrieg gegen Aufständische im Süden. Vernachlässigung und Diskriminierung bewirkten, dass 2003 auch in der Provinz Darfur die nichtarabischen Stämme rebellierten. Khartoum reagierte brutal. 300 000 Menschen starben seither, hauptsächlich Zivilisten, die meisten in den zwei ersten Jahren, und weitere zweieinhalb der sechs Millionen Darfuri wurden vertrieben. Vom Internationalen Strafgerichtshof ICC wurde Bashir nun u. a. wegen Völkermord zur Verhaftung ausgeschrieben. Aber der ICC hat keine Macht, den Gesuchten zu ergreifen. Zudem können der verbündete Ölkunde China, aber auch Russland oder Libyen als Mitglieder des Uno-Sicherheitsrates das Verfahren stoppen. Und die afrikanischen und arabischen Autokraten schützen ihren Kollegen. Bashir muss weit mehr einen Coup seiner Offiziere fürchten als die moralische Demonstration aus Den Haag.

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