Die Weltwoche / Von Eugen Sorg

18.12.2008

Kalter Krieg

Der Mann, der die Welt rettete

Der ehemalige sowjetische Offizier Stanislaw Petrow bewahrte vor 25 Jahren die Menschheit vor einem möglichen Atomkrieg. Er erntete keinen Dank dafür. Seine Vorgesetzten erteilten ihm eine Rüge und versetzten ihn in eine andere Einheit.

Können Sie mir erzählen, was in der Nacht vom 26. September 1983 genau passierte?

Ich war diensthabender Offizier in der Kommandozentrale der Satellitenüberwachung Serpuchowo-15. Unsere Aufgabe war es, vor Raketenangriffen zu warnen. Es war Zufall, dass ich dort war. Ich vertrat einen Kollegen. Um Viertel nach Mitternacht, als mein Unteroffizier und ich gerade das Teegeschirr wegräumten, heulte plötzlich der Alarm. Laut und durchdringend wie ein Dampfer, viel lauter als bei einem Testalarm. Auf dem grossen Bildschirm an der Wand erschien das Wort «Start», und über einem der auf der elektronischen Karte eingetragenen amerikanischen Raketenstützpunkte leuchtete die Ziffer 1.

Was bedeutete das?

Dass die Meldung, eine amerikanische Atomrakete sei abgefeuert worden, höchste Glaubwürdigkeit hatte.

Was dachten Sie, als Sie das sahen?

Was sollte ich denken? Ich habe nur gesehen, dass das System einen Raketenangriff meldet. Ich musste mich entscheiden: Entweder hat das System recht, oder es ist ein Fehlalarm.

Was taten Sie?

Eine klare Sache. Ich handelte gemäss den Vorschriften, und diese sahen vor, dass ich eine Reihe von Handlungen ausführen musste. Zuerst kontrollieren, ob einzelne Bestandteile des Systems wie Steuerung und Aufklärung funktionierten. Unsere Satelliten kreisten über den amerikanischen Stützpunkten und übermittelten präzise Bilder von den Bodenaktivitäten an die Monitore in unserer Zentrale. Auf dem Monitor war nun kein Raketenstart zu sehen, andererseits war von den drei Satelliten nur gerade einer über dem besagten Stützpunkt. Wie weiter? In den Vorschriften war nicht angegeben, wie viel Zeit ich hatte, um den einander widersprechenden Informationen nachzugehen.

Wie lange dauerte der Flug einer Rakete von Amerika bis nach Moskau?

Vom Start bis zum Einschlag maximal dreissig Minuten. Ich musste eine Entscheidung treffen. Ich neigte zur Auffassung, dass es ein Fehlalarm war, konnte aber nicht ausschliessen, dass es wirklich eine Rakete war, nahm diese jedoch in Kauf, weil es ja nur eine einzelne war. Zitternd meldete ich an die operative Führung der Streitkräfte, dass es sich um einen falschen Alarm handle. Ansonsten, das war mir klar, hätten sie unter Umständen einen Gegenschlag angeordnet, und ich wäre, Gott behüte, der Auslöser eines Atomkrieges gewesen.

Wie reagierte der Offizier in der operativen Zentrale?

Während ich ihm am Telefon die Lage erklärte, heulte eine zweite Sirene auf. Ich zitterte noch mehr, teilte ihm aber mit, es handle sich ebenfalls um einen Fehl-alarm. Zum guten Glück akzeptierte er diese Auskunft und quälte mich nicht mit genauem und bohrendem Nachfragen. Ich solle ruhig weiterarbeiten, meinte er, aber ich war alles andere als ruhig. Ich musste mich schnellstens vergewissern, ob ich tat-sächlich recht hatte, denn ich war mir überhaupt nicht sicher. Kaum hatte ich das Telefon aufgehängt, ging ein dritter und etwas später ein vierter Alarm los.

Damals herrschte Kalter Krieg. Die Sowjetunion hatte Afghanistan besetzt, US-Präsident Ronald Reagan bezeichnete Russland als Reich des Bösen. Rechnete man in Russland tatsächlich mit einem Atomangriff der Amerikaner?

Ja, jederzeit. Drei Wochen zuvor hatten wir ein südkoreanisches Flugzeug abgeschossen, und der ganze Westen hallte wider von der Empörung. Die Amerikaner stationierten ihre Pershing-Raketen und ihre Marschflugkörper in Westeuropa, und wir hatten unsere Raketen näher zum Westen hingerückt. Die Lage war sehr, sehr gespannt. Noch nie waren wir so nahe an einem Krieg.

Umso erstaunlicher war es, dass Sie auf Fehlalarm entschieden.

Ich war, wie gesagt, nicht hundert Prozent sicher. Aber ich überlegte mir auch, dass die Amerikaner einen Erstschlag nicht von einem einzigen Stützpunkt aus und dazu mit wenigen Raketen ausführen würden.

Was passierte weiter?

Es gab keine weiteren Alarme, und nach etwa drei Stunden kam mein höchster Vor-gesetzter, Generaloberst Wotinzew, aus Moskau in meine Zentrale. Er stellte ein paar Fragen, und danach wurde eine Kommission gebildet, um die Ursache des Fehlalarms zu finden. Sie suchten in den In-formationsverarbeitungs-Programmen der Computer, aber sie lagen falsch. Niemand dachte an die Lichtverhältnisse, die sich bei einer bestimmten Stellung von Sonne, Erde und Satellit ergeben können. Als ein Lichtstrahl auf einer Wolkenschicht besonders stark reflektiert wurde, interpretierte dies der Aufklärungssatellit als Startblitz einer Interkontinentalrakete.

Wer hat das herausgefunden?

Etwa zwei Monate später ein ziviler Com-puterspezialist, ein Freund von mir, deraber nicht in dieser ausschliesslich von Militärs besetzten Kommission vertreten war.

Stanislaw Petrow, bekamen Sie eine Auszeichnung?

Nein. Ich bekam von General Wotinzew eine Rüge, weil ich die Vorfälle nicht im Dienstbuch festgehalten hatte. Ich kannte das Dienstreglement sehr gut, denn ich hatte es selber verfasst. Aber die Einträge zu schreiben, war mir physisch unmöglich, weil ich mit der linken Hand telefonieren und mit der rechten das Mikrofon für den Kontrollraum halten musste.

Sie waren damit beschäftigt, die Welt zu retten, und hatten darum keine Zeit, den Rapport zu schreiben.

Die Militärs konnten nicht zugeben, dass ihr System nicht perfekt war, und suchten daher einen Sündenbock. Ich wurde versetzt.

Hat sich später jemand bei Ihnen bedankt?

Nein. Das heisst, vor vier Jahren besuchten mich Vertreter der Vereinigung der Weltbürger und übergaben mir 1000 Dollar und einen Pokal. (Holt ihn: eine Hand, die die Weltkugel hält.) Er ist ein wenig verstaubt. Und vor zwei Jahren bekam ich von der Uno eine Auszeichnung.

Auf dem Pokal steht: «Für den Mann, der den nuklearen Krieg verhinderte.» Darf ich Ihnen gratulieren?

Das macht mich ein wenig verlegen. Hören Sie, ich habe nicht viel überlegt, sondern eine Gefahr gesehen und reagiert. Es war eine Pflichtübung, die jeder machen muss, der einen Dienst ausübt. Ich war einfach zufällig das erste Hähnchen am Morgen, das kikeriki gemacht hat, und die anderen sind mir gefolgt.

Stanislaw Petrow ist Ingenieur für Radioelektronik, spezialisiert auf algorithmische Systeme. Er lebt von einer kleinen Offiziersrente in Frjasino, 60 Kilometerausserhalb Moskaus, und teilt mit seinem alleinstehenden Sohn eine Drei-Zimmer-Plattenbauwohnung.

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