Die Weltwoche

16.07.2009

Hermeneutik der Ursünde

Den Völkermord in Ruanda hielt trotz Ankündigungen niemand für möglich. Beim Gemetzel kam gegen eine Million Tutsi um. Es folgten hilflose Ferndiagnosen sogenannter Experten. Die Geschichte könnte sich jederzeit wiederholen.

Von Eugen Sorg

Im Jahre 1992 erschien «The End of His-tory and the Last Man» (deutsche Ausgabe: «Das Ende der Geschichte») des Amerikaners Francis Fukuyama. Der damals 40-jährige Politikprofessor vertrat die These, dass mit dem Kollaps des totalitären Sowjetimperiums und dem Sieg der liberalen westlichen Demokratien das Zeitalter der ideologischen, kulturellen, sozialen und realen Kriege abgeschlossen, das heisst das Ende der Geschichte erreicht sei. Die Menschheit habe ihre Lehren gezo-gen, die Posthistorie bestehe aus vernünftigem Handeln und wachsendem Wohlstand. Zumindest für Fukuyama erfüllte sich die Prognose: Das Buch machte ihn weltberühmt und wohlhabend.

Ansonsten wurde es jeden Tag vom weiteren Verlauf der Ereignisse widerlegt. Schon Anfang der Neunziger hätte man sehen können, dass mit dem Islamismus eine mächtige antiwestliche Kraft entstanden war, eine irrationale, apokalyptische Bewegung, die im Iran bereits die Macht erobert hatte und in vielen anderen muslimischen Ländern nur mittels äussers-ter Gewalt daran gehindert werden konnte. In Russland wiederum mutierte der sieche Kommandokommunismus zu einem mafiösen Schlägerkapitalismus, angeführt von einem undurchsichtigen ehemaligen Spion und seiner Clique aus alten Geheimdiensttagen. Und gerade kürzlich konnte man die Fragilität der erfolgreichen westlichen Ökonomie erleben.

Ruanda, die Schweiz Afrikas

Fukuyamas Entwurf ist nicht die singuläre Fehleinschätzung eines krassen Naivlings, der sich auf die Weltgeistdialektik Hegels stützt. Fukuyama spiegelt die Lebensrealität des durchschnittlichen westlichen Berufsintellektuellen. Er ist Teil einer nach eigenen Gesetzen funktionierenden Gemeinschaft. Seine grössten existenziellen Erschütterungen sind ausgebliebene Beförderungen, Buchverträge und Kollegen-Neid, eine Hypothekarzinserhöhung, eine Affäre mit einer Studentin, eine Prostataoperation. Lärm, Wirrnis und Schweiss der übrigen Welt dringen kaum zu ihm vor. Sein kognitives System lässt nur die Wahrnehmung anderer kognitiver Systeme zu. Die reale Welt aber ist chaotisch und unberechenbar.

Zwei Jahre nach Erscheinen von Fukuyamas Bestseller ging im afrikanischen Ruanda ein Gemetzel los. Der Mehrheitsstamm der Hutu machte sich in einer eigenen, monströsen Interpretation vom Ende der Geschichte daran, den Stamm der Tutsi auszulöschen. Ruanda galt als Schweiz Afrikas, ein kleines Land mit fleissigen Leuten, relativ wohlhabend, verhältnismässig unkorrupt.

Die Verwandlung von braven Ackerbau-ern, Krämerladenbesitzern, Schulinspektoren, Pfarrern in Massenmörder geschah schnell und reibungslos. In drei Monaten brachten sie gegen eine Million Tutsi um. Sie töteten sie einzeln, meist mit einer Machete, manchmal mit einem Prügel. Statistiker haben ausgerechnet, dass es der effizienteste Genozid in der Geschichte war, mit einer höheren Tötungskadenz als der des hochentwickelten Nazistaats mit seiner elaborierten Bürokratie, seinem Eisenbahnnetz, seinen Maschinengewehren und Gaskammern. Bisher waren es Staaten gewesen, die Völkermorde begangen hatten. In diesem Fall war es die Bevölkerung selber.

Alle beteiligten sich an der Vernichtung,die sie Arbeit nannten. Früher als sonst, um sechs Uhr, stand man auf, nahm ein herzhaftes Frühstück zu sich, ging zum Versammlungsplatz und machte sich auf zur Jagd auf die «Kakerlaken», wie sie die Tutsi nannten. Man zerhackte das befreundete Nachbarspaar, liess den Sohn an dessen Kindern üben, erschlug die eigene Tutsi-Ehefrau, verfolgte die Flüchtenden bis in die letzten Winkel der Wälder und Sümpfe. Pünktlich um 16 Uhr signalisierte der Pfiff einer Trillerpfeife den Feierabend, und auf dem Heimweg plünderte man die Häuser der Getöteten, um sich danach das Blut und den Dreck abzuwaschen und zu essen und zu trinken und für den nächsten Tag wieder bereit zu sein.

Der Schock auf diese Nachrichten aus der Hölle war noch nicht überwunden, als die sogenannten Experten, von denen keiner die Ereignisse vorausgesehen oder nur mit einem der Akteure geredet hatte, ihre Ferndiagnosen ablieferten. Die meisten gaben wie üblich, wenn sich Schwarze umbrachten, den Weissen die Schuld, in diesem Fall der ehemaligen Kolonialmacht Belgien, die vier Jahrzehnte das Land verwaltet hatte. Diese erst habe den Rassismus in Ruanda eingeführt, indem sie die Tutsi bevorzugt und damit einen giftigen Unterlegenheitskomplex bei den Hutu erzeugt habe. Andere erklärten die Überbevölkerung zur Ursache, und der Schweizer Schriftsteller Lu-kas Bärfuss versuchte sich noch an einer dritten These. In seinem Roman «Hundert Tage» lässt er den Protagonisten, einen Schweizer Hilfswerkler in Ruanda, über die Mitschuld seines Heimatlandes am Gemetzel räsonieren. Ordnung, Zuverlässigkeit, Disziplin, diese helvetischen Kardinaltugenden, «unseren Stolz», hätten sie ins «Herz des schwarzen Kontinents» getragen und gelehrige Schüler gefunden. Doch sie hätten übersehen, «dass jeder Völkermord nur in einem geregelten Staatswesen möglich ist», denn nichts «liebt das Böse mehr als den korrekten Vollzug». Keiner der Expertengilde machte die Täter selbst verantwortlich oder suchte konkret und ernsthaft nach Motiven ihres Tuns. Und keiner sagte laut, was die meisten wahrscheinlich insgeheim dachten: dass man von diesen primiti-ven, halbwilden Buschmenschen nichts anderes erwarten konnte.

Eine Ausnahme in jeder Hinsicht bildet das Buch «Zeit der Macheten» des Journalisten Jean Hatzfeld. Der Franzose, der schon aus dem Bosnienkrieg berichtet hatte und Ruanda aus eigener Anschauung kannte, wusste, dass man nichts über das Wasser schreiben konnte, ohne selber nass zu werden. Um genauer zu verstehen, was die wirklichen Motive der Mörder waren, interviewte er acht Jahre nach dem Genozid eine Gruppe von Tätern, eine Freundesclique aus der Gemeinde Nyamata südlich der Hauptstadt Kigali. Früher hatten sie sich in denselben Kneipen getroffen, dann waren sie gemeinsam auf Menschenjagd gegangen, und jetzt waren sie in einem Lager eingesperrt. Einer der zehn Kumpane wartete auf seine Hinrichtung, die anderen auf ihre Freilassung. Von den 59 000 Tutsi der Gemeinde waren 50 000 umgebracht worden. Hatzfeld wollte alles wissen: Warum habt ihr getötet, wie war das erste Mal, was habt ihr dabei gedacht, wie und wo habt ihr getötet, wie haben die Opfer reagiert, bereut ihr eure Taten?

Das Resultat dieser wochenlangen Gespräche ist ein einzigartiges Menschheitsdokument, eine Hermeneutik der Ursünde, eine homerische Fahrt durch das Reich der menschlichen Grausamkeit. Hatzfeld traf die zehn Freunde in guter körperlicher und seelischer Verfassung an und stellte fest, dass sie keine Gewissensbisse zeigten. Sie philosophierten sachlich über Techniken des Tötens: «Letztlich ist der Mensch ja auch wie ein Tier; du führst den Schnitt gegen den Kopf oder Hals, und er fällt von selbst um»; sie lobten ihre gute Zusammenarbeit bei der «Arbeit»; und alle beschrieben sie die damalige Zeit als eine einzige Feier. Die Plünderungen verschafften ihnen unbeschränkt Fleisch, Bier, Wellblech, Transistorradios und neue Kleider für die zufriedenen Frauen; sie hatten Sex mit den hübschen Tutsimädchen, bevor sie sie lachend töteten; und das stumme Zittern der Todgeweihten und das Stöhnen der Getroffenen schenkten ihnen den Rausch der Allmacht. Sie wussten, dass sie Böses taten, aber «wir platzten förmlich vor Wichtigkeit, so sehr, dass wir auf die Existenz Gottes pfiffen».

Es gibt keinen Trost

Hatzfelds Studie hält keinen Trost bereit. Die Täter sind keine sadistischen Psychopathen oder empathisch Invalide, die Mehrzahl hegte nicht einmal eine spezielle Abneigung gegen die Tutsi, und sie sind alles andere als vorzivilisierte Barbaren. Ihre Sprache ist differenziert, und sie äussern ihre Gedanken anschaulich und überlegt. Sie sind normale, intelligente Mitmenschen, für deren Handeln es keine Erklärung gibt ausser einer: Sie haben sich für das Böse entschieden. Weil es ihnen Lust verschaffte und weil sie glaubten, damit durchzukommen.

Warum man dieses Buch lesen sollte? Es ist zwar keine Erbauungsliteratur, aber es macht einen gescheiter. Es ist eine tiefgründige Studie über die menschliche Natur. Es erinnert daran, dass die Decke der Zivilisation hauchdünn ist. Nichts ist gesichert, alles kann jederzeit kippen. Es zeigt, dass die Bereitschaft, elementare moralische Grenzen zu durchbrechen, nicht abhängig ist von Bildung oder Tischmanieren. In Ruanda flüchteten die Verfolgten in die Kirche. Der Priester, ein klerikaler Habitué in Rom und Paris, ein Hutu, segnete sie, schloss die Türe von aussen ab, trommelte eine Truppe Machetenträger zusammen und kehrte zum Gotteshaus zurück. Eigentlich kannte man dies von früheren Geschehnissen. Die Deutschen zum Beispiel erfanden den philosophischen Idealismus und komponierten Musik, die Gott zum Klingen brachte. Trotzdem jubelten Elite wie Volk einem hergelaufenen, verkommenen Schreihals zu. Hitler hat seine bösartigen Ziele nie verhehlt, und gerade we-gen dieser Ziele wurde er gewählt. Er stellte die Erfüllung der dunklen Instinkte in Aussicht: die Lust der Rache, die Befriedigung, andere zu erniedrigen, das Triumphgefühl der Macht und Grandiosität und Unverwundbarkeit durch die Verschmelzung im Kollektiv.

Jeder ahnt, dass er ähnliche Versuchungen in sich trägt. Aber es sind unangenehme Gedanken, verbotene Gefühle, die man wegwischt und für nicht existent erklärt. Der ruandische Genozid wurde zwei Jahre lang offen angekündigt. Radiomoderatoren, Schlagersänger, Journalisten machten Witze über die bevorstehende Auslöschung der «Kakerlaken», in den Bars drohten die Hutu ihren Tutsikollegen beim Zuprosten mit dem baldigen Ende. Aber ausser einer kleinen Zahl fanatischer Ideologen glaubten die meisten Hutu und Tutsi sowie die ausländischen Diplomaten und Helfer nicht, dass es tatsächlich geschehen werde. Es hatte zwar immer wieder Massaker an Tutsi gegeben. Aber die vollkommene Vernichtung war unvorstellbar. Es waren Redensarten, mehr nicht. Genau so reagierte damals die Welt auf Hitlers Ankündigungen.

Auch hierin können wir bei Hatzfeld lernen. Im Iran und in der arabischen Welt ist heute die Forderung nach der Ausmerzung Israels, «der zionistischen Entität» und der Tötung der Juden selbstverständlicher Teil des alltäglichen Diskurses in Kaffeehaus, Schule, Politik. Man sollte es ernst nehmen. Das Schlimmste ist jederzeit möglich.

Jean Hatzfeld

Zeit der Macheten. Gespräche mit den Tätern des Völkermordes in Ruanda. Psychosozial-Verlag, 2004

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