Das Magazin

20.02.2010

Sanaa, sagenhaft

Seit dem Fall des Unterhosenbombers von Detroit gilt Jemens Hauptstadt als neuster Hort des Terrors. Unser Reporter ist eingetaucht ins Labyrinth der Geschäftemacher und Nachwuchsgotteskrieger.

Von Eugen Sorg

Muhammad al-Anisi, ein freundlicher Mittvierziger, ist Direktor des Sanaa’a Institute for the Arabic Language, einer gepflegten Sprachschule in der wunderschönen Altstadt von Sanaa, der Kapitale Jemens und «Perle Arabiens». Studierende aus aller Welt belegen seine Kurse. Einige stammen aus westlichen, andere aus asiatischen Ländern wie Malaysia oder Indonesien, junge Muslime aus gutem Hause, die das Wort Gottes, wie es dem Propheten offenbart und im heiligen Koran niedergeschrieben wurde, in unverfälschter Form lesen möchten. Gott sprach bekanntlich Arabisch, die erhabenste und vollkommenste aller Sprachen.

Ein besonders gefreuter Student war der Nigerianer Omar Faruk Abdulmutallab. Er besuchte den Unterricht zum ersten Mal 2005 als 18-Jähriger, absolvierte danach in London ein Ingenieurstudium und kam erneut nach Sanaa im letzten Sommer. Direktor al-Anisi ist voll des Lobes über ihn. «Er war höflich, bescheiden, hilfsbereit, immer mit einem Lächeln im Gesicht, ein sehr gläubiger junger Mann.» Umso überraschter seien alle gewesen, versichert Mister al-Anisi, als man plötzlich sein Bild am Fernsehen zeigte. Abdulmutallab hatte an Weihnachten letzten Jahres in einem Flugzeug über Detroit versucht, den in seiner Unterwäsche eingenähten Sprengstoff zu zünden, um die Maschine samt den 290 Mitreisenden in die Tiefe stürzen zu lassen und als Märtyrer zu sterben. Der fromme Student, anstatt die Lustbarkeiten des islamischen Paradieses zu geniessen, wartet nun in einer amerikanischen Ge-fängniszelle auf einen Prozess wegen versuchten Massen- mordes. «Nie hätten wir ihm das zugetraut», beteuert Schuldirektor al-Anisi, «nur Kriminelle jagen Flugzeuge in die Luft, aber doch nicht friedliche Leute wie er.» Dasselbe hatte er den Angehörigen der Sicherheitskräfte erklärt, die ihn während zweier Tage verhörten.

Der knapp gescheiterte Anschlag hatte die westlichen Regierungen aufgeschreckt, allen voran Grossbritannien und die USA. Seit Längerem vermeldeten ihre Geheimdienste verstärkte Al-Qaida-Aktivitäten im Jemen. Abdulmutallab war nach seinem Sprachkurs in Sanaa Ende September nicht in die Emirate geflogen, um ein Betriebswirtschaftsstudium abzuschliessen, wie er dem Schuldirektor gesagt hatte. Stattdessen begab er sich in ein Al-Qaida-Versteck östlich von Sanaa, wo ihm die Gotteskrieger die Unterhose mit achtzig Gramm PETN aufrüsteten. Seither spricht Barack Obama vom «Krieg gegen den Terror» und Gordon Brown von einer «Brutstätte und sicherem Hafen des Terrorismus».

Derartige Unterstellungen weist Schuldirektor al-Anisi als ungerecht von sich. «Warum gibt man dem Jemen die Schuld für die Tat des jungen Nigerianers? Nicht hier, sondern in London hat man ihm den Kopf mit radikalen Ideen verdreht, er hat in Lagos und in Amsterdam die Flughafenkontrolle ungehindert passiert, und dies, obwohl die Amerikaner wussten, wer er war. Sein Vater hatte sie gewarnt. Und trotzdem werden jetzt wir bestraft.» Dieselben Argumente sollte ich von allen anderen hören, mit denen ich darüber sprach, und ich konnte sie verstehen. Ohnehin schon das Armenhaus Arabiens, bedeutete die Brandmarkung als Al-Qaida-Land einen weiteren Tiefschlag. Die Investoren bleiben aus und auch die Touristen, letztere waren noch bis vor Kurzem zu Hunderttausenden ins Land gekommen, angezogen von den überwältigenden Landschaften, den märchenhaften alten Städten, den schönen und freundlichen Menschen.

Ob er die Reaktion des Westens nicht auch nachvollziehen könne, frage ich al-Anisi, Al-Qaida-Kämpfer hätten ja tatsächlich Unterschlupf im Jemen gefunden und Abdulmutallabs tödliche Mission gesteuert. Andere Länder, antwortet er, hätten auch ihre Terroristen, auch wir im Westen, erst vor einem Jahr habe an einer deutschen Schule, deren Namen er vergessen habe, ein Student viele seiner Kameraden erschossen, ohne Grund, sie seien unschuldig gewesen, man habe nicht verstanden, wieso er es getan habe. Aber keinem wäre es in den Sinn gekommen, das ganze Land dafür zu bestrafen. Winnenden, die Schule liege in Winnenden, antworte ich, erstaunlich, dass er diesen Fall kenne. Es gebe jedoch, fahre ich fort, einen Unterschied zwischen dem Amokschützen und dem Unterhosenbomber. Niemand habe den Deutschen gefeiert, Abdulmutallab hingegen gelte vielen Muslimen als Märtyrer und Held.

Der Wille Allahs

«Wir lehnen al-Qaida ab», widerspricht er. «Warum?» «Wegen dieser Leute wird die Ganzkörperdurchleuchtung an den Flughäfen eingeführt. Der Islam verbietet das. Die muslimische Gemeinschaft auf der ganzen Welt leidet deswegen.» «Ist dies der einzige Grund?» «Sie haben das Ansehen des Islam beschädigt. Die Touristen kommen nicht mehr, die Preise steigen, die Leute haben kein Geld, um ihre Kinder in die Schule zu schicken, unsere Zukunft ist düster.» «Vor acht Jahren, kurz nach den Anschlägen von New York, reiste ich in den Jemen und nach Saudiarabien. Wenn ich unter Jugendlichen den Namen Osama Bin Laden erwähnte, löste dies regelmässig Begeisterung aus. Osama war unglaublich populär.» «Die Dinge haben sich geändert.» «Warum wurde er damals derart verehrt?» «Er ist Araber und Muslim. Er hasst Amerika und hat ihm einen schmerzhaften Schlag versetzt. Er galt als mächtig, mit einer langen Hand, die jederzeit und überall treffen kann. Der Westen weinte vor Angst. Aber was passierte? Die Amerikaner gingen nach Afghanistan, in den Irak, überall übernahmen sie die Kontrolle. Osama half ihnen, er lieferte ihnen die Rechtfertigung. Darum ist er ein Verlierer.» «Wo liegt die Grenze zwischen einem frommen Muslim und einem Extremisten?» «In der Auffassung vom Islam. Töten ist nur erlaubt, wenn man angegriffen wird. Das Töten Unschuldiger ist verboten.» «Und wenn Osama gewonnen hätte?» «Darüber entscheidet allein der Wille Allahs.»

Die Antworten des Direktors schienen mir die jemenitische Geschichte und Realität zu widerspiegeln. Er ist gläubiger Muslim, wie 99 Prozent seiner Landsleute, und wie diese ist er gleichzeitig Pragmatiker. Er lehnt die Sprengstoffpolitik von al-Qaida nicht aus grundsätzlich moralischen Erwägungen ab, sondern letztlich, weil sie seinen Geschäften und denen seines Landes schaden. Jemeniten sind seit Jahrtausenden Händler. Bevor die Völker des antiken Europas von der Existenz Chinas, Indiens oder Sansibars wussten, schifften bereits geschickte arabische Segler Porzellan, Edelsteine, Gold und Elfenbein aus diesen Ländern an die Küsten Jemens, wo die Fracht auf Kamele umgeladen und zusammen mit einheimischen Gewürzen, Weihrauch und Myrrhen durch die Wüste transportiert wurden, um in den Tempeln und Palästen Ägyptens, Griechenlands, Roms Wohlgeruch und Glanz zu verbreiten. Denkweise und Instinkte der Bewohner, die Flexibilität, Weltgewandtheit und nüchterne Realistik des Handeltreibenden waren längst geformt, als vor fast 1400 Jahren die Truppen Mohammeds in Südarabien einmarschierten. Der Alltagsislam schmiegte sich dieser Mentalität an.

Und noch etwas prägte die Jemeniten. Entlang der Karawanenrouten erblühten legendäre Reiche, wurden von mächtigeren Herrschern überfallen, zerfielen. Von allen sind nur Säulenreste im Wüstensand übrig geblieben. Die Weltgesetze sind erbarmungslos, der Schwache geht unter, der Stärkere überlebt, bis auch ihn das Schicksal vernichtet. Alles kann unverhofft zu Ende gehen. Das Einzige, das schon zu Beginn der Geschichte da war und nie mehr verschwand, ist der eigene Stamm. Nur er vermag Schutz zu geben. Sein Fortbestehen ist wichtiger als dasjenige des Qabili, des einzelnen Stammesangehörigen, der immer auch Krieger ist und alles tun wird, um dessen Souveränität und dessen Heiligstes: die Ehre, zu verteidigen. Je stärker der Stamm, desto grösser die Sicherheit und das Ansehen des Qabili. Die Stammesoberhäupter, die Scheichs, sind Meister der Realpolitik. Es spielt keine Rolle, ob der Koalitionspartner ein alter Feind, die verhasste Regierung oder ein verachteter Nachbar ist. Entscheidend ist nur, ob das Bündnis einem Vorteile bringt. Schuldirektor al-Anisi beispielsweise ist wie die meisten seiner 24 Millionen Landsleute kein Freund Amerikas. Aber er würde Jemens Präsidenten Ali Abdullah Saleh für seine politisch-militärische Zusammenarbeit mit den Amerikanern keinen Vorwurf machen. So wie man einem Ungläubigen ein Kamel verkauft, reicht man auch dem Teufel die Hand, wenn es der eigenen Sache nützt.

Präsident Saleh, seit langen 32 Jahren an der Macht, hat mindestens zwei grosse Leistungen vollbracht. Er ist noch am Leben, was bemerkenswert ist in einem Land, wo der natürliche Tod eines Staatsoberhauptes die Ausnahme ist. Und er hat den Staat bislang vor dem Auseinanderbrechen bewahrt. Schon länger sprach der 68-jährige ehemalige Putschoffizier davon, dass er endlich in den verdienten Ruhestand treten möchte. Doch ausgerechnet jetzt schlittert sein Land in eine tiefe Krise. Im wilden bergigen Norden befindet sich der Clan der al-Houthi in bewaffnetem Aufruhr gegen die Regierung in Sanaa. Der Süden wiederum mit seinen Ölvorräten, dem Haupthafen Aden und der wegen ihrer einzigartigen Schönheit weltbekannten Provinz Hadramaut zeigt wachsende Separationsgelüste. 23 Jahre lang herrschte im Südjemen eine marxistische Clique, 1990, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, schloss man sich mit dem Norden zusammen, zettelte vier Jahre später einen Bürgerkrieg gegen die Regierung in Sanaa an, verlor und scheint sich nun erneut Chancen auf einen Alleingang auszurechnen. Kommen dazu die Kalamitäten mit den Gotteskriegern von al-Qaida.

Blutsauger

«Die Regierung ist so schwach wie noch nie», erklärt Mohammed al-Assadi, «und dies nützen die verschiedenen Kräfte des Landes aus, um ihre Macht zu vergrössern.» Al-Assadi, 35, war bis vor drei Jahren Chefredaktor des in Sanaa erscheinenden englischsprachigen «Yemen Observer» und arbeitet heute als politischer Berater. Er hat in London studiert und gehört zu jener kleinen Schicht von Personen im Lande, die man aufgeklärte städtische Intellektuelle nennen könnte. Er zählt die verschiedenen Kräfte auf: «Erstens der Staat, schwindsüchtig; weiter die religiösen Führer, stets auf den eigenen Vorteil aus; die Scheichs, korrupt und immer einflussreicher; schliesslich die blutsaugenden Geschäftsleute. Al-Qaida versucht auch von der Lage zu profitieren, aber sie ist das Geringste unserer Probleme.» Die normalen Leute, fährt er fort, seien unzufrieden und kritisch gegenüber allen diesen Gruppen. Aber was sollten sie tun? Sie hätten keine Macht und müssten sich dorthin wenden, wo das Brot herkommt.

Bis anhin hätten sich die Gruppen gegenseitig in Schach gehalten, in einer jemenitischen Variante von Checks and Balances. «Jetzt aber ist die Situation ausser Kontrolle geraten.» «Warum?» «Der Präsident war zu lange zu nachgiebig. Er hat hier Geld verteilt, dort einen Posten geschenkt, da ein Sonderrecht bewilligt. Er hat eine Klientelpolitik betrieben, anstatt staatliche Regeln und institutionalisierte Verfahren einzuführen, und nun ist die Klientel so stark geworden, dass sie glaubt, sich über den Staat hinwegsetzen zu können.»

In den Gesprächen mit den Leuten erinnerte mich die Situation des Jemen immer wieder an ein Fliessgleichgewicht. Ohne Zentrum und ohne festgeschraubte Statik, dafür mit ständig wechselnden Kräfteverhältnissen, ist der politische Ausnahmezustand die Normalität und die Unvorhersehbarkeit der Dinge eine alltägliche Erfahrung in diesem Land. Auch für den gewitzten Einheimischen ist es nicht einfach, sich, ohne die Nase blutig zu schlagen, durch das Labyrinth der staatlichen, tribalen, religiösen und willkürlichen Regeln und Gesetze zu bewegen, deren Gültigkeit von Zeit und Ort abhängt und die sich zudem oft widersprechen. Dies musste auch al-Assadi erleben, als er vor vier Jahren im «Yemen Observer» seine journalistische Pflicht wahrnahm und jene dänische Karikatur abdruckte, die den Propheten mit der Bombe im Turban darstellte.

Die Abbildung war eine Miniatur in Passfotogrösse, durchgestrichen mit einem Kreuz, und erschien auf einer Doppelseite mit lauter ablehnenden Kommentaren. Al-Assadi lehnt es ab, dass man Religionen beleidigt. Aber da kein Mensch wisse, wie der Prophet aussehe, sagte er sich damals, könne die Person auf der Karikatur gar nicht der Prophet sein, womit nach den Gesetzen der Logik nie eine Beleidigung stattgefunden habe. Hingegen würden sich einige islamistische Extremisten tatsächlich schlecht benehmen, was mit der durchkreuzten Zeichnung deutlich ausgedrückt wurde. Im Rückblick findet er seine damalige Haltung etwas naiv.

Die Regierung entzog dem «Yemen Observer» die Lizenz, und durch die Strassen von Sanaa zogen Tausende von Menschen, die zur Tötung von al-Assadi aufriefen, aufgestachelt von den religiösen Führern. Sein Fall erregte internationale Aufmerksamkeit, und Blätter wie «Newsweek» oder die «New York Times», die sich nicht getraut hatten, die Karikaturen zu zeigen, berichteten über den kühnen Verfechter der Pressefreiheit im Epizentrum des Prophetenglaubens. Zu seinem Schutz, wie es offiziell hiess, wurde der aus guten Verhältnissen stammende al-Assadi in eine Zelle gesperrt, zusammen mit fünfzehn Kriminellen, eine «für mich und meine Familie völlig neuartige Erfahrung». Er gewann das Vertrauen der Zellengenossen, die ihn retteten, als zwei Neuankömmlinge ihn umbringen wollten. Sie hatten gehört, er sei der Mann, der den «Propheten beleidigt hat». Nach zwei Wochen kam er wieder frei und wurde zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, die später, als sich die Aufregung wieder gelegt hatte, in eine Busse von einer halben Million Rial, rund 2600 Dollar, umgewandelt wurde. Der Observer durfte schon länger wieder erscheinen. «Würden Sie wieder gleich handeln?», frage ich ihn. «Ich habe meine Meinung über den Fall nicht geändert», antwortet er, «aber ich würde die Zeichnung nicht mehr publizieren. Die Vorfälle haben mein Leben geprägt. Ich tat etwas, was man nicht tun sollte: Ich unterschätzte die Gefahren.»

Akustische Orgien

In der Altstadt von Sanaa stehen 210 Moscheen, durchschnittlich drei in jeder der verwinkelten Gassen. Es kann einem durch Mark und Bein gehen, wenn von den grossen Minaretten das obligatorische Freitagsgebet übertragen wird, beinahe gleichzeitig, verstärkt durch überschlagende Lautsprecher. Es ist schwierig für den nüchternen, des Arabischen unkundigen Westler, hier eine religiöse Veranstaltung zu vermuten und nicht vielmehr an einen temperamentvollen Kriegsaufruf zu denken. Dem fordernden, hypnotischen Aufruf des Muezzin folgt die Predigt, ein gewaltiges Vortragsspektakel, eine rhythmisch perfekte, akustische Orgie, die aus Drohungen, Zorn und Strafverheissungen komponiert zu sein scheint, um schliesslich überzugehen in hymnischen, melodiös klagenden und gleichzeitig triumphierenden Gesang. Das ganze Universum verwandelt sich in einen einzigen Echoraum des Allmächtigen, des Gottes, der keinen anderen Gott neben sich kennt.

Im Gegensatz zu den Martialpredigten wirkten die Leute friedlich. Bei meinen ausgedehnten Spaziergängen in der Stadt begegnete ich keinen ablehnenden oder feindseligen Blicken. Wann immer ich jemanden etwas fragte, reagierte man freundlich und hilfsbereit. Während ich in anderen arabischen Ländern wie Algerien schon mit Steinwürfen aus bestimmten Stadtquartieren vertrieben worden war, fühlte ich mich hier in jedem Moment sicher. Nur einmal war ich offensichtlich unwillkommen. Aber dies war eine spezielle Situation.

Ich hatte Ghaleb Ghazwan kennengelernt, einen weiteren dieser zuvorkommenden Menschen. Er war mir empfohlen worden als Kenner von al-Qaida, und wir trafen uns mehrmals auf der Redaktion der kleinen arabischsprachigen Zeitung «Al Easad», für die er als Reporter arbeitet. Ghazwan wirkte mit seinen 47 Jahren eher jugendlich, er war ein sympathischer mediterraner Allerweltstyp, der auch in Bogotá oder Tirana oder Marseille nicht aufgefallen wäre. Aussergewöhnlich waren höchstens seine schnellen Augen, denen kein Detail in der Umgebung entging. Aus dem Südjemen stammend, erzählt er, habe ihn der kommunistische Staat als 20-Jährigen zum Studium nach Kuba geschickt, von wo er nach drei genussvollen Jahren auf der tropischen Zuckerinsel «lockere Leute, hübsche Mädchen, dunkle Haut» nach Aden zurückgekehrt sei, um bald darauf für den Geheimdienst zu arbeiten. Als sich die Volksrepublik Jemen, der einzige marxistische Staat im arabischen Raum, 1990 auflöste und sich die beiden Jemen vereinigten, wurde seine Abteilung von der Regierung in Sanaa übernommen. Spionierte er vorher saudiarabische Verschwörungen aus, sei er nun auf heimliche Alkoholtrinker und Prostituierte angesetzt worden. Dies habe ihm nicht gefallen, vor allem weil es nur um die Lohnaufbesserung seiner Vorgesetzten in der Justizabteilung gegangen sei. Kaum habe man jemanden verhaftet, sei diese Person gegen Schmiergeld wieder aus dem Gefängnis spaziert. Dass er 1994 nach Verlassen des Dienstes in den Journalismus gewechselt habe, sei naheliegend gewesen. Die Tätigkeit sei dieselbe: Beschaffung von Informationen.

Ghazwan hat ein gutes Gedächtnis und kennt alle Attentatsorte von al-Qaida, die Namen der Beteiligten und die Zahl und Nationalität der Opfer. Bei seiner Aufzählung wird mir klar, warum die gewöhnliche Bevölkerung al-Qaida nicht als Gefahr betrachtet, höchstens als sehr ärgerliche Schädigung des Geschäfts, was aber die bis zu achtzig Prozent bäuerliche Bevölkerung nicht betrifft. Zum einen fühlen sich die Leute durch ihren Stamm geschützt.Wird einem etwas angetan, wird sich der Stamm rächen. Zum anderen steht al-Qaida grundsätzlich auf der richtigen Seite. «Sie ist hart mit den Amerikanern und den Juden und der ungeliebten Regierung», sagt Ghazwan, «und sie ist gut mit den Muslimen.» Und schliesslich gab es seit den ersten Anschlägen des Terrorkombinats vor zwölf Jahren erst achtzig bis neunzig Tote, das ist, verglichen mit den über 4000 Verkehrstoten allein 2009, für einen Jemeniten keine besonders beeindruckende Zahl. Zudem sind unter den Opfern amerikanische Soldaten und Regierungstruppen, deren Tod als Berufsrisiko abgehakt wird, sowie ein paar spanische, koreanische, belgische Touristen und bedauerlicherweise auch jemenitische Guides und Fahrer. Die Mehrheit der Leute teilt zwar das Al-Qaida-Programm: Er ist kein Muslim, töte ihn!, nicht, aber sie trauern diesen Fremden, mit denen sie nichts verbindet und die aus einer ihnen zutiefst fremden und suspekten Welt kommen, auch nicht gross nach.

«Ist al-Qaida lediglich ein Mythos oder eine wirkliche Gefahr für den Jemen?», frage ich den ehemaligen Spion. «Es ist beides. Immer wenn man meint, einen ihrer Führer ausgeschaltet und die Organisation gelähmt zu haben, taucht sie an einem anderen Ort mit einem neuen starken Führer auf. Die Leute rätseln, von welchen geheimen Mächten sie unterstützt werden.» «Wie viele Kämpfer hat al-Qaida?» «Schätzungsweise 500. Die eine Hälfte sind Jemeniten, die anderen aus Ägypten, Syrien, Saudiarabien, und ein paar sind aus dem Westen. Sie verstecken sich im Osten bei Marib und in Hadramaut im Süden.» «500 sind nicht viele.» «Aber sie können grossen Schaden anrichten. Und sie sind stärker geworden. Sie haben eine eigene Internetzeitung, ‹Sad al-Malhem›, Echo des Schwerts, und sie schicken Leute aus, die darauf spezialisiert sind, Neulinge zu rekrutieren, in der Regel Burschen aus ärmlichen Verhältnissen.» «Wie gehen sie vor?» «Sie erzählen dem Jungen vom Paradies und den wunderschönen Mädchen und den anderen köstlichen Dingen, die er bisher entbehren musste, aber nun dort auf ihn warten. Sie sagen, er sei arm, weil Gott wütend sei, dass man die Christen und die Juden zu gut behandle. Dann wird er zu einer wichtigen Persönlichkeit geführt, der zwanzig Tage mit ihm betet. Wenn er die Bombe zünde, versichert man ihm, sei alles im Bruchteil einer Sekunde vorbei und er würde nichts dabei spüren. Wenn die Mutter weine, werde Allah ihr helfen, weil er Gutes getan habe.»

Er berichtet von einem Fall Ende 2007, der sich in Alsineyna, einem Stadteil von Sanaa, zugetragen hat. Eine Freundesclique von sechs Burschen, zwischen 15 und 20 Jahre alt, war berüchtigt im Quartier für ihr rüppelhaftes Verhalten. Sie bedrohten andere Leute, schafften sich Kalaschnikows an, stahlen Khat. Plötzlich hätten sie sich verändert. Sie gingen regelmässig in die Moschee, wurden ruhig, liessen sich die Bärte wachsen. Den Nachbarn fiel auf, dass sie neue Kleider trugen und einen Laptop besassen. Und dann, eines Nachts, sei eines der Häuser, in denen sie wohnten, von einer Antiterroreinheit umstellt worden, worauf aus den Fenstern sofort das Feuer auf sie eröffnet worden sei. Die Schiesserei dauerte drei Stunden, bis man die Sechsergang überwältigt und eingesperrt hatte. Sie wurden zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt.

«Haben die Nachbarn der Polizei den Tipp gegeben?» «Nein, die waren über die Razzia alle erstaunt. Sie hatten sich über die positive Entwicklung der Jungen gefreut. Der Hinweis kam von einem Polizeispion in der Moschee. Ihm war aufgefallen, dass die Jungen sich regelmässig mit Ahmad al-Hanak trafen, einem gesuchten Al-Qaida-Terroristen und erfolgreichen Anwerber.» Ich frage, ob es möglich sei, mit den Vätern der Jungen zu reden, und ein paar Stunden später hat Ghazwan einen Besuch arrangiert. Das Treffen ist durch die Vermittlung des Quartiervorstehers, einer Art urbanem Scheich namens Ali, eingefädelt worden, der uns mit seinem Mercedes auf der Redaktion abholt. Auf dem Weg ins nahe gelegene Viertel der Gang teilt er mit, dass einer der zwei auskunftsbereiten Väter bereits wieder abgesagt habe. Es sei nicht gut, habe er gemeint, wenn man sehe, dass er mit einem Ausländer spreche. Man könnte denken, ich sei ein amerikanischer oder englischer Spion.

Unerwünschte Gäste

Als wir von der Hauptstrasse abbiegen, geraten wir in enge, sandige Gassen. Junge Männer lungern herum, einer steigt zu uns in Auto, ein müdes Pferd zieht einen Wassertank, die Gegend hat weder fliessend Wasser noch Kanalisation, es riecht streng nach aller Art von Ausscheidungen. Nach ein paar Kurven steigen wir aus dem Wagen, unterwegs hatte sich noch ein zweiter Fahrgast wortlos zu uns gesellt, und wir treten vor einen winzigen Krämerladen. Er besteht aus einem Loch in der Wand, hinter dem ein Kühlschrank, ein Tischchen, ein verstaubtes Gestell und ein alter Mann mit gelber Haut und schlauen Augen im fein geschnittenen Gesicht zu sehen sind. Es ist der Vater von einem der Nachwuchsgotteskrieger. Ob der Laden gut laufe, eröffne ich das Gespräch. Jetzt sehe ich, dass der Kühlschrank nicht angeschlossen ist, und dass im Gestell nichts steht ausser zwei Schachteln mit Plastikkämmen und zwei Tassen mit klebrigen Zuckerkugeln. Er verdiene 100 Rial im Tag (50 Rappen) und gebe 1000 aus, meint er schulterzuckend.

Das weitere Gespräch verläuft harzig. Sein Junge sei ein guter Junge, ich könne seine Freunde fragen. Nein, er wisse nicht, warum sie ihn verhaftet hätten, was solle er sagen, Allahs Wille geschehe. Waffen? Die habe er nur im Fernsehen gesehen, die Regierung hätte die Geschichte erfunden. Warum? Um dem Ausland zu zeigen, dass man etwas unternehme. Inzwischen sind immer mehr Leute dazugekommen, Kinder, Erwachsene, Alte, sie umringen uns, übernehmen die Beantwortung der Fragen, behaupten, der Junge sei unschuldig, einige wirken aufgebracht, die Stimmung wird leicht aggressiv und bedrohlich, mein Übersetzer wird unruhig, das sei nicht normal, dieser Ort sei ungemütlich, während Ghazwan einem Jungen irgendetwas zu erklären versucht, was dieser aber nicht zu glauben scheint. Wir sind hier offensichtlich unerwünscht. Plötzlich klatscht der Alte in die Hände und sagt laut chalas, genug, und sofort löst sich die Runde auf. Wir steigen erleichtert in Alis Wagen.

Es ist Mittag, als wir zurück auf der Redaktion sind, wo meine drei Begleiter die obligaten Khatbüschel aus den Taschen ziehen und mit dem langen Kauen der bitterfrischen, leicht berauschenden Blätter beginnen. Ghazwan kommt nochmals auf den Alten zu sprechen. Dieser lüge, meint er gelassen, er sei selber am Morgen nach der Schiesserei vor Ort gewesen und habe die Patronenhülsen gesehen. Und er wisse von den Gefängniswächtern, dass jeder der sechs Jungen von ihren Familien täglich 2000 Rial für Essen und Trinken bekämen. Das sei sehr viel für arme Leute, 300 Dollar im Monat, das Gehalt eines Primarlehrers. Und ob ich mir den Shop des Alten angeschaut hätte? Das Geschäft des Alten sei nur Tarnung. In Wirklichkeit bezahle ihn al-Qaida, genau wie die anderen Familien der Jungen. So erkaufe sich die Organisation Loyalität.

Quartiervorsteher Ali und mein Übersetzer sind derselben Meinung, und als nach einer Weile das Khat seine Wirkung zu zeigen beginnt, wendet sich die Runde grösseren Fragen zu, dem Lieblingsthema gesellig philosophierender Araber: dem unerschöpflichen Gebiet der Verschwörungstheorien. Nichts ist, wie es scheint, hinter allem steckt ein verborgener Drahtzieher, fast immer die Amerikaner oder die Juden. Auch im Falle von al-Qaida. Angeregt und mit lustvoller Energie entlarven die drei die raffinierten Schachzüge und hinterhältigen Täuschungsmanöver der westlichen Supermacht, während der Nachmittag friedlich verdämmert und die vielen tatsächlichen Probleme des Landes, die Armut, die selbst verschuldete Rückständigkeit, der drohende Wassermangel, der scheiternde Staat in unwirkliche Sphären verschwinden, wie ferne Schatten, Luftspiegelungen.

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