Die Lust am Bösen

Warum der westliche Therapeutismus eine Illusion ist.

Eine Streitschrift

Von Eugen Sorg

Vor einigen Jahren musste sich der Krankenpfleger Roger Andermatt vor dem Luzerner Kriminalgericht verantworten. Zwischen 1995 und 2001 hatte er mindestens vierundzwanzig Insassen in verschiedenen Seniorenheimen umgebracht. Er erstickte sie mit einem Frotteetuch oder einem Plastiksack oder verabreichte ihnen eine letale Dosis Beruhigungsmittel, oder er applizierte eine Kombination von beidem. Aufgeflogen war sein Tun, weil er in immer kürzeren Abständen tötete und die hohe Sterberate während seiner Dienstzeiten auffiel. Ein psychiatrisches Gutachten folgerte aus der Tatsache, dass Andermatt in der Freizeit als DJ arbeite, zwar messerscharf, dass er gern im Mittelpunkt stehe, also einen leicht narzisstischen Einschlag habe. Wie dies jedoch mit den Tötungen zusammenhängen sollte, blieb ungeklärt, und ansonsten attestierte es ihm volle Zurechnungsfähigkeit. Seine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen schilderten ihn als fröhlich, hilfsbereit und beliebt, und auch Andermatts eigene Erklärungen gaben keine Hinweise auf irgendwelche abnormen oder monströsen Persönlichkeitsmerkmale des jugendlich wirkenden 36-Jährigen.

Er habe aus Mitleid getötet, erzählte er den Richtern, manchmal aber auch aus Rache, wenn eine der Alten ihm «auf den Wecker gegangen» sei. Angefangen habe es damit, dass er «einfach mal so die Idee» hatte, ein Tuch über das Gesicht einer Patientin zu legen. Er redete von seiner häufigen Überforderung im Beruf; von seiner Freundin, die ihn immer wieder aufgemuntert habe; von seinen stressbedingten Migräneanfällen; von seinem Stiefvater, dem er beweisen wollte, dass er kein Versager sei; von seiner Angst, im Team über seine Überforderung zu reden; von seinem schlechten Gewissen. Er erwähnte aber auch, dass er jeden Mord als Befreiungsschlag empfunden habe, und die befragten Zeugen aus dem Heim erinnerten sich, dass er jeweils pfeifend aus dem Zimmer der Opfer kam. Heute wisse er, sagte er in seinem Schlusswort, dass es falsch gewesen sei, was er gemacht habe. Er habe sich die Freiheit genommen, «Gott zu spielen».

Rührselige Erklärungen

Dass sich Pfleger in Todesengel verwandeln können, ist ein bekanntes Phänomen. Wenige Jahre vor dem Fall Andermatt wurde derjenige der vier Krankenschwestern publik, die in einem Wiener Krankenhaus Dutzende Patienten umgebracht hatten. Wie Andermatt liessen sie sich anfänglich zwischen den Taten Zeit, um mit wachsender Enthemmung und Erfahrung immer häufiger tödliche Dosen Rohypnol oder Insulin zu spritzen oder den Patienten zu ertränken, indem sie ihn festhielten, seine Zunge mit einem Spachtel fixierten und Wasser einflössten, das direkt in die Lunge gelangte. «Mundpflege», nannten sie diese Behandlung untereinander.

Alle Todespfleger waren geschätzt in ihren Teams, begingen ihre Verbrechen kaltblütig und zunehmend dreister, nachdem sie die rote Linie einmal überschritten hatten, und behaupteten später, aus Mitleid und Barmherzigkeit getötet zu haben. Und wie jedes Mal, wenn plötzlich Grausamkeit und Gewalt einzelner Menschen die scheinbar sichere Ordnung erschüttern, setzte in der Öffentlichkeit eine hektische Deutungsarbeit ein, die vor allem den Sinn hatte, das erschütterte Vertrauen in die Vorhersehbarkeit der Dinge und die Verlässlichkeit der Mitmenschen wieder herzustellen. Wenn normale, intelligente, ersichtlich nicht geisteskranke Menschen solche Untaten begehen können, so die selbstverständliche Annahme, müssen sie unter grossen äusseren wie inneren Belastungen gelitten haben.

Fast dankbar griffen die Medien die rührseligen Versionen der Angeklagten auf, um daraus eine Anklage gegen die in ihren Augen wirklichen Schuldigen zu drehen. Fälle wie Andermatt, wusste die NZZ am Sonntag, wo «gestresste Pflegende keinen anderen Ausweg mehr sehen, als die Menschen umzubringen, mit denen sie alleine gelassen sind, häufen sich seit den Siebzigerjahren». Denn in den zunehmend seelenlosen Altersheimen und Spitalunternehmen hätten sie «das Gefühl, von ihrem Vorgesetzten und der Gesellschaft im Stich gelassen zu werden, am Ende der Hierarchie zu stehen». Oder, so die rhetorische Frage: «Warum konnte der ‹Todespfleger› mit niemandem in seinem Betrieb über seine Probleme sprechen?» Auch der «Tages-Anzeiger» beugte sich voller therapeutischer Empathie über den 24-fachen Mörder. Andermatt «sei, sagte er vor Gericht, unerfahren gewesen im Umgang mit Worten. In einem Team habe er sich zudem nicht wohl gefühlt. Vielleicht hat ihm auch das Vertrauen in die Vorgesetzten gefehlt.» Hätte ein gute institutionelle «Gesprächskultur» existiert, behauptete das Blatt, «wäre es nicht so weit gekommen». Aber dies koste eben «Zeit und Geld», was auch den «Sparpolitikern» unterdessen klar geworden sein sollte.

Keine der Analysen und Kommentare stellte die Frage, ob die Tötungen auch aus Lust am Töten heraus begangen worden sein könnten. Nicht aus einer beruflichen Stresssituation, nicht aus einem übersteigerten Mitleid, nicht aus irgendwelchen narzisstischen Kränkungen heraus. Sondern aus dem Gefühl der Allmacht, aus dem Rausch der Megalomanie, den jemand geniessen mag, wenn er darüber entscheidet, ob er das ahnungslose Opfer mit einer Überdosis Beruhigungsmitteln sanft aus dieser Welt schafft oder eher auf die grobe Art, indem er ihm ein Tuch aufs Gesicht presst, bis es nicht mehr zappelt. Der munter pfeifende Andermatt gab selber einen Hinweis darauf. Vielleicht hatte er sich den Satz, er habe «Gott gespielt», irgendwo angelesen, aber die Aussage, er habe jede Tötung wie einen «Befreiungsschlag» empfunden, klang irritierend wahrhaftig. Diese Bemerkungen wurden nicht weiter beachtet, stattdessen hielt man sich an jene Aussagen, in denen die schwarzen Engel sich selber als Opfer darstellten.

Es braucht einen starken Willen zur Gutgläubigkeit, um jemandem die Erklärung abzunehmen, er habe aus beruflicher «Überforderung» oder weil er vor dem Stiefvater nicht als Versager dastehen wollte, serielle Tötungen vollstreckt. Dies ahnten auch die Kommentatoren, weshalb sie zusätzliche Gründe aufzubieten versuchten, von denen die Angeklagten selber gar nie geredet hatten, wie zum Beispiel den Umstand, auf «der untersten Hierarchiestufe» arbeiten zu müssen. Nun wird aber nicht nur von untergeordnetem, frustriertem, vergeblich nach «Aufmerksamkeit und Dankbarkeit» suchenden Klinikpersonal der Pflegeauftrag ins Gegenteil verkehrt. Weltweit wurden in den letzten fünfzig Jahren mindestens einunddreissig Spitalangehörige wegen Mords und Totschlags an Patienten verurteilt, wie eine Recherche unlängst ergab. Unter den Verurteilten war auch eine Reihe von Ärztinnen und Ärzten. Die Versuchung zur Gottähnlichkeit, die Verlockung, den anderen zu erniedrigen oder gar auszulöschen, um die Schrankenlosigkeit der eigenen Macht auszukosten, ist nicht das exklusive Problem des Underdog, der auf Rache sinnt für seine Machtlosigkeit. Sie ist Teil der allgemeinen menschlichen Situation, die jeden Einzelnen immer wieder vor die moralische Wahl stellt, zwischen der Masslosigkeit seiner Begehren und den Forderungen der Zivilisation zu entscheiden.

«weil sie gefangene sind»

«Warum schlagt ihr die Gefangenen? Sie sind ja eingesperrt und können niemandem mehr etwas antun», fragte ich vor einigen Jahren einen Gefängnisaufseher im liberianischen Monrovia. Es war die Endzeit des Schreckensregimes von Kriegsfürst Charles Taylor. Dessen Männer durchstreiften mit ihren Wagen die Stadt, verhafteten willkürlich Leute und begannen, sie fürchterlich zu verprügeln, immer wieder, manchmal alle drei Stunden, manchmal mitten in der Nacht, über Tage hinweg, ohne Anklage, ohne speziellen Anlass, betrunken, nüchtern, aus einer Laune heraus. Nur wenige verliessen lebend die Gefängnisse. Der Aufseher schaute mich für einen kurzen Moment erstaunt an, als ob er es mit einem besonders begriffsstutzigen Zeitgenossen zu tun hätte, bevor er antwortete. «Warum, warum. Weil es Gefangene sind.» Es war die verblüffendste, lapidarste Erklärung, die ich zu diesem Thema je gehört habe, und sie leuchtete mir unmittelbar ein.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Liberia weder eine Justiz noch einen Staat, der diesen Namen verdient hätte, es gab nur Taylors bewaffnete Banden. Niemand setzte sich für die Gefangenen ein, die Verwandten wagten nicht einmal, sich nach deren Verbleib zu erkundigen, aus Angst, ebenfalls verschleppt zu werden. Sobald sie hinter den Mauern eines der Gebäude verschwanden, von denen die Leute nur im Flüsterton sprachen, verloren sie ihren Namen, ihre Rechte, sie hörten auf zu existieren. Sie wurden zum Nichts, und die Aufseher waren alles. Diese brauchten keinen Vorwand, keine verhörtechnische Begründung, keinen erfundenen Verratsvorwurf, um ihr Handeln zu rechtfertigen. Sie hatten die absolute Verfügungsmacht und nichts zu befürchten. Wie unter Drogen schlugen sie drauflos, befeuert von der Todesangst ihrer Opfer, euphorisiert von deren Wimmern, besoffen von der eigenen Wirkung und der aufkochenden Wut. Ihre Gewalt war «nicht persönlich» gemeint, war weder Reaktion auf etwas noch Mittel eines zugrundeliegenden Zwecks. Sie diente einzig dem ozeanischen Hochgefühl des entgrenzten Schlägers, der sein Interesse am Opfer verliert, sobald es stirbt oder sobald sein Rausch abklingt.

Erschütterte Gewissheiten

Meine ursprüngliche Sicht auf das Phänomen der Gewalt war allerdings nicht erst durch Erfahrungen wie in Liberia oder Fälle wie die «Todesengel» in den Spitälern erschüttert worden. Das geschah bereits im zerfallenden Jugoslawien, wo ich im Frühjahr 1992 als Delegierter des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) unterwegs war und täglich von schauerlichsten Kriegsgräueln erfuhr. Auch sie unterspülten meine alten Gewissheiten. Entgegen meines Lektürewissens über Geschichte, Politik, Psychologie war auch für mich die Möglichkeit, dass Krieg hier und heute bei uns «bei uns» hiess im weitesten Sinn: in Europa ausbrechen könnte, eine zwar theoretische, aber unrealistische Vorstellung geblieben. Ich lebte in einer Art Grundvertrauen in die mich umgebende Welt, und nun wurde mir mit beinahe physischer Wucht bewusst, dass die Decke der Zivilisation dünn und brüchig ist. Dieselben Leute, mit denen ich zu Hause vor der Migros-Kasse in der Schlange gestanden oder im Sommer am See Fussball gespielt hatte, stiegen am Freitagabend beim Hauptbahnhof Zürich in Cars und reisten in ihre bosnischen Dörfer, um sich an Plünderungen und Tötungen zu beteiligen und eine Woche später wieder auf der Baustelle oder im Restaurant in Zürich-Oerlikon zu arbeiten. Sie taten es nicht aus ideologischen oder krankhaften Motiven, sondern weil sich die Gelegenheit dazu bot. Und sie sahen nicht anders aus als wir, als alle anderen.

Von da an misstraute ich noch mehr als zuvor theoretischen Grossinterpretationen. Die historischen, politischen und ökonomischen Erklärungsversuche wirkten abgehoben und geschwätzig angesichts der schwarzen Empirie epidemischer Grausamkeit. In den Deutungen kamen die Konfliktgegner nur als willenlose Agenten struktureller gesellschaftlicher Prozesse, irregeleiteter Bewusstseinszustände oder höherer Politinteressen vor. Aber die Realität zeigte, dass es keinen teuflischen Generalstab brauchte, der Massenvergewaltigung als geheime Kriegstaktik befahl, wie dies in westlichen Medien berichtet wurde. Auf diese Idee kamen die Burschen der Dorfmilizen von allein. Die Leichtigkeit und Freiwilligkeit, mit der sich gesellige Kaffeehauskumpane in unbarmherzige Menschenjäger verwandelten, war jedoch ausser bei einem harten Kern treuer Freudianer und einigen melancholischen Romanciers kein Thema in den Analysen der Experten. Sie zogen die Möglichkeit, dass Menschen mit einer genuinen Neigung zum Bösen ausgestattet und durch den Zustand der Gesetzlosigkeit förmlich beflügelt werden könnten, nicht einmal in Betracht.

Äussere Umstände spielen bei Handlungen selbstverständlich eine wichtige Rolle. Sie sind der Rahmen, der dem Einzelnen den Reaktionsspielraum offenlässt. Aber sie sind nicht die Ursache der Handlungen, und sie liefern letztlich keine Erklärung für die Entscheidung zu einer Handlung. Die 27-jährige Habiba erzählte mir, wie sie mit ihren zwei Kindern im nordbosnischen Lager Trnopolje gelandet war, nachdem die Serben sie und ihre Familie aus dem Dorf vertrieben hatten. Regelmässig suchten sich die Milizen die hübschesten Mädchen im Lager aus, um sie zu vergewaltigen und anschliessend manchmal auch zu töten. Als in einer dieser Nächte zwei Uniformierte vor Habiba und ihrer jüngeren Freundin auftauchen, geraten die Männer miteinander in Streit. Jeder will die Freundin haben. Schliesslich setzt sich der eine durch und nimmt die Frau mit in die Büsche. Er ist ein ehemaliger Schulkollege. «Reiss die Bluse auf und zerzause dein Haar», flüstert er ihr zu, «die anderen müssen glauben, ich hätte dich vergewaltigt.» Sie wartet eine Weile, dann geht sie zurück zu Habiba, unversehrt.

Westliche Tabus

Die Fokussierung auf die «objektiven» Umstände und die fast vollständige Nichtbeachtung der «menschlichen» Motive in den Analysen des Jugoslawienkrieges legten eines der noch vorhandenen Tabus der westlichen Gesellschaften bloss. Die Moderne ächtet die Gewalt und definiert sich als Gegenmodell zum Brutalismus des Mittelalters. Sie schaffte Faustrecht und Willkür ab zugunsten einer «gereinigten», einer durch den Staat monopolisierten, formalisierten, entkörperlichten Gewalt. Und sie stellte das kirchliche Dogma der Erbsünde und Erlösungsbedürftigkeit, welches die Privilegienherrschaft von Adel und Klerus absegnete, fundamental infrage. Die Humannatur sei primär gutartig und unschuldig, verkündeten die radikalen Aufklärer des 18. Jahrhunderts und verwarfen mit der theologischen Idee einer angeborenen Bösartigkeit überhaupt den Begriff des Bösen und damit der persönlichen Schuldfähigkeit und des freien Willens. Das Böse sei keine eigenständige Kraft, sondern lediglich ein Irrtum, eine Folge von Vorurteilen, Aberglaube und Unwissen.

Alle folgenden Versuche, den neuen Menschen zu erschaffen, endeten bekanntlich in den Todeslagern der totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts, in Gewaltorgien und Verbrechen ohnegleichen. Doch Schwärmereien lassen sich von keiner Realität beirren. Im selben Jahrhundert erhielt die rousseausche Schäferidylle ihre vorläufig letzte Ausformung durch die Seelenlehre der Tiefenpsychologie. Paradox stand an deren Anfang die Psychoanalyse, ein sperriges, grüblerisches, hochspekulatives Theoriekonstrukt, das kaum Frohbotschaften zu verkünden hatte. Sigmund Freud zeichnete das Bild eines unruhigen, von Illusionen genarrten Menschen, ständig in Gefahr, zerrieben zu werden zwischen den unersättlichen Ansprüchen sexueller und destruktiver Triebe und der Unbarmherzigkeit eines strafenden Gewissens. Das Höchste, was Psychotherapie bewirken könne, sei die Umwandlung von «psychischem Elend in gemeines Unglück».

das böse als irrtum und glaube für kinder

Freuds Nachfolger setzten sich über dessen anthropologischen Pessimismus hinweg und legten die Grundlagen für einen Therapiekult, der in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die reichen westlichen Gesellschaften eroberte. War der Utopismus bis anhin durch skeptische, konservative, realistische Denktraditionen in Schranken gehalten worden, wurde er nun erstmals zur dominanten geistig-kulturellen Strömung. Der Glaube an die Heilbarkeit des Bösen durch die magische Kraft der Sprechkur wuchs sich zur veritablen Weltanschauung aus und sickerte mitsamt dem Psychojargon in alle Milieus, sozialwissenschaftliche Disziplinen und Institutionen hinein.

Nicht nur die individuellen, sondern auch die gesellschaftlichen und geopolitischen Probleme könnten therapiert werden würden doch schliesslich alle Staaten und Nationen und Religionen dasselbe Interesse an Wohlergehen und Frieden teilen wie die einzelnen Menschen. Und so wie einer nur aus bösen Umständen heraus selber böse werde, griffen auch staatliche oder zivilgesellschaftliche Akteure lediglich aufgrund historischer Traumata oder ökonomischer Benachteiligung zu Gewalt gegenüber anderen Staaten oder Gruppen.

Die richtige politische Antwort auf Konflikte, in die man Kriege bevorzugt umbenannt hat, sei die Diplomatie der ausgestreckten Hand, die Anerkennung aller Beteiligten als gleichwertige Partner, der Verzicht auf den Begriff Feind, auf Ultimaten und Kriegsandrohungen, die Vertiefung des Dialogs an Versöhnungsstätten wie dem Menschenrechtsrat der UNO, verstärkte Entwicklungshilfe. Die Menschheit sei eine einzige grosse, bunte Familie, und mit den diskursiven Mitteln der Gruppentherapie sollten zerstrittene Mitglieder an die Wurzeln ihres Problems, an ihren verletzten Stolz, ihre Defizite, Kränkungen, verdrängten Ängste herangeführt und zur pazifistischen Läuterung gebracht werden.

Nie zuvor hatte es das gegeben, dass eine ganze Kultur zumindest eine Zeit lang das Böse als Irrtum, als fehlgeleitetes Gut, als reaktive Verhaltensweise, als Glaube für Kinder, Wilde oder Amerikaner, aber nicht als wesentlichen Faktor des menschlichen Seins beurteilt. In allen bekannten bisherigen Gesellschaften wurde das Böse als eigenständige Realität begriffen. Uralte Mythen erzählen davon, wie es in die Welt kam, die Legenden der Völker berichten von seiner vielgestaltigen Erscheinung, Religionen warnen vor den verheerenden Folgen für diejenigen, die sich mit ihm einlassen, die Philosophie definiert sein Wesen, und der menschliche Alltag gibt sich Regeln, um seine Zerstörungskraft zu kontrollieren.

Alle grundlegenden Erzählungen gehen vom selbstverständlichen Wissen aus, dass in der Fähigkeit zum Bösen die menschliche Freiheit begründet liegt, die ihn vom Tier unterscheidet, und dass das Böse letztlich ein Rätsel bleibt, eine «unbegreifliche Faktizität» (Kirkegaard), eben weil es der Unwägbarkeit menschlicher Entscheidungen unterworfen ist.

Das Böse existiert allenfalls noch als Plot von Krimiautoren; als Thema amerikanischer Forensik-TV-Serien, die ebenso ästhetisch perfekt wie unrealistisch die Suche nach Massenmördern und Triebtätern durchspielen; auch als inszenatorisches Mittel hysterischer Opern- und Sprechtheater-Regisseure, die ihre künstlerische Leere und ihre Verachtung für das bürgerliche Publikum mit pubertären Schockattacken wie abgeschnittenen Köpfen, Darkroom-Sadomasochismen, Theaterblutspritzereien kundtun. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit hingegen wird die wärmende Illusion der Moderne durch eine solide Wahrnehmungsverweigerung geschützt. Wird der intrinsische Charakter des Bösen negiert, erkennt man es auch nicht mehr, wenn es direkt vor einem steht.

Wir tragen in uns ein uraltes Erbe an zerstörerischen Neigungen, aber die allermeisten von uns haben auch einen in Instinkt und Erziehung wurzelnden Sinn für Recht und Unrecht. Der Mensch ist das moralische Tier. Nur unsere Spezies steht vor der Wahl, sich für das Gute oder das Böse entscheiden zu müssen. Der Pyromane, der seinen Allmachtgelüsten nachgibt, der Schläger, der dem wehrlosen Opfer in den Kopf tritt, der Bandit im somalischen Mogadischu, der eine arme Marktfrau ausraubt, der Triebverbrecher, sie alle wissen, dass ihre Handlungen unrecht sind. Sie brechen elementare Regeln, die das Entstehen von Zivilisationen erst möglich gemacht hatten und die jedes Kind in jeder Kultur versteht. Sogar die islamistischen Lebendbomben ahnen bis zuletzt, dass sie Mörder und keine Gesegneten sind. Ihre autosuggestiv erzeugte Dauerwut verrät sie ebenso wie ihr obsessives, jede Realität auf den Kopf stellendes Beharren darauf, der Islam werde verfolgt. Es sind Tricks, das Böse moralisch zu tarnen, eine perverse Referenz an das universale menschliche Gesetz, das verbietet, wehrlose Unschuldige zu verletzen, berauben oder töten.

DER THERAPEUTISMUS

Vor der Handlung existierte der Wunsch, und aus ihm reifte der Plan. Die Täter hätten jederzeit die Möglichkeit gehabt, sich dagegen zu entscheiden. Andere mit der gleichen Ausgangssituation haben völlig anders gehandelt. Auch die präziseste Prognostik wird das Verhalten der Menschen nie voraussagen können. Es orientiert sich nicht lediglich an ökonomischen, psychologischen, soziologischen, biologischen Modellen und auch nicht an einer Kombination aus allen zusammen. Ebenso wird es beeinflusst von irrationalen Impulsen und Leidenschaften, von selbstlosen Akten der Liebe und Grossherzigkeit wie auch von der Lust an der Grausamkeit und am Hochgefühl der Allmacht. Letzte Instanz aber, die über eine Tat entscheidet, bleibt der Einzelne selbst. Ob er den anderen tötet oder ihm beisteht, liegt in der Verantwortung seines individuellen, von nichts ableitbarem freien Willens.

Das Böse begleitet die Humangeschichte. Es ist nicht heilbar, nicht umerziehbar, nicht wegfinanzierbar. Es ist die Bedingung der menschlichen Freiheit, und man kann es nur abschaffen, wenn man den Menschen abschafft. Die Kraft des Bösen ist gewaltig. Ebenso sehr wie es lähmende Angst verursacht, lockt es mit verführerischen Angeboten. Es unterbricht die Monotonie des Alltags, bedeutet Spannung und Intensität, verspricht die Befreiung von Zwängen und Grenzen. Das Böse zu erkennen, wenn es auftaucht, ist nicht immer einfach, aber wenn es gelingt, ist es von entscheidendem Vorteil. Die Existenz des Bösen hingegen zu verneinen, ist der schnurgerade Weg, sich ihm auszuliefern. Der biedermannsche Pazifismus des Westens reagiert auf hässliche Gewaltvorkommnisse mit reflexartigem Wegschauen und zwanghaften Beschwichtigungen. Je abscheulicher eine Tat ist, desto weniger ist der Täter dafür verantwortlich dies gilt als Universaldiagnose für tödliche U-Bahn-Schläger und Terrorgruppen wie für die Hamas.

Der westliche Therapeutismus infantilisiert den bösartigen Kriminellen und er missversteht Weltpolitik als konfliktlösungsorientiertes Gruppengespräch. Geben sich aber Individuen oder ganze Kollektive solchen Illusionen einer letztlich gutartigen Welt hin, verlieren sie die Fähigkeit, Gefahren zu erkennen. Sie schätzen die Motive ihres Gegenübers falsch ein und lassen sich leicht übertölpeln. Sie fallen auf ein Manöver herein, das von Baudelaire, dem Dichter der Blumen des Bösen, nicht ohne Bewunderung beschrieben worden war: «Die grösste List des Teufels war es, uns zu überzeugen, dass es ihn nicht gibt.»

Dieser Text von Eugen Sorg ist ein Auszug aus dem Buch «Die Lust am Bösen. Warum Gewalt nicht heilbar ist». Es erscheint am 7. Februar im Verlag Nagel&Kimche.

Die gesamte Fotoserie «Faces of Evil» von Hans Weishäupl ist unter www.faces-of-evil.com zu sehen. (Ab Ende Februar auch als iPad App erhältlich)

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