Basler Zeitung

15.05.2015

Eine Frage der Moral

Das Matratzen-Girl

Von Eugen Sorg

Der Beginn ist leicht und schön. Emma Sulkowicz (20) lernt Paul Nungesser (22) kennen. Beide studieren Visuelle Kunst an der Eliteuniversität Columbia in New York. Sie ist die attraktive und aufgeweckte Tochter eines Psychiater-Ehepaares aus Manhattan, er ein begabter und beliebter Stipendiat aus Deutschland. Die zwei werden enge Freunde, sie verliebt sich zudem in ihn, sie haben auch ein paarmal Sex miteinander, beschliessen aber, künftig darauf zu verzichten, um ihre Freundschaft nicht zu gefährden.

Ihr Kontakt wird weniger häufig, er verbringt ein Semester in Europa und, wieder zurück in Columbia, wird er eines Tages ins universitäre «Büro für sexuelles Fehlverhalten» zitiert. Sulkowicz hat ihn angezeigt wegen analer Vergewaltigung, Schlagen und Würgen. Die brutale Attacke soll sich vor acht Monaten zugetragen haben, damals, als sie in Emmas Schlafraum auf dem Campus zum letzten Mal Sex zusammen hatten. Nungesser sagt später, die Anschuldigung habe ihn fassungslos gemacht. Er bestreitet den Sex nicht, weist aber entschieden zurück, dass Gewalt im Spiel gewesen sei. Die Untersuchung dauert sieben Monate und spricht Nungesser von allen Anschuldigungen frei. Sulkowicz wiederum gibt nicht auf und reicht ein halbes Jahr später bei der Polizei eine Anzeige ein. Doch auch diese kommt zum Resultat, dass keine ausreichenden Gründe für eine Anklage vorlägen.

Der juristische Freispruch hilft Nungesser nichts. Nun tritt der Gerichtshof der Medien und der Öffentlichkeit auf den Plan. Sulkowicz hat in Missachtung der Vertraulichkeitsvereinbarung Nungessers Name an die Presse weitergegeben. Bald tauchen die ersten Journalisten und Fotografen auf dem Campus auf.

Es werden noch mehr, als Sulkowicz ihr «mattress project» startet. Sie gibt bekannt, so lange eine Matratze mit sich herumzutragen, in den Klassenräumen, in der Bibliothek, auf dem Campus, bis ihr Vergewaltiger Nungesser von der Universität verbannt worden sei. Das Ganze deklariert sie als Performance Art und ihr Kunstprofessor anerkennt die Aktion als «überzeugende und kraftvolle» Abschlussarbeit. Während Nungesser als vermeintlicher «Serienvergewaltiger» seine Freunde verliert und auf der Uni den sozialen Kältetod erleidet, steigt die hübsche und zierliche Eurasierin Sulkowicz mit der schweren Matratze zur nationalen Berühmtheit und Ikone eines neuen Feminismus auf. Sie schafft es auf das Titelblatt der New York Times, Kunstkritiker Jerry Saltz schwärmt von der «reinen, radikalen Verletzlichkeit» ihrer Performance und auch Hillary Clinton mahnt, dass Emmas «Anblick uns alle verfolgen» sollte. Die weltanschaulichen Neurosen der politisch korrekten Milieus haben als jüngsten Dämon eine universitäre «Vergewaltigungskultur» herbeifantasiert und Sulkowicz erscheint darin als unerschrockene «Überlebende».

Nun hat Nungesser im letzten Monat eine 56-seitige Klage gegen die Universität, den Rektor und den Kunstprofessor eingereicht. Aber nicht gegen Sulkowicz. Er wirft ihnen vor, eine Hexenjagd gegen ihn nicht nur zugelassen, sondern auch unterstützt zu haben. Die beiliegenden Facebook-Konversationen mit Emma bestätigen keineswegs das Bild eines geschändeten Engels. Vielmehr zeigen sie eine verliebte, experimentierfreudige junge Frau, die entgegen ihren heutigen Behauptungen Nungesser mehrfach explizit zum Analverkehr auffordert, «fuck me in the butt». Auffällig ist zudem, dass sie auch noch Wochen nach der angeblichen Vergewaltigung in liebevollem Austausch mit ihm bleibt.

Die Universitätsleitung hat nicht nur Nungesser in eine unerträgliche Situation gebracht, sie hat auch Sulkowicz einen fürchterlich schlechten Dienst erwiesen. Erwachsen werden heisst mit Ambivalenzen, Zweifeln, Scham und Selbstüberschätzung klarzukommen. Dies im gleissenden Licht einer geifernden Öffentlichkeit zu bewältigen, auch wenn man darin eine Heldenrolle spielt, ist nicht einfach. Emma Sulkowicz ist nicht zu beneiden.

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