Basler Zeitung

10.04.2015

Eine Frage der Moral

«Exekutieren Sie meinen Sohn»

Von Eugen Sorg

Eines Abends Ende Mai 1972 öffneten in der Ankunftshalle des Flughafens Lod (heute Ben Gurion Airport) in Israel drei junge asiatische Männer plötzlich ihre Koffer, holten Maschinenpistolen heraus, stellten sich Rücken an Rücken auf und begannen in die Menge zu feuern. Einige Minuten später lagen 26 Menschen tot in ihrem Blut, darunter 17 christliche Pilger aus Puerto Rico. Auch zwei der Attentäter lebten nicht mehr. Einer war von israelischen Polizisten erschossen worden, der andere hatte sich mit einer Handgranate selber getötet, der dritte war festgenommen worden, bevor er sich in die Luft sprengen konnte.

Verantwortung für das Massaker übernahm die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), eine marxistische Terrorgruppe unter der Führung von George Habash, einem palästinensischen Kinderarzt und Sohn christlicher Eltern. Die drei Attentäter waren japanische Studenten, Mit­glieder der Japanischen Roten Armee (JRA), eine jener gewalttätigen, aus der 68er-Bewegung hervorgegangenen Fantasieorganisationen. Wie die deutsche Rote Armee Fraktion, die amerikanischen Weathermen, die italienischen Roten ­Brigaden wollte auch die JRA die Völker mittels Bomben von Kapitalismus, Imperialismus und Zionismus befreien und ins kommunistische Paradies befördern.

Es war der erste Suizidanschlag im post­kolonialen Nahostkonflikt, und die arabische Welt jubelte den ungewöhnlichen Märtyrern zu, die ihr Leben im Kampf gegen den verhassten Judenstaat geopfert hatten. Niemand konnte damals ahnen, dass die Aktion einmal zum sinnstiftenden ­Ereignis für ganze spätere Generationen von todessehnsüchtigen Gotteskriegern werden sollte. Hizbollah, Hamas, Al Qaida, Islamischer Staat, für alle heutigen islamo- apokalyptischen Sekten ist das Selbstmordattentat eine zentrale strategische und ideologische Waffe. Eine Waffe, erfunden von Linksextremisten und Atheisten, von Leuten also, die nach Auf­fassung fanatischer Muslime den sofortigen Tod verdienten.

Den drei Japanern, so verblendet sie waren, war es nicht gleichgültig, wie sich ihre Familien nach Bekanntwerden der Taten fühlen würden. Die revolutionäre kommunistische Moral ermächtigte sie zwar, im Dienste ihres höheren Ziels auch sogenannt Unschuldige zu töten. Aber die uni­verselle menschliche Moral, die jedes Erdenkind schon mit der Muttermilch aufnimmt, war auch in ihnen noch nicht ganz verstummt. In einem ab­­surden Versuch, die beiden antagonistischen Moralgalaxien zu versöhnen und den Familien die Schande ihrer Untat zu ersparen, kratzten sie die Porträtfotos aus ihren gefälschten Pässen.

Natürlich erfuhren die Familien trotzdem, wer hinter dem Massaker, das die ganze Welt erschütterte, steckte. Der Vater des überlebenden Attentäters, ein pensionierter Lehrer, schickte der israelischen Premierministerin einen Brief: «Exekutieren Sie meinen Sohn so schnell wie möglich.»

Dieser, Kozo Okamoto, wurde nicht hingerichtet, sondern von einem israelischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Gefängnis verstummte er, und man glaubte, er sei Autist. Erst als er nach zehn Jahren Besuch von einem Professor aus Kioto bekam und dieser ihm japanische Kinderlieder vorsang, stimmte Okamota nach einer Weile mit ein.

1985 tauschte ihn Israel zusammen mit 1186 palästinensischen Gefangenen gegen drei israelische Soldaten aus. Libanon gewährte ihm Asyl. Heute lebt der 68-Jährige in der Nähe von Beirut. Er ist zum Islam konvertiert, und in der arabischen Welt, wo er immer noch ein Held ist, heisst er «Ahmed der Japaner». Er hat nie bereut und seine Heimat nie mehr gesehen.

Den drei Japanern, so verblendet sie waren, war es nicht gleichgültig, wie sich ihre Familien fühlen würden.

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