Basler Zeitung

14.11.2014

Eine Frage der Moral

Das Missverständnis um Conchita Wurst

Von Eugen Sorg

Die Feuilleton-Journalistin des deutschen Wochenblattes Zeit war enttäuscht, ein wenig gekränkt sogar. Der Fernsehsender Arte hatte im Rahmen der Reihe «Durch die Nacht mit …» den Gewinner des European Song Contest (ESC) ­Thomas Neuwirth alias Conchita Wurst mit dem Modedesigner Jean-Paul Gaultier auf einen ­Spaziergang durch die Gassen Wiens geschickt. «Was könnten die beiden sich alles erzählen!», malte sich die Journalistin enthusiastisch aus, denn Gaultier und Wurst hätten immerhin die «tradierten Rollen von Mann und Frau neu interpretiert». Ihre kulturellen Verdienste: Der eine habe den «Rock für Männer gesellschaftsfähig» gemacht, die andere den «Bart für Frauen».

Aber anstatt sich über so wichtige Themen wie «Genderfragen» oder «Selbstbilder» zu unterhalten, habe die Österreicherin Wurst den Franzosen von einem Wiener Klischee-Ort zum anderen geschleppt, vom Riesenrad ins Sisi-Museum, von der historischen Bahn zum Würstelstand. Und was meinte der 36 Jahre ältere Gaultier? Der ­Pariser Modegott lobte das Wiener Schnitzel, schwärmte von der schlanken Figur Conchitas, bewunderte die Verarbeitung von Sisis Nachthemd. Kein Wort über «Sisis Jugendwahn», mäkelte die Journalistin, kein Wort über die Bedeutung des Alters «für Künstler wie Neuwirth und seine Figur».

Und als sich Wurst gar wohlwollend über ihre Landsleute äusserte und urteilte, die Österreicher seien allesamt «höflich» und «schüchtern», muss dies für die Zeit-Frau wie Verrat geklungen haben. Sie hatte erwartet, dass Conchita die supponierte Homophobie des «konservativen Österreich» und dessen «Verachtung» für einen schwulen ­Travestiekünstler anprangern würde. Doch dieser winkte bloss «kaiserinnenartig» den applaudierenden Zuschauern am Strassenrand zu und genoss seine «neue Rolle als Sisi der Nation».

Letztere Charakterisierung hatte die Journalistin als Herabwürdigung gemeint. Doch nichts hätte Neuwirth weniger treffen können als der Vorwurf, eine sisihafte Diva zu sein. Im Gegenteil. Sein sehnlichster Wunsch, dem er sein ganzes Leben unterordnet, ist es, als Bühnenkünstler «weltberühmt» zu werden, wie er kürzlich dem TV-Moderator Kurt Aeschbacher erklärt hat. Schon als Bub hatte der Sohn eines Wirte-Ehepaars in der Steiermark – «ich hatte eine traumhafte Kindheit» – am liebsten Mädchenröcke und Stöckelschuhe getragen und von schmachtendem Publikum, Glamour und Scheinwerferlicht geträumt. Einige Jahre hatte er an allen möglichen Castingshows und Gesangswettbewerben teilgenommen. Aber erst mit der Erfindung der Figur Conchita Wurst, einer Frau mit zierlicher Figur, ausgestopften Brüsten und Bart, einer Mischung aus junger Liza Minnelli und Jesus Christus konnte er grössere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und gelang ihm schliesslich der Triumph beim ESC im Mai dieses Jahres. Die Journalistin hatte wie die meisten ihrer Zunft Neuwirths Dragshow als Statement für «Toleranz», für eine «selbstbestimmte Sexualität», gegen «Diskriminierung» und «starre Geschlechterstereotype» auf groteske Weise hyperventiliert und gefeiert. Als ob Neuwirth ein subversiver Genderaktivist und nicht einfach ein sympathischer homosexueller Schlagerinterpret sei und als ob im moralisch abstinenten Westen bekennende Schwule nicht längst als Bürgermeister, Fernsehstars, Aussenminister wirkten, sondern gesteinigt würden. Conchita Wurst kann dieses Missverständnis gleichgültig sein. Hauptsache, sie bekommt Applaus. Egal ob vor dem EU-Parlament, an einer UNO-Konferenz oder wie in diesen Tagen im Pariser Edel-Erotik-Varieté Crazy Horse. Ein anderer Landsmann aus der Steiermark hatte es schon einmal geschafft, dank Körpereinsatz und Disziplin weltberühmt zu werden. Warum nicht auch Tom Neuwirth alias Conchita Wurst?

Als ob Conchita Wurst ein subversiver Genderaktivist und nicht einfach ein sympathischer homosexueller Schlagerinterpret sei.

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