Die Weltwoche / Eugen Sorg

23.03.2005

Der Dschungelfluch

Das meiste Kokain auf dem Weltmarkt stammt aus Kolumbiens Regenwald. Die Armee ist auf der Jagd, die Drogen-Guerilla auf der Hut. Eine Reportage.

In Puerto Leguizamo, einer kleinen kolumbianischen Garnisonsstadt am Fluss Putumayo, nimmt mich ein Speedboat der Kriegsmarine an Bord. Der Putumayo bildet den grössten Teil der Südgrenze Kolumbiens. Er entspringt den Schluchten der Kordilleren, wälzt sich als bräunliche Masse durch das tropische Amazonasbecken und vereinigt sich tausend Kilometer weiter unten mit dem Amazonas selbst. Unser Boot fliegt und schlittert flussaufwärts, vor der Mündung des fest montierten Maschinengewehrs gleiten die mit undurchdringlichem Buschwerk, riesigen Bäumen, Farnen und Wurzeln gesäumten Ufer vorüber. Selten taucht ein winziger Militärposten auf oder eine Frau, die vor einer einsamen Hütte die Wäsche macht, oder eine kleine Siedlung, wie zum Beispiel Puerto Ospina, gegenüber Ecuador gelegen, im Departement Putumayo, irgendwo am Oberlauf des gleichnamigen Flusses, das Ziel unserer vierstündigen Fahrt.

Das Dorf war vor siebzig Jahren aus dem Dschungel gehauen worden aufgrund einer noblen vaterländischen Aufwallung des damaligen Präsidenten, der die Segnungen der kolumbianischen Zivilisation auch in die wildesten Randzonen des Landes tragen wollte. Kaum gegründet, wurde der Flecken von der Regierung wieder vergessen und dämmerte, von einer Hand voll Schmuggler und Bauern bewohnt, für das nächste halbe Jahrhundert vor sich hin.

Eine unerwartete Wiederauferstehung erfuhr der Ort Ende der siebziger Jahre. Zuerst in den USA und dann in Europa entwickelte sich Kokain zur Lieblingsdroge der jungen, schicken Gesellschaftskreise. Die Blätter des Coca-Strauches, Ausgangsstoff für Kokain und seit Ewigkeiten rituelles Genussmittel der indianischen Ureinwohner, wurden über Nacht zum begehrtesten Exportprodukt der Andenregion.

Besonders prächtig gedieh die Pflanze in den Regenwäldern Südkolumbiens, in den Departementen Putumayo, Caqueta, Amazonas. Von überall her strömten landlose Campesinos, Abenteurer, Kriminelle in die Dschungelgebiete, und gottverlassene Nester wie Puerto Ospina begannen vor Geschäftigkeit zu vibrieren. In den neu eröffneten Discotheken und Bordellen wurde mit Coca-Paste bezahlt, Primarlehrer sattelten um auf Drogenhandel und stapelten in ihren Villen Säcke voller Pesos, gut gelaunte Mafiosi zeigten Schulkindern auf dem Dorfplatz, wie man eine Maschinenpistole bedient, und Kokainpaten wie Pablo Escobar aus Medellín stiegen innert wenigen Jahren zu den reichsten Männern des Planeten auf.

Grosse Profiteure des Coca-Rausches waren auch die diversen bewaffneten Organisationen des Landes: die Paramilitärs und vor allem die kommunistische Guerilla Farc (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens). Während nach der Auflösung der Sowjetunion die linken Partisanenarmeen weltweit in der Bedeutungslosigkeit versanken, konnten die Farc als einzige an Schlagkraft zulegen. Ende der Neunziger beherrschte die älteste Guerillatruppe Lateinamerikas vierzig Prozent Kolumbiens, belagerte die grossen Städte inklusive der Sechs-Millionen-Kapitale Bogotá und kontrollierte die wichtigsten Landverbindungen, wo sie nach Belieben Strassensperren errichten und Leute verschleppen konnte.

Nebst der lukrativen Entführungs- und Erpressungsindustrie baute sie ein effizientes System der Besteuerung von Anbau, Verarbeitung, Verkauf und Transport des Kokains auf. Vor allem der Tod Escobars im Jahre 1992 und die damit einhergehende Zersplitterung des Medellín-Kartells erlaubten ihr ein verstärktes Engagement im Drogenbusiness. Mindestens 600 Tonnen des weissen Goldes werden noch immer jährlich aus Kolumbien ausgeführt. Rund zwei Drittel stammen aus den Dschungeln von Putumayo und Caqueta ­ von dort, wo die Farc die besten ihrer 14000 Kämpfer stationiert haben. Ein aktueller Bericht der Weltbank schätzt die Jahreseinnahmen der Guerilla auf eine Milliarde Dollar, die Hälfte davon aus dem Kokaingeschäft. Jedes Gramm, das an coolen Szenepartys in Zürich, Barcelona oder London in die Nase gezogen wird, ist auch ein kleiner Zustupf an den Haushalt der Narco-Stalinisten.

Schwimmender Panzer

Diese Geschäfte der Farc zu stören und «hacer estado», Staat zu machen, ist die Mission des Kanonenbootes «Tony Pastrana» ­ eine Mission, die ständig gefährdet ist. Durch gewaltige Hindernisse und durch lächerliche Kleinigkeiten, wie ich bald erfahren sollte. Das gepanzerte, schwerfällige Kriegsreptil patrouilliert das ganze Jahr auf dem Putumayo, umschwirrt von vier «Piranhas», wie die wendigen, Maschinengewehr-bestückten Schnellboote genannt werden. Ab und zu legt es am Ufer an, so vor drei Wochen bei Puerto Ospina, verstärkt durch einen Schleppkahn mit 200 Infanteristen der Brigada de Selva, der Dschungelbrigade. Und dort liegt es noch immer, als mich sein Kapitän Antonio Espitio an Bord empfängt. Puerto Ospina war fest in den Händen der Narcoguerilla, bis diese vor eineinhalb Jahren von der Armee vertrieben wurde. Das Panzerschiff wacht darüber, dass das so bleibt. Es ist ein Vorposten der Ordnung, provisorisch, roh, wirksam. Aber sobald es weiterzieht, droht die Rückkehr der Gesetzlosigkeit.

Kapitän Espitio, ein 29-jähriger Marineoffizier mit feingeschnittenem Gesicht und überraschend melodiöser Stimme, weiss, dass ohne Hilfe der Bevölkerung die Guerilla nicht besiegt werden kann. Früher habe jedoch das Militär häufig den Fehler gemacht, die Leute «schlecht zu behandeln», wie er etwas vage formuliert. Er vermutet, dass die eine Hälfte der 700 Einwohner von Puerto Ospina «für den Staat» Partei ergreife, die andere Hälfte mit der Guerilla «verbandelt oder verwandt» sei. Immerhin besser als beispielsweise in Pinuna Negra, vierzig Kilometer flussaufwärts. Alle Türen und Fenster, erzählt er, seien geschlossen worden, als die Armee dort angekommen sei. «Wir zogen uns zurück, und sie schossen auf uns.» Der Ort sei «hundert Prozent Farc». Und er fügt gelassen an: «Man müsste ihn ausradieren. Aber das humanitäre Recht lässt dies nicht zu.»

«Die Schlange lebt»

Der kolumbianische Staat, traditionell schwindsüchtig, schien unter dem Würgegriff der Narcoguerilla vollends zu verröcheln. 420 Bürgermeister, beinahe die Hälfte der Nation, hatten aus Angst, von den Farc umgebracht zu werden, ihren Posten geräumt. Aus demselben Grund hatte sich die Polizei in einem Fünftel der Gemeinden aus dem Staube gemacht. Fünf Millionen der 44-Millionen-Bevölkerung lebten als Vertriebene im eigenen Land. 26000 Menschen jährlich wurden durch kriminelle Gewalt, die kolumbianische Erbsünde, getötet. Und im August 2002, mitten in der Hauptstadt, wurde die Feier zur Amtseinführung des neugewählten Präsidenten Álvaro Uribe von einem Granatengewitter der Farc unterbrochen, das unter den Zuschauern ein Blutbad anrichtete. Trotzdem fasste Kolumbien mit Uribe wieder Hoffnung.

Der 52-jährige Frühaufsteher mit dem blassen Gesicht eines Mathematikstudenten und dem Willen eines Zen-Mönchs, der schon als Bürgermeister von Medellín und Gouverneur von Antioquia über ein Dutzend Anschläge überlebt hatte, konnte bald spürbare Erfolge einfahren. Die Umklammerung von Bogotá und anderer Städte wie Medellín wurde gesprengt, die nationalen Strassenverbindungen entführungssicher gemacht und einige hochrangige Farc-Kader ausgeschaltet wie der Kidnappingspezialist mit dem literarischen nom de guerre Marco Aurelio Buendía oder Omaira Rojas alias Sonia, Kokainministerin der Südfront, oder kürzlich Rodrigo Granda, der von Venezuela aus agierende Terroraussenminister.

Mit Bravour, Entschlossenheit, der Hilfe von US-Beratern und über drei Milliarden US-Dollar hatte Uribe aus einer gedemütigten, demoralisierten und verwahrlosten Nationalarmee eine kampfstarke Truppe geformt. Zusammen mit den Polizeikräften jagte sie die Guerilla zurück in den Urwald und forcierte die Entwaffnung der Paramilitärs. Im ganzen Land nahmen daraufhin die Entführungen, Morde, Massaker, Vertreibungen, Anschläge markant ab ­ bis zu fünfzig Prozent und mehr. Ein kleines politisches Wunder im wahrscheinlich gewalttätigsten Land der Welt. Und die grössere Sicherheit zahlte sich sogleich in einem wirtschaftlichen Aufschwung aus. Uribe, der Mann mit dem Charisma eines Rechenschiebers, geniesst laut Umfragen nach drei Amtsjahren eine Zustimmung von sagenhaften siebzig Prozent. Obwohl die wirklich grossen Probleme von einer Lösung noch immer weit entfernt sind.

«Die Schlange lebt noch», meinte Uribe mehrmals in Interviews. Er sagte damit, was jeder Kolumbianer weiss: Die Farc sind nicht besiegt. Ebenso wenig wie die Banden der Paramilitärs. Ein Sieg des Staates auf militärischem Schlachtfeld allein ist nicht möglich. Es muss die Lebensgrundlage des Feindes angegriffen werden: die Einkünfte aus dem Drogengeschäft. Dies ist die Idee des «Plan Colombia», den Uribe von seinem glücklosen Amtsvorgänger Andrés Pastrana übernommen und konsequent verschärft hat. Täglich steigen Flugzeuge auf, um Coca-Felder mit Herbiziden zu besprühen. 135000 Hektaren sollen im letzten Jahr entlaubt, dazu 148 Tonnen Kokain und beinahe 2000 Kokainlabors entdeckt und zerstört worden sein. In den von der Regierung regelmässig veröffentlichten Erfolgszahlen schwingt Pathos mit. Der Krieg gegen das Indianerkraut ist ein vaterländischer Akt. Jeder Schlag gegen die Herrschaft der Narcoökonomie mindert die historische Schmach des Staates, bei der Errichtung des Gewaltmonopols gescheitert zu sein.

Verwaiste Bars

Für einen Spaziergang in Puerto Ospina gibt uns Major Castellanos, der Kommandant der Dschungelbrigade, ein paar seiner Soldaten mit. «Nur zur Sicherheit.» Uns schlägt schlechte Stimmung entgegen. Die Frauen drehen sich weg, die Männer blicken finster oder verächtlich, die Kinder erwidern das Lächeln nicht. Vielleicht war Kapitän Espitios Schätzung einer fünfzigprozentigen Zustimmung etwas zu optimistisch. Das Dorf lebt vollständig von der Coca-Pflanze. Seit die Armee in der Gegend ist, lassen sich kaum mehr Händler blicken, und die Bauern bleiben ohne Geld auf ihrer Ware, der aus den Blättern verfertigten Coca-Paste, sitzen.

In einer der verwaisten Bars beklagt sich der Gemeindechef, ein älterer Mann mit echsenartigen Augen, über die Politik der Regierung. «Das Besprühen ist eine Katastrophe für die Kühe, die Hühner und die sonstigen Pflanzen.» ­ «Die Regierung hat den Cocaleros, den Coca-Bauern, Alternativen unterbreitet», erwidere ich, «zum Beispiel Hilfe bei der Wiederaufforstung von abgeholztem Regenwald.» ­ «Wir haben bis heute keine Hilfe gesehen.» ­ «Würdet ihr denn Alternativen akzeptieren? Der Anbau von Coca ist viel einfacher und lohnender als Bäume setzen und Bohnen ziehen.» ­ «Momentan schauen wir, wie viel überhaupt angepflanzt wird», antwortet er ausweichend, «dann schicken wir eine Delegation nach Bogotá, um abzuklären, was uns angeboten wird.» Ob es übrigens stimme, meint er plötzlich und schaut mich prüfend an, dass europäische Länder fremde Gemeinden adoptierten? Ich reagiere für einen Moment ratlos. «Und weisst du», schiebt er gleich die nächste Frage nach, «warum die Regierung der Guerilla und den Paramilitärs die Möglichkeit gibt, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern, aber nicht den Bauern?» Und ohne meine Antwort abzuwarten, schliesst er mit dem leichten Triumph des argumentativen Siegers: «Der Bauer ist friedlich, darum.»

Verirrt im Dschungel

Früh am nächsten Morgen bricht eine Einheit von hundert Mann auf. Sie soll ein Coca-Labor zerstören und einige Leute verhaften. Zwei Stunden später ziehe ich in Begleitung von vierzig Soldaten ebenfalls los. Wir sollen am Zielort mit der ersten Gruppe zusammentreffen. Der Kommandant wollte mich anfänglich nicht gehen lassen. «600 Farc-Guerillas sind in der Gegend», hatte er gesagt und mich kurz mitleidig von Kopf bis Fuss gemustert. Schliesslich erteilte er trotzdem seine Bewilligung.

Bald nach den letzten Häusern taucht der Pfad in den Dschungel ein. Wir marschieren in einer Einerkolonne, das Tempo kommt mir schnell vor, es ist heiss und feucht, innert wenigen Minuten bin ich schweissgebadet. Vor mir stapft Feldwebel Caballero, er trägt dreissig Kilo Ausrüstung und Munition. Ab und zu dreht er sich nach mir um, entspannt und lächelnd, er hat ein freundliches Pferdegesicht und die Ausdauer eines Ochsen. Zwei Stunden später stoppt die Kolonne. Irgendwo sind wir in die falsche Richtung geraten. Selber habe ich schon längst die Orientierung verloren. Ich lehne mich schwer atmend an einen Baum, richte mich aber sofort wieder auf, als dicke schwarze Ameisen an meinem Arm hochkrabbeln.

Das Pferdegesicht versucht, Funkkontakt mit der Basis auf dem Kanonenboot und mit der ersten Gruppe aufzunehmen. Vergeblich. Der Wald ist zu dicht. Er verschluckt alles, Stimmen, Gerüche, Radiowellen. Wir kehren um und biegen nach einer Weile in einen anderen Pfad ein. Nach weiteren zwei Stunden wird beschlossen, zur Basis zurückzukehren. Noch immer hat man keine Funkverbindung. Und eine zufällige Begegnung mit der ersten Gruppe könnte leicht in einem tragischen Feuergefecht enden. «Friendly fire», sagt einer der Soldaten grinsend. Wer wüsste schon, ob es sich bei den anderen nicht um die Guerilla handelte? Ich starre zwischen den Lianen und Baumstämmen hindurch. Die Guerilla könnte ganz in der Nähe sein, ohne dass wir es bemerkten. Rechts hinter diesem Dickicht oder vielleicht dort vorn, hinter jener kleinen Erhebung. Oder dieser seltsame Pfiff, der von einem zweiten und in einiger Entfernung von einem dritten Ruf beantwortet wird ­ ein Vogelschrei oder ein verabredetes Signal der Dschungelkrieger?

Regen setzt ein, nein, nicht Regen, Sturzbäche donnern vom Himmel herab. Wir steigen über Baumstrünke und waten durch Sümpfe. Wieder und wieder rutsche ich auf dem roten, schmierseifigen Morast aus oder versinke bis zum Knie in einem Schlammloch. Der Schlick saugt sich an meinem Turnschuh fest, ich muss alle Kräfte mobilisieren, bis er mit einem schmatzenden Seufzer wieder freigegeben wird. Plötzlich entdecke ich an meinem Hemd Dutzende von kleinsten grünen Würmern. Reflexartig versuche ich die wimmelnden Winzlinge wegzuwischen, und umgehend lande ich auf dem Hintern.

Zerfressene Geschlechtsteile

Acht Stunden nach unserem Abmarsch sind wir zurück auf dem Kanonenboot. Das Pferdegesicht zwinkert mir zu. Immerhin ist er ein wenig blasser als am Morgen. Ich versuche zurückzulächeln. Es muss wie eine verquälte Grimasse ausgesehen haben. Ich bin zerstochen, schmutzstarrend, zerschlagen. Und alles ist nass, total nass. Das Wasser scheint überall eingedrungen zu sein. In den Rucksack, in die Plastikfolie mit dem Notizbuch, in die Haut, ins Gehirn. Gesicht und Hände sind aufgedunsen, Schuhe und Füsse bilden einen einzigen warmen Quellbrei. Als hätte der tropische Fäulnisprozess bereits eingesetzt.

Einer der Soldaten hat erzählt, dass sie für grössere Operationen manchmal mehrere Monate im Dschungel bleiben. Es muss die Hölle sein. Die Truppen erleiden viel mehr Ausfälle durch Krankheiten als durch Feindkontakt. Malaria, Tuberkulose, Cholera, Gelb-, Schwarzwasser- und Denguefieber erwarten die herumirrenden, oft hungernden Patrioten, ebenso Krätze, Durchfall, eiternde Stiche. Jaguar und Giftviper sind harmlos gegen die Zecken, Mordwanzen, Moskitos, diversen Fliegen, deren Protozoen, Larven und Maden sich in die Haut bohren und, sich rapide vermehrend, durch den Körper wandern. Harmlos gegenüber jenem von Sandfliegen übertragenen Parasiten, der die als Alptraum gefürchtete, der Lepra ähnlichen Leishmaniasis hervorruft ­ sie muss schnell behandelt werden, ansonsten zerfrisst sie die Geschlechtsteile. Und ein Bad im Fluss, um den brennenden Ausschlag zu kühlen, ist nicht ratsam. Dort lauern Kaiman, Anakonda und Zitteraal.

Am folgenden Tag planen die Truppenführer im Kanonenboot die Einnahme von Vereda Reforma. Die Urwaldsiedlung, vierzig Kilometer flussabwärts gelegen, ist genau genommen eine Ansammlung weniger verstreuter Hütten am Rande von vier Coca-Pflanzungen. Kapitän Espitio breitet eine detaillierte Karte aus. Jedes Haus ist mit Besitzer («El diablo» u. a.) und manchmal mit Funktion («Discoteca La Mona») eingezeichnet. Er hat die Karte mit Hilfe des neben ihm sitzenden, schüchtern wirkenden jungen Mannes entworfen ­ ein Informant, der sechs Jahre als Cocalero in der Gegend gearbeitet hatte. Als die Geschäfte ins Stocken gerieten, lief er über zur Armee.

«Bauern ziehen den Kopf ein und rennen»

In einem der Coca-Labors, sagt Kapitän Espitio, sollen sich momentan auch Tacuelo und seine Komplizen aufhalten. Auf Tacuelo macht die Armee schon längere Zeit Jagd. Vergangene Woche ist er ihnen unter Zurücklassen von 60 Kilo Coca-Paste ganz knapp entwischt. Er ist regionaler Paste-Lieferant der Farc, zudem hat er vor zwei Monaten eine Frau ermordet. Espitio fragt den Informanten, wie weit es bis zum ersten Labor sei. «Zwei Stunden bis zur Pflanzung», antwortet dieser, «dann 30 Minuten bis zum Labor.» ­ «Bauern», wirft Major Castellanos von der Dschungelbrigade ein, ohne den Informanten anzuschauen, «Bauern ziehen den Kopf ein und rennen. In 30 Minuten kommen sie so weit wie wir in drei Stunden.» Major Castellanos sieht ähnlich aus wie das Oberhaupt der Sopranos aus der TV-Serie, nur zerknautschter, und aus seinen Ohren wachsen Haarbüschel. «Bauern laufen wie normale Menschen», behauptet dagegen Espitio, worauf man sich, ohne einig geworden zu sein, Strategiefragen zuwendet.

Leutnant Sogamoso, ein kleiner, listiger Dschungelveteran, der im Brustbeutel eine Tigertatze und einen Liebesbrief mit sich trägt, weist darauf hin, dass das gestiegene Wasser gewisse Flüsschen unpassierbar gemacht hat. Die Idee, die Siedlung mit einer Zangenbewegung anzugreifen, wird verworfen. Alle 120 Mann werden von derselben Seite vorrücken, abgesichert an der Front durch MG-Schützen. «Wenn du einen Kerl mit einer Pistole siehst», instruiert Castellanos die Truppenführer, «musst du ihn erschiessen. Nicht ’stop!› rufen. Es sieht schlecht aus, wenn du einen bewaffneten Gefangenen hast und einen toten Soldaten.»

Noch am selben Nachmittag legt Espitios Flotte ab. Auf halbem Weg nach Vereda Reforma ragt in einer Biegung des Flusses ein Hügelvorsprung auf, den Espitio noch vor Einbruch der Nacht einnehmen will. «Ein gefährlicher Punkt», sagt er. Von dort oben hat der Feind sein Boot schon unter schweren Beschuss genommen. Und von dort kann er den Aufmarsch der Soldaten weitermelden. Bevor wir die Stelle erreichen, verdunkelt sich plötzlich der Himmel, und einer dieser Flutregen ergiesst sich über die Erde. Er hämmert gegen die Schiffspanzerung, wühlt den Fluss auf, und die Ufer verschwinden hinter einer grauen Wasserwand. Eine halbe Stunde später lässt das Gewitter nach, und der Steuermann stellt fest, dass der strategische Hügel bereits hinter uns liegt. Wir haben ihn wegen der schlechten Sicht verpasst. «Weiterfahren», sagt Espitio nur, «wir haben morgen noch genug zu tun.»

Die Mulas des Präsidenten

Gegen vier Uhr früh steige ich in die Führerkabine hoch. Um diese Zeit wollten wir an Land gehen. Sechs Leute stehen um den Steuermann herum, der wild am Steuer dreht und angestrengt in die Nacht hinausspäht. Draussen giesst es in Strömen, und im Lichtkegel des blauen Suchscheinwerfers taucht undeutlich eine ferne Uferböschung auf. Eine halbe Stunde später lege ich mich wieder in meine Koje. Das Kanonenboot bewegt sich nicht mehr. Es ist auf eine Sandbank gelaufen, mitten im Fluss, 260 Tonnen Stahl, wie in den Boden verschraubt. Der Schleppkahn braucht über fünf Stunden, um die «Tony Pastrana» wieder zu befreien, zwei faustdicke Seile reissen unter lautem Knall, und als die Soldaten endlich an Land steigen, ist das Überraschungsmoment unserer Operation längst dahin. Die Farc-Guerilleros haben sich entweder zurückgezogen ­ oder sie warten irgendwo auf uns.

Wir gehen in Fünferkolonnen, und mir wurde eingeschärft, immer dicht hinter Korporal Muñoz zu bleiben, einem 22-jährigen Angehörigen der Spezialeinheit Apache. «Wir sind die Mulas, die Lastesel von Uribe», spottet dieser. Nach einstündigem Marsch im trüben Licht des Dschungels erreicht die Truppe unter der Führung des Informanten die erste Coca-Pflanzung. Das Feld misst zirka anderthalb Hektaren ­ wie alle in jüngster Zeit neu angelegten Felder. Flächen von ein oder zwei Hektaren sind zu klein, um aus der Luft besprüht zu werden. Insgesamt, so eine Schätzung, sind in Kolumbien in den letzten elf Jahren eine Million Hektaren Regenwald zugunsten von illegalen Coca-Kulturen abgeholzt und verbrannt worden.

Nach einer Lagebesprechung schwärmen Kommandos aus, um das Terrain zu erkunden, und wir horchen angespannt, ob alles ruhig bleibt. Zehn Minuten später kommt das Signal, dass die Situation unter Kontrolle sei, und wir rücken nach. Vor einer Hütte in der Nähe des Feldes treffen wir auf eine zirka 30-jährige Frau. Sie rührt in einem Kochtopf, um sie herum spielen ihre vier Kinder. Sie wehrt verlegen ab, als Luca, der Fotograf, ein Bild von ihr schiessen will. Erst als die Kinder in die Behausung flitzen, in Sonntagskleidung wieder herauskommen und sich vor Luca aufstellen, willigt sie kichernd ein. «Komm auch aufs Foto», winkt sie mir zu, «ein Gringo bessert das Bild auf.» Wir seien die ersten Ausländer, erzählt sie nachher, die sie je gesehen habe.

Etwas später taucht ihr Mann auf. Er behauptet, nicht zu wissen, wem das Feld gehöre. Ein Leutnant befragt ihn nach den Personalien, während er ihn mit einer Videokamera filmt. Zum Schluss müssen Mann und Frau eine Bestätigung unterschreiben, dass sie von den Soldaten korrekt behandelt worden sind. Die US-Milliarden für den Plan Colombia sind an das menschenrechtskonforme Verhalten der Armee geknüpft. Die Frau ist Analphabetin und malt ihren Namen sorgfältig von ihrer ID ab. Der Mann wird von der weiterziehenden Truppe mitgenommen.

Am Rande des nächsten Feldes steht eine kleine Siedlung von vier Hütten. Rund ein Dutzend Cocaleros sitzen herum, darunter auch ein zwölfjähriger Junge. Leutnant Sogamoso hält ihnen einen Vortrag, den sie sich mit ungerührter Miene anhören ­ «mit Coca füttert ihr die Terroristen, die unser Land kaputtmachen» ­, und anschliessend wird wieder von jedem ein Videoprotokoll verfertigt. Unter den Cocaleros ist auch ein zwölfjähriger Junge mit einem alten Gesicht. Ob er nicht mehr zur Schule gehe, will ich wissen. «Nein», antwortet er. «Wieso nicht?» ­ «Schule gefällt mir nicht.» ­ «Was willst du mal werden?» Er schaut mich verständnislos an. «Was sind das für Fragen?», mischt sich ein Kollege ein, «er wird Millionär werden. So wie alle hier.» Die Runde lacht. Von den Anwesenden will keiner den Besitzer des Feldes kennen. Von Tacuelo haben sie schon lange nichts mehr gehört. Und bei der Frage nach den Coca-Labors zucken sie auch dann noch mit den Schultern, als in einer der Hütten Zutaten für die Herstellung von Coca-Paste gefunden werden: Zement, Kalk, Salzsäure.

Die Küche brennt

Die Gewinnung der Paste aus den Coca-Blättern ist technisch einfach. Die Bauern machen dies selbst, in sogenannten «cocinas», Küchen, meist in der Umgebung der Pflanzungen. Die Blätter werden mit Wasser, Zement und Kalk zu einem Brei gestampft und zusammen mit Benzin ein paar Stunden in einem Fass gelagert. Die unten austretende alkaloidhaltige Flüssigkeit, der «Kokain-Guarapo», wird mit Salzsäure gereinigt, mit Kalk und Wasser versetzt und durch ein Stück Tuch gefiltert, in welchem eine gelige Masse, die Paste, hängen bleibt. Getrocknet und in Plastik verpackt, wird sie in Kiloportionen der Guerilla oder deren Zwischenhändlern verkauft. Mit der Kristallisierung der Paste zu Kokain hingegen haben die Bauern nichts mehr zu tun. Diese findet anderswo in spezialisierten, von den Farc oder der Mafia streng bewachten Labors statt.

Die erste «Küche» befindet sich gleich hinter der Siedlung am Eingang des Waldes, die zweite erreichen wir nach fünf Minuten Fussmarsch. Der Informant hat uns hingeführt. Er trägt trotz der Hitze die ganze Zeit eine Kapuze und hält sich fern von den Coca-Bauern. Würde er von einem erkannt, käme dies seinem Todesurteil gleich. Alle männlichen Anwesenden der Siedlung sind in Gewahrsam genommen worden. Sie schauen zu, wie Soldaten Benzin über den Bretterboden ihrer Coca-Labors schütten und diese samt Blättervorrat und Pastehaufen niederbrennen.

Der Tag verläuft ohne unliebsame Begegnungen, jedoch bricht bereits die Dämmerung an, als die vierte «Küche» gefunden wird. Der Videoleutnant hat nicht nur alle Befragungen durchgeführt, sondern auch mit sturer Gewissenhaftigkeit von jedem festgestellten Zementsack oder Benzinfass oder Pastenrest als Beweismittel eine Probe entnommen, ins Reagenzglas gesteckt und Inhalt, Menge, Zeit, Ort in ein Büchlein eingetragen. Dies hat viel Zeit gekostet, und mein Vordermann Muñoz hatte schon nach Abfackelung der zweiten Küche etwas von umkehren gemault. Nochmals eine Bude anzuzünden, giftelt er jetzt leise, sei völlig unnötig. Erstens würden die Flammen und der hoch aufsteigende schwarze Rauch nur die Aufmerksamkeit der Guerilla auf sich lenken, zweitens sei die Küche fast leer, und drittens sei der Rückweg lang. Vor allem im Dunkeln.

«Wir schiessen, wenn du rennst»

Die Zahl der mitgeführten Gefangenen ist mittlerweile auf über zwanzig angewachsen. Sie sollen später ausführlicher befragt werden. Tacuelo ist nicht dabei. Dafür begleiten ein paar Frauen freiwillig ihre Männer. Sie alle, auch der Zwölfjährige, werden auf den hinteren Teil der langen Einerkolonne verteilt, ein Zivilist, zwei Soldaten, wieder ein Zivilist. «Wir schiessen, wenn du rennst», informiert sie der Truppenführer, bevor sich der ganze Zug in Bewegung setzt.

Um möglichst weit zu kommen, solange noch etwas Tageslicht durch das Laub sickert, wird ein verschärftes Tempo angeschlagen. Ich versuche mit Muñoz Schritt zu halten, der mit seinem riesigen Rucksack locker steile, glitschige Abhänge runter- und auf der anderen Seite wieder hochtrabt und auf Baumstrünken über Sümpfe tänzelt. Ich bin besser ausgerüstet als bei der ersten Operation. Kapitän Espitio hat mir Militärgummistiefel ausgeliehen, und zur Festigung des Durchhaltevermögens habe ich mir eine Handvoll selbstgepflückter Coca-Blätter in die Backe geschoben. Trotzdem verliere ich Muñoz, der sich nie nach mir umdreht, immer wieder für Momente aus den Augen. Er schaut sich auch nicht um, als ich über eine Wurzel stolpere, steif wie eine kippende Gliederpuppe auf einen querliegenden Baumstamm knalle und einen solchen Schmerz in den Rippen verspüre, dass mir das Wasser in die Augen schiesst. Mit einem fürchterlichen Fluch und einem Hass auf Muñoz rapple ich mich auf und keuche weiter.

Im Innern des Kompostiermagens

Eine halbe Stunde später ist es Nacht. Die Kolonne geht langsamer. Weder die Äste, die einem ins Gesicht schlagen, noch die eigenen Füsse sind zu erkennen, und wenn ich direkt hinter Muñoz stehe, kann ich gerade noch die schattenhaften Umrisse seines Rucksackes und den grün phosphoreszierenden, auf und ab hüpfenden Leuchtknopf an seiner Maschinenpistole sehen. Wie ein Kind klammere ich mich an einen Riemen von seinem Gepäck. Mein Hass verwandelt sich in dankbare Bewunderung. Ich strauchle und rutsche und zerre an ihm, und nie verliert er das Gleichgewicht.

Und dann geschieht etwas Erstaunliches. Es wird noch dunkler. Es wird schwarz. Absolut, undurchdringlich schwarz. Ich halte die Hand direkt vor meine Augen ­ ich sehe nichts. Die totale Finsternis. Jetzt bleibt die Kolonne stehen, und alle fassen sich bei den Händen, Militärs und Gefangene. Dann setzt sich der Zug wieder in Bewegung, eine blinde, schweigende Menschenkette, die sich mit unsicheren Schrittchen vorwärts tastet. Erstmals nehme ich den Geruch des Dschungels wahr. Er riecht wie ein Komposthaufen. Es ist, als würden wir durch einen gigantischen, dampfenden und atmenden Kompostiermagen irren.

Um kein leichtes Ziel für den Feind abzugeben, ist es verboten, Taschenlampen anzuzünden. Seit Jahresbeginn haben die Farc eine ganze Reihe Überfälle verübt. Zum Beispiel vor fünf Tagen auf eine Militärpatrouille nicht sehr weit von hier oder vor sechs Tagen auf die kleine Garnison Iscuandé im Nachbardepartement Nariño, sieben beziehungsweise fünfzehn Soldaten starben. Die Attacken sind gut vorbereitet. Die Guerilleros vergraben Waffen und Proviant in der Nähe des Zielobjekts, ziehen sich wieder zurück, warten Leermond oder dichte Wolken ab, um dann mitten in der Nacht überraschend zuzuschlagen und wieder zu verschwinden. Ohne Gepäck durchqueren sie den Dschungel schnell und geräuschlos wie Schlangen. Und offenbar können sie auch im Dunkeln sehen. Das ist kein beruhigender Gedanke.

Ab und zu erblicke ich kleine Lichtpunkte. Einmal sind sie weiter entfernt, einmal ganz nah, und immer bewegen sie sich. «Siehst du das auch?», flüstere ich Fotograf Luca zu, der gleich hinter mir geht. «Leuchtkäfer», flüstert er zurück. «Bist du sicher?», frage ich. Er sagt nichts mehr. Dafür höre ich ihn eine Weile später spucken und würgen. «Luca, mach nicht so einen Lärm», flüstere ich, «was ist los?» «Mir ist kotzübel», sagt er und beginnt sich zu übergeben, laut und immer wieder, bis nur noch Speichel und Magensäure aus seinem Mund tropfen und bis in einem Umkreis von einem Kilometer auch der schwerhörigste Farc-Partisan aufgewacht wäre. Vielleicht sind die Hitze schuld und die Anstrengung und die seit langem leeren Wasserflaschen und das Antibiotikum, das er sich heute Morgen beim Schiffsdoktor gegen seine stattliche Sammlung von Insektenbissen geholt hat. Und gegen den Parasiten, der Leishmaniasis verursacht. Man weiss ja nie. Die Kolonne ist stehen geblieben und wartet, bis Luca sich wieder erholt hat. Um elf Uhr nachts erreichen wir das Kanonenboot. Für den Rückweg, eine Strecke von rund drei Kilometern, haben wir vier Stunden gebraucht.

Superpflanzen gezüchtet

Kolumbien ist vor Peru und Bolivien mit Abstand der grösste Kokainproduzent der Welt. Die messbaren Erfolge des Plan Colombia, die Abertausende Hektaren vernichteter Coca-Kulturen, die Tonnen beschlagnahmten Kokains müssten sich in den Marktpreisen niederschlagen. Interessanterweise sind die Preise für ein Gramm Kokain weder in New York noch in Zürich gestiegen, und auch die Qualität ist nicht schlechter geworden. Warum?

Der erhöhte Druck hat die Kreativität der Produzenten herausgefordert. Neben der Verkleinerung der Felder wurde der Ertrag pro Hektare optimiert. Die Sträucher wurden enger gepflanzt. Es wurden Sorten mit viel höherer Alkaloidkonzentration gezüchtet. Superpflanzen wurden geschaffen, die im Gegensatz zum üblichen Einmeterwuchs bis zu drei Meter gross werden. Man verlegte die Felder in Nationalparks, wo die Regierung nicht sprühen darf. Zwischen den Coca-Stauden lässt man Mais, Bohnen oder Tomaten kultivieren, um die Regierung der herzlosen Verfolgung armer, wehrloser Campesinos bezichtigen zu können, wenn sie der Kokainguerilla die ökonomische Basis entziehen will.

Beim Abschied frage ich Kapitän Espitio, ob er manchmal Zweifel am Sinn seiner Arbeit habe. «Als Soldat denke ich nicht über solche Dinge nach», antwortet er, «und als Patriot ist es meine Pflicht, meinem Land zu helfen.» ­ «Und als Privatmensch?» Er lacht. «Frage mich das nochmals in zwanzig Jahren. Dann bin ich im Ruhestand.»

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