Basler Zeitung

08.01.2016

Eine Frage der Moral

Der Geiger der «Titanic»

Von Eugen Sorg

Nachdem die Band die letzte der fünf Strophen des Liedes «Näher, mein Gott, zu dir» gespielt hatte, gab der Kapellmeister jedem seiner Musiker die Hand, bedankte sich für die vorbildliche Aufführung, wünschte allen eine gute Nacht und viel Glück. Danach versanken die Musiker und 1500 weitere Passagiere, die keinen Platz mehr auf den Rettungsbooten gefunden hatten, in den kalten Fluten des Nordatlantiks. Ihr Schiff, die «Titanic», war in einen Eisberg gekracht und auseinandergebrochen. Es war der 15. April 1912, 2.20 Uhr morgens.

Einer der Musiker war John Law Hume, von allen Jock genannt, ein 21-jähriger Geiger, der seit seinem 15. Lebensjahr als Schiffsmusikant seinen Lebensunterhalt verdiente. Eine Fotografie von damals zeigt einen gut aussehenden, eleganten, selbstsicher posierenden jungen Mann. Jocks Leiche wurde zehn Tage nach der Katastrophe aus dem Meer gefischt. In England weinte die junge Mary Costin, als sie davon erfuhr. Jock hatte versprochen, sie nach seiner Rückkehr zu heiraten. Sie trug ein Kind von ihm unter dem Herzen.

100 Jahre später stiess der englische Journalist und Schriftsteller Christopher Ward auf ein altes Register mit den Namen derjenigen, die von einem Nothilfefonds für «Titanic»-Hinterbliebene unterstützt worden waren. Ward ist der Enkel von Jock und Mary Costin, ihr Kind war seine Mutter. Seit er denken kann, hat er alles gesammelt, was er über seinen Grossvater in Erfahrung bringen konnte. Obwohl er ihn nie kennengelernt hatte, war er so etwas wie ein Held für ihn. Und er glaubte, alles über ihn zu wissen.

Im Register war seine Grossmutter eingetragen, Mary Costin, unverheiratet, ein Kind, monatliche Unterstützung 15s 2d. Unter der gleichen Registernummer gab es jedoch noch eine zweite Frau, Ethel Mc Donald, unverheiratet, ein Kind, 15s 2d monatlich, einzuzahlen auf die Colonial Bank, Kingston, Jamaika. Ward begriff sofort, was dies bedeutete.

Jock hatte Anfang 1911 während drei Monaten im damals schicken Constant Spring Hotel in Kingston aufgespielt. Nachfragen eines Gewährsmanns in Jamaika ergaben, dass Ethel zur gleichen Zeit als Barmaid dort gearbeitet und im November desselben Jahres einen Jungen zur Welt gebracht hatte. Keine weisse Frau hätte 1911 in Kingston in einer Bar Drinks serviert. Ward machte sich mit dem Gedanken vertraut, eine viel grössere und farbigere Verwandtschaft zu haben, als er sich je vorstellen konnte. Um Gewissheit zu bekommen, reiste er selber nach Jamaika und machte sich mit seinem Gewährsmann auf weitere Spurensuche. Sie fanden nichts. Ethels Haus war irgendwann abgebrannt, keine weiteren Unterlagen über sie und ihren Sohn, nirgends.

Am Tag vor seiner Heimreise besuchte Ward das Gebäude des Constant Spring Hotel, der Ort, wo Jock und Ethel sich wahrscheinlich zum ersten Mal begegnet waren. Es war von einem Frauenorden übernommen und in die Töchterschule Unbefleckte Empfängnis umgewandelt worden. Ward liess sich die Einrichtung zeigen und durfte an einer Probe des Schülerinnen-Orchesters teilnehmen, das die Filmmelodie von «Pirates of the Caribbean» einübte. Danach stellte sich Ward vor und erzählte kurz von seinem Grossvater namens Jock Hume, dessen Fertigkeiten auf der Geige ihn von England bis nach Jamaika gebracht hätten. Darauf kam ein hübsches farbiges Mädchen auf ihn zu. Was für ein Zufall, meinte sie, ihr Name sei ebenfalls Hume, Gabi Hume, und ihr Vater habe öfters von der Verbindung ihrer Familie mit der «Titanic» gesprochen. Und, fügte sie hinzu, er habe übrigens dieselbe Augenfarbe gehabt wie Ward.

Es stellte sich heraus, dass Ward seine erweiterte karibische Verwandtschaft gefunden hatte. Gabi war die Urenkelin von Jock und Ethel. Sie hatte noch zwei Schwestern. Alle, wie auch die verstorbenen Vater und Grossvater, so sollte sich zeigen, hatten das musikalische Talent von Jock geerbt. Dieser hatte zwar seine englische Verlobte betrogen und ihr die Existenz eines Kindes mit einer anderen Frau ­verheimlicht. Das war moralisch nicht sauber. Andererseits war Jock sehr jung gewesen und er hatte immerhin der karibischen Geliebten gegenüber seine Vaterschaft anerkannt. Nur dadurch hatte sie vom «Titanic»-Nothilfefonds finanzielle Unterstützung bekommen. Vor allem aber freute es Ward, dass seine Familie plötzlich um drei charmante, kluge und wunderschöne Teenager gewachsen war. Jock war kein Held, aber er hinterliess ein wunderbares Erbe.

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