Basler Zeitung

05.02.2016

Eine Frage der Moral

Schwarze Pädagogik

Von Eugen Sorg

Schwarze sind in allen amerikanischen Kriminal­statistiken stark übervertreten. Während einer von 87 Weissen im arbeitsfähigen Alter im Gefängnis sitzt, ist im Vergleich dazu jeder zwölfte Schwarze eingekerkert. Dies betrifft «gewaltfreie» Delikte, aber auch gewalttätige wie Raub und Tötung. Schwarze machen 13 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, sind aber für mehr als die Hälfte aller Morde verantwortlich. Die grösste Gefahr für Schwarze sind nicht rassistische Cops oder weisse Fanatiker, sondern Schwarze. 94 Prozent aller dunkel­häutigen Mordopfer wurden von anderen Schwarzen getötet. Die Zahl der Schulabbrecher ist bei Schwarzen höher als bei jeder anderen ethnischen Gruppe. Es gibt mehr junge Afroamerikaner ohne Highschool-­Abschluss hinter Gittern (37 Prozent) als mit einem Job (26 Prozent).

Gegen diesen trostlosen Befund etwas zu unternehmen, beschloss eines Tages Ed Boland. Der Mittvierziger aus New York kündigte seinen Posten als Manager einer Non-Profit-Firma, für die er 20 Jahre lang gearbeitet hatte, und trat einen Job als Geschichtslehrer an einer rauen öffentlichen Highschool in Manhattans Lower East Side an. Alle seine Schüler waren schwarz oder hispanisch. Boland würde nur noch die Hälfte verdienen, könnte sich weder Psychiater, Putzfrau noch die Drinks im noblen Yale Club mehr leisten. Aber er wollte einen kleinen konkreten Beitrag dazu leisten, den ­Teufelskreis von Unterschicht, Schulversagen und Kriminalität zu durchbrechen. Sein Ehemann Sam unterstützte ihn dabei.

Er sollte als Lehrer völlig scheitern. Er konnte keinen seiner dreissig Schüler für das Lernen gewinnen, und er entwickelte gar noch Gefühle der Verachtung für die meisten von ihnen, für ihre «Armut, ihre Ignoranz, ihre Arroganz. Für alles, was ich eigentlich ändern wollte». Nach einem Jahr warf er den Bettel hin, gedemütigt, ausgebrannt, desillusioniert. Es war die schlimmste Zeit seines Lebens.

Nun hat er seine Erfahrungen in einem Buch aufgeschrieben, «The Battle For Room 314». Es ist ein packender, tragikomischer Bericht eines Angehörigen des urbanen, geschmackvollen, linksliberalen Milieus, der für unterprivilegierte Teenager Gutes tun will und sich plötzlich unter Wilden wiederfindet, die sein Engagement verhöhnen und sich allen Regeln zivilisierten Miteinanders verweigern.

Das Buch beginnt mit einer Szene aus seiner ersten Woche als Lehrer. Boland möchte mit dem Unterricht beginnen. Niemand hört auf ihn. Einige Mädchen singen, zwei Jungen prügeln sich um einen Computer, ein Taschenrechner kracht an die Wandtafel, die schwarze Jugendliche Chantay sitzt rückwärts auf der Bank, die Träger ihres Thongs exponiert. Boland bittet sie, sich zu setzen. Sie steigt auf die Bank, lacht, wirft den Kopf nach hinten, gleitet mit der Hand über ihren Oberschenkel, formt mit Daumen und Zeigefinger einen Zylinder und bewegt diesen schnell hin und her. Was zum Teufel tut sie? Dann schaut sie Boland in die Augen und schreit: «Lutsch meinen verdammten Schwanz, Mister.»

Mit einem Schlag hatte sie ihn nicht nur als Schwulen gebrandmarkt, sondern auch zu ihrer Hure erniedrigt. Er hätte das Gebäude verlassen und sich beim Arbeitsamt melden sollen. Er war besiegt. Aber er blieb noch ein Jahr. Ähnliches ereignete sich immer wieder.

Boland erzählt vom minderjährigen Freddy, der den Drogenhandel seines im Gefängnis sitzenden Bruders weiterbetrieb; von Yvette, die Intelligenz und Einsicht verriet, dies aber um keinen Preis zeigen wollte und sich abends für ein paar Dollar unter der Manhattan Bridge prostituierte; vom obdachlosen Jamal; vom gewalttätigen und skrupellosen Kameron. Boland beschreibt nüchtern den Zusammenprall von moralisch unvereinbaren Kulturen, zeichnet die Implosion seines Selbst nach und gibt Einblick in ein gefährlich kapitulierendes Schulwesen, das ganze Segmente der Jugend verloren hat.

In der Bekämpfung der Armut sieht der Autor das wichtigste Mittel, die Misere der schwarzen Unterschicht zu bekämpfen. Doch die Ursachen liegen wahrscheinlich tiefer und sind weitaus schwieriger zu überwinden. Sie haben mit dem historischen Kollaps der schwarzen Familie zu tun. Drei Viertel der Kinder wachsen ohne Vater auf. Diese verschwinden und an ihre Stelle treten Gangleaders aus der Nachbarschaft, kriminelle Ersatzväter, die vermeintlichen Schutz und Respekt versprechen.

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