Die Weltwoche / Eugen Sorg

29.08.2002

Der Lustmönch

Rasputin war die graue Eminenz am Hof des letzten Zaren. Der sibirische Bauer wurde von der vornehmen Damenwelt vergöttert. Bis heute steht sein Name für die dämonischen Abgründe der Macht.

Von Eugen Sorg ·

Russland hat viele Monster hervorgebracht. Despoten, Erleuchtete, Besessene, die alles menschliche Mass sprengen. Dostojewski zum Beispiel, wahrscheinlich der grösste aller Schriftsteller, der ein gigantisches Werk von fiebriger Klarheit hinterlassen hat. Oder den Anarchisten Bakunin, Archetyp des Aufrührers. Oder Lenin, den eiskalten Planer, und Stalin, den delirierenden Vollstrecker der tödlichen Menschheitsbeglückung. Die geheimnisvollste und zugleich groteskeste Figur ist jedoch Rasputin, eine slawische Kreuzung aus Erzengel Gabriel und Charles Manson, ein lüsterner Heiliger, der es vom analphabetischen sibirischen Muschik, vom Bauern und Landstreicher, zum mächtigsten Einflüsterer Nikolaus II., des letzten Zaren aller Russen, und zum vergötterten Intimus der Zarin gebracht hatte.

«Ich habe ganz Russland fest in meiner Hand», prahlte Rasputin gegen Lebensende in den Petersburger Spelunken vor den Saufkumpanen und den Kokotten, und er übertrieb dabei nicht. Und als sein gefesselter, vereister und fürchterlich zerschlagener Leichnam in der Weihnachtszeit von 1916 aus einem Eisloch in der Kleinen Newa bei Petersburg gefischt wurde, setzte über Tage eine Prozession zu dieser Stelle ein. Mit Eimern und Flaschen schöpften Menschen dort Wasser aus dem Fluss, um etwas von der übersinnlichen Kraft einzufangen, die dem dämonischen Kaiserberater nachgesagt wurde.

Segenssprüche und ein Becher Wodka

Grigori Rasputin, oder «unser Freund» und «Starez» (alter Mönch), wie er später von der Zarin genannt wurde, wurde 1869 in Pokrowskoje im Gouvernement Tobolsk geboren. Der Familienname Rasputin leitet sich ab von «rasputs-two», von «Unzucht, Ausschweifung». Sein Vater war Fuhrmann, Bauer und Säufer, seine Mutter eine arbeitsame, gottergebene Dulderin. Zwischen dem sibirischen Dorf Pokrowskoje und der bewohnten Welt lagen der Ural und unendliche Wälder. Moskau, Sankt Petersburg, all die Städte waren für einen Muschik blosse Namen, unnütze, unwirkliche Orte, jenseits aller Erfahrung.

Grigori Rasputin wächst wild auf, ohne Schule, ohne zivilisatorische Zurichtungen, in einer derben, rohen Umgebung. Er trinkt, hat Schlägereien, heiratet mit 19 eine Bäuerin aus dem Nachbarsdorf, stiehlt Zaunpflöcke, wird halb tot geschlagen, stiehlt ein Pferd, wird von der Dorfversammlung für ein Jahr aus dem Dorf verbannt. Für ihn ist dies keine Strafe, er ist schon früher für längere Zeit verschwunden. Getrieben von Ahnungen und Unruhe streunt er los, kehrt nach anderthalb Jahren zurück, bleibt kurz, erfüllt seine ehelichen Pflichten, bricht wieder auf, diesmal für zwei, ein anderes Mal für drei Jahre. Immer weiter führen ihn seine Wanderungen, nach Nordsibirien, in den Süden nach Kiew und noch weiter bis auf den Heiligen Berg Athos in Griechenland.

Auf diesen Reisen formt er sich zu dem, was er sein will. In seinem Heimatdorf Pokrowskoje waren immer wieder Bettelmönche aufgetaucht, heilige Vaganten, die sich mit Geschichten von Wundern, mit finsteren Weissagungen, Segenssprüchen und Genesungsgemurmel ein Brot, einen Becher Wodka und ein Nachtlager verdienten. Vater Rasputin hatte immer eine offene Tür gehabt, und in Grigori hatten die Erzählungen jeweils eine seltsame Erregung hervorgerufen, ein Gefühl, stärker als die Angst vor den Prügeln des Vaters, als die Angst vor den wilden Tieren und vor den Seelen der Verdammten in den Wäldern. Es wurde ihm klar, was seine Bestimmung war. Er wollte hinaus in die Welt. Er wollte wie einer dieser fremdartigen Besucher werden. Ein Gottesmann, einer mit dem «zweiten Gesicht», ein Seher und Heiler. Ein Starez.

Rasputin pilgert von Kloster zu Kloster und schnorrt und predigt sich durch die armseligen Hütten. Er knetet sich aus sektiererischen Mönchsfantasien und heidnischer Volksfrömmigkeit eine Art Lehre zusammen. Eine Lehre, die seine Begierden rechtfertigt und die Ängste der Gläubigen besänftigt. Wenn er schmutzstarrend und gestikulierend, in Selbstgespräche und laute Gebete vertieft, von einer seiner langen Wanderungen nach Pokrowskoje zurückkehrt, ist er oft in Begleitung von drei oder vier weiss gekleideten Verehrerinnen. Unter einem Pferdestall gräbt er einen Keller, eine Betkapelle, wo er inbrünstige Gottesdienste veranstaltet, um danach häufig mit der ganzen kleinen Gemeinde ins Schwitzbad zu gehen, wo sich die «Brüder» und «Schwestern» gegenseitig reinigen und nach russischer Badesitte mit Zweigen sanft peitschen.

Bald tauchen böse Gerüchte auf. Rasputin verkünde gefährliche Irrlehren, munkelt man, und in Kapelle und Dampfbad würden sich Szenen von erschreckender Unzucht abspielen. Der Bischof von Tobolsk schickt einen Priester zwecks Ermittlung nach Pokrowskoje, der aber ohne harte Sündenbeweise wieder abziehen muss. Gleichzeitig verbreitet sich in Sibirien Rasputins Ruf, ein Gesandter Gottes zu sein. Geschichten machen die Runde, wie er da ein todkrankes Pferd, dort eine halbtote Bäuerin geheilt habe, einzig durch die Kraft seiner Gebete, und mit Schaudern erzählt man sich, wie er Dinge voraussagte, die wenig später wirklich eingetroffen sind.

Wirre, andeutungsschwangere Predigten

Auf einer seiner Pilgerreisen wird er in der orthodoxen Hochburg Kasan einigen Kirchenhierarchen vorgestellt. Beeindruckt vom Muschikprediger, stellen sie ihm ein Empfehlungsschreiben an Bischof Sergej von Sankt Petersburg aus, dem bekannten Rektor der Geistlichen Akademie und späteren von Stalin eingesetzten Patriarchen von Russland. Rasputin macht sich sofort auf den Weg. Erstmals mit der Eisenbahn. 1903 trifft der 34-Jährige in der kaiserlichen Hauptstadt ein. Sein Besuch wird ungeahnte Folgen haben.

Rasputin hat die Beseeltheit des Propheten, die Dreistigkeit des Haarwuchsmittelverkäufers, die Einfalt des Frommen, die Witterung des Heiratsschwindlers. Und er hat einen Blick, der das Gegenüber direkt aus dem Jenseits zu durchdringen scheint. Der hypnotische Sog wird noch verstärkt aufgrund einer physiognomischen Laune: Seine Augen liegen aussergewöhnlich tief und asymmetrisch in den Höhlen. Was in den schmutzigen Stuben des Volkes funktioniert hat, funktioniert auch in den prunkvollen Palästen der feinen Gesellschaft. Die Petersburger Klerikalfürsten sind begeistert vom Laienmönch mit dem Kaftan, den hochschaftigen Stiefeln und dem bleichen Gesicht des Fastenden. Wenn er eine seiner etwas wirren, andeutungsschwangeren Predigten vorträgt, eruptiv, stossweise, wie unter Strom, mittendrin abbricht, ans Fenster tritt und in ein geflüstertes Gebet versinkt, um sich plötzlich einem der Anwesenden zuzuwenden und diesem mit stechendem Blick eine Krankheit zu prophezeien, dann bestätigt dies die gelehrten Würdenträger, es mit einem Hellsichtigen zu tun zu haben. Rasputin wirkt auf sie wie die bäurische Inkarnation einer byzantinischen Ikone.

Stark ist auch seine Wirkung in den Salons des Grossbürgertums und der Aristokratie. Vor allem die Damen fühlen sich vom Bauernmönch angezogen, der mit blossen Händen isst, der alle anfasst und streichelt, wenn er mit ihnen spricht, der übergangslos vom heiligen Evangelium zu den intimsten Lebensproblemen wechselt, und dessen Stimme und dessen Rede sie aufwühlt und erregt. Rasputin kann hinter der gelangweilten und exaltierten Attitüde der Societyladies, hinter deren Melancholie und Verspanntheit ihr unbefriedigtes Begehren und ihre sündigen Sehnsüchte förmlich riechen. Er bietet an, sie zu erlösen.

Bei der Zarin hat Rasputin leichtes Spiel

Gott liebe den Reuigen, salbadert er, denn demütige Reue sei ein Beweis für eine gottgefällige Seele. Ohne Sünde aber gebe es kein zerknirschtes Herz, und ohne dieses nicht die süsse Gnade der Vergebung. Erst das Böse ermögliche den Triumph des Guten. Sie sollen sich nicht grämen, tröstet und lockt er, sie sollen der Versuchung freudig nachgeben, Vater Grigori, bescheidener Auserwählter Gottes, werde ihre Sünden und den Schmutz in seine eigene leibliche Hülle aufnehmen und sie so reinigen und vom Teufel befreien.

Seine Lehre ist eine Theologie der himmlischen Unzucht, und er ist der Messias des heilenden Lasters. Er versöhnt das Unversöhnliche, er weiht die Kloake mit der Göttlichkeit. Dankbar nehmen seine Verehrerinnen die Offerte an. Sie stellt geistige Rettung und Erlösung von fleischlicher Not in Aussicht. Beten und Sex werden identisch. Hofdamen, Notars- und Generalsgattinnen, Gräfinnen und Baronessen – der schmuddelige Charismatiker schläft sich durch die ganze Juwelenprominenz. Er verspricht Befriedigung ohne Schuld, und niemals liebt er eine der von ihm beglückten Frauen. Er ist der perfekte Verführer. Die Zeit ist günstig für einen wie Rasputin. Man redet von einer geistigen Krise im Land.

Die Kirche hat sich vom Alltag der einfachen Leute entfremdet, die weltliche Oberklasse orientiert ihren Lebensstil an der Dekadenz der Londoner und der Pariser Elite, und sogar die zaristische Autokratie ist zunehmender Kritik ausgesetzt. Gleichzeitig wird von der Intelligenzija seit langem ein Kult des Volkes betrieben. Literaten von Puschkin über Tolstoi bis Gorki, Philosophen und Pamphletisten, Umstürzler und Konservative, Marxisten und Okkultisten treffen sich in einer gemeinsamen Illusion: Weisheit und Heil lägen in den Tiefen des russischen Volkes. Und der urwüchsig stammelnde Rasputin verkörperte exakt den Abkömmling der mythischen russischen Scholle.

Über die montenegrinische Grossfürstin Milizia, eine seiner Anhängerinnen, kommt Rasputin 1905, zwei Jahre nach seiner Ankunft in Sankt Petersburg, zu seiner ersten Audienz beim Zarenpaar. Er duzt Nikolaus in aller Selbstverständlichkeit, nennt ihn vertraulich Batjuschka, Väterchen, wie es bei Bauern Sitte ist, duzt auch die Zarin Alexandra Fjodorowna. Er erzählt von seinen Wanderungen durch Sibirien, vom Elend in den Dörfern, von der Leidensfähigkeit der kleinen Leute, von der Allgegenwart Gottes gerade unter den Geringsten des Landes, von Fügungen, Zeichen und Wundern.

Das Herrscherpaar ist fasziniert. Ihr Leben ist bestimmt von Tradition, Etikette, Intrigen, kriecherischen Schmeichlern. Der Starez eröffnet ihnen eine andere Welt – frei, ursprünglich, wahr, gänzlich jenseits der höfischen Künstlichkeit. Zudem haben im selben Jahr nach einem schmählich verlorenen Krieg gegen Japan rote Fahnen, Aufstände und Terroranschläge in Sankt Petersburg und Moskau das Reich erschüttert. Nikolaus ll., Erbe der 300-jährigen Romanow-Dynastie, ein gehemmter, überforderter Autokrat, der lieber Gärtner geworden wäre, muss in einem ihn zutiefst demütigenden Akt der Einführung einer Verfassung zustimmen. Umso mehr schätzt er einen Gesandten, der die alte Herrlichkeit Russlands noch einmal heraufbeschwört: die heilige Dreieinigkeit von Zar, Gott und Volk.

Bei der Zarin hat Rasputin noch leichteres Spiel. Die aus deutschem Hochadel stammende, feinnervige Puritanerin mit stahlhartem Willen und Hang zum Übersinnlichen umgibt sich schon lange mit Sehern und Heilern. Allesamt sind es Schwindler, Scharlatane und Narren, einer dubioser als der andere. Da war Mitja, der törichte Stotterer; der Epileptiker Pascha; die in Lumpen gehüllte Matrjona «Barfuss», die ihre Prophezeiungen laut herausschrie; die Verrückte Darja Ossipowa; oder «Maître» Philippe aus Lyon, Magnetiseur und Hypnotiseur, ein undurchsichtiger Abenteurer, der mit schäbigen Budenzaubertricks operierte, der Kaise-rin eine Schwangerschaft andichtete, worauf sie zum heimlichen Gespött von ganz Petersburg wurde, als bekannt wurde, dass sie gar nicht schwanger war, was sie aber nicht davon abhielt, weiterhin an ihn zu glauben. Der Platz des Maître wurde frei, nachdem dieser diskret und hinter dem Rücken der Kaiserin aus dem Land spediert worden war. Er ist frei für Rasputin, der ihn mit schlafwandlerischer Sicherheit erobert.

Ende Oktober 1907 stürzt der dreijährige Thronfolger Alexej beim Spielen. Der nach vier Töchtern lang ersehnte Zarewitsch ist Bluter. Unter der Haut bildet sich ein Ödem, der wie ein Kronjuwel beschützte Kleine hat heftige Schmerzen, und auch die Hofärzte können nicht helfen. Die Zarin ist in heller Panik und lässt Rasputin rufen. Dieser erscheint um Mitternacht im Palast in Zarskoje Sjelo. Er kniet neben dem wimmernden Jungen nieder und schaut diesen lange und intensiv an, während er betet. Es herrscht Totenstille. Als er wieder aufsteht, ist der Bub ruhig geworden. Am nächsten Morgen hat sich das Ödem zurückgebildet. Spätestens jetzt weiss die Zarin, Rasputin ist ein Wundertäter, hinter ihm steht Gott. Das Schicksal ihres geliebten Kindes, ja die Zukunft Russlands liegt in seinen magischen Händen. Ab nun geht «unser Freund» in der Residenz ein und aus.

Observiert von der Geheimpolizei

Seine Stellung bei der Herrscherfamilie bleibt nicht verborgen, und bald sickert auch die Geschichte von der Wunderheilung an die Öffentlichkeit. Rasputin wird Kult. Er kleidet sich immer noch im Muschikstil, aber der Kaftan ist aus bestickter Schantungseide (die Zarin hat ihm eigenhändig einige Blusen genäht), der Gurt aus karmesinrotem Leder und die Stiefel aus Lack. Und parallel zu seinem Ruhm mehren sich auch die Skandalgerüchte. Schon kurz nach Rasputins erster Ankunft in Sankt Petersburg hatte der Bischof von Tobolsk seine geistlichen Kollegen gewarnt. Der Starez würde, sei ihm vielfach zugetragen worden, unter dem Vorwand der heiligen Kommunion «auf den Frauen reiten». Man raunt, er sei ein Chlyst, ein Angehöriger der mächtigen, geheimnisumwitterten Geisslersekte, die ihre Zeremonien mit ekstatischen Tänzen, Auspeitschungen und kollektiven Kopulationen begehen. Die russische Geheimpolizei, die Ochrana, beginnt ihn ohne Wissen des Zaren rund um die Uhr zu observieren.

Die trockenen Rapporte der Agenten enthüllten das Bild eines Erotomanen. Nebst den zahllosen intimen Kontakten mit den Damen der besseren Kreise, ledigen und verheirateten, frequentiert der Russe ausgiebig Prostituierte. Er begleitet sie in ihre Absteigen oder nimmt sie mit in die Bäder. Ohne Zweifel habe man es mit einem Betrüger und einem Pseudopropheten zu tun, so das Fazit der Chefbeamten, die mit gezielten Indiskretionen für eine Streuung ihrer pikanten Informationen sorgen.

Auf dem Höhepunkt der Rasputin-Mode, um 1910 herum, starten zwei Zeitungen eine Kampagne gegen den «perversen Starez». Frauen, alles ehemalige Anhängerinnen, berichten, von ihm geschändet worden zu sein. Die Ingenieurswitwe Berladskaja etwa schwört, Rasputin habe sie nach einer Beichte im Eisenbahnwaggon «auf den Rücken geworfen, um sie zu besitzen, wobei dieser behauptet habe, er tue dies, um sie von dunklen Kräften zu befreien». Das Kindermädchen des Zarensohns behauptet ebenfalls, von ihm «beschmutzt» worden zu sein, und ausserdem besuche er abends regelmässig die jugendlichen Grossfürstinnen in ihren Zimmern, während diese schon im Nachthemd seien.

Zwei Jahre später veröffentlicht der Theologieprofessor Nowosjelow die Schrift «Grigori Rasputin, der mystische Wüstling», und kurz darauf folgt das Pamphlet «Grischka» (Kosename für Grigori) des Mönchs Iliodor, eines früheren Vertrauten Rasputins. Der für seine charismatischen Auftritte bekannte Mönch bestätigt die Charakterisierung Rasputins als eines manischen Verführers. Zudem zitiert er ausführlich aus Briefen, welche diesem von der Zarin und deren Töchtern geschrieben worden waren. Iliodor hatte ihm die Briefe gestohlen.

Meine Seele findet keinen Frieden», seufzt darin die Zarin, «und ich fühle mich nur entspannt, wenn Du, mein Meister, an meiner Seite sitzt, wenn ich Deine Hände küssen und meinen Kopf an Deine heilige Schulter lehnen kann. O, wie leicht fühle ich mich dann, und ich habe nur einen Wunsch: auf ewig zu entschlafen an Deiner Schulter und in Deinen Armen… Komm bald wieder. Ich warte und leide ohne Dich… Deine Dich in alle Ewigkeit liebende M(ama).»

Die Zahl der Feinde wächst

Die Zensurbehörde lässt die Publikationen sofort verbieten, aber sie zirkulieren weiterhin und werden auf dem Schwarzmarkt zu hohen Preisen gehandelt. Schläft der sibirische Muschik mit der Zarin? Dies ist das Thema in den Salons und Kneipen. Und es kursiert die Fama von der übermenschlichen Grösse des Glieds des frivolen Heiligen.

Die Herrscherfamilie reagiert, indem sie die regelmässigen Besuche Rasputins fortan in aller Heimlichkeit abzuwickeln versucht. Ansonsten steht sie weiterhin fest zu ihm. Er wisse um die Bäderbesuche des Starez, sagt einmal der Zar zu seinem Ministerpräsidenten, «auch dort predigt er die Heilige Schrift». Er richtet sich wie immer nach seiner Frau. Für diese sind die Vorwürfe bloss infame Schmähungen und Lügen von bösen Menschen. Mehr noch, sie sind ein Beweis für die Auserwähltheit «unseres Freundes». Hat man nicht die Heiligen, die Gottesnarren immer schon verleumdet und verfolgt? Wurde Jesus nicht gekreuzigt?

Eben hat Rasputin zum zweiten Mal den kleinen Zarewitsch gerettet. Alexej hat nach einem Sturz starke innere Blutungen, die Ärzte sind machtlos, und man verabreicht ihm bereits die Sterbesakramente. In äusserster Verzweiflung gibt die Zarin ein Telegramm an Rasputin auf, der gerade in seinem Dorf Pokrowskoje weilt. Dieser versenkt sich in ein brachiales Ferngebet, und am nächsten Morgen ist Alexejs Fieber gesunken und die Blutung gestoppt. Nein, es kann für die Familie gar keine Zweifel geben, dieser Mann ist ein Botschafter des Allmächtigen. Und einen solchen kann man, ja muss man auch bei politischen Problemen und wichtigen Ämterbesetzungen um Rat und Urteil bitten.

Unterdessen wächst die Zahl der Feinde dieses «durchtriebenen, falschen Muschik», dieses «Unholds». Kirchliche und weltliche Würdenträger registrieren, dass ihr Einfluss zugunsten eines halben Analphabeten und Lustmönchs geschwunden ist, der sich im Herzen der Macht eingenistet hat. Russland erlebe ein «Drama», erklärt der Abgeordnete Gutschkow in seiner berühmten Rede im Parlament, «und in dessen Mittelpunkt steht eine rätselhafte, tragikomische Figur, eine Art Geist aus dem Jenseits oder ein Überbleibsel aus finsteren Jahrhunderten». Auch die kaiserliche Verwandtschaft geht auf Distanz. Rasputin bringe das ganze dynastische System in Verruf. Aber je isolierter das Herrscherpaar dasteht, umso näher rücken sie zum Heiler. Und umso grösser wird der Hass der Gegner.

Ende Juni 1914 hält sich Rasputin wieder einmal in Pokrowskoje auf, als ihn eine Frau anfällt und ihm ein Messer in den Bauch rammt. Bevor sie nochmals zusticht, kann er sie niederschlagen, worauf herbeieilende Bauern die Tobende überwältigen. Die Attentäterin, eine religiöse Verrückte, der wegen Syphilis die Nase bis auf die Knochen abgefault ist, gehört zu einem Kreis um den fanatischen Mönch Iliodor, den Dieb von Rasputins Briefen. Diese kleine, vornehmlich weibliche Sekte hat sich hauptsächlich dem Ziel der Kastrierung des «Antichrists» Rasputin verschrieben.

Der berühmte Chirurg von Breden wird von der Zarin gesandt, um Rasputin zu operieren. Bei seiner Rückkehr kann der Arzt offiziell vermelden, dass der Starez ausser Gefahr sei. Noch mehr interessiert aber der inoffizielle Bericht, den er in der privaten Runde abliefert und der sogleich in ganz Petersburg zirkuliert. Rasputins Glied, so der ärztliche Befund, habe keineswegs gigantische, sondern völlig durchschnittliche Proportionen.

Rasputin liegt noch im Spital, als nach der Ermordung des österreichisch-ungarischen Erzherzogs in Sarajevo Österreich am 15. Juli 1914 Serbien den Krieg erklärt und Europa in den Ersten Weltkrieg zu schlittern beginnt. Mit einer Kaskade von Depeschen versucht er den Zaren vom Eintritt in die grosse Schlacht abzuhalten. Er werde das Ende Russlands sein, warnt er düster, aber diesmal vergeblich. Nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt lebt Rasputin so, als sei der Untergang bereits in vollem Gange. Als ob alles in Auflösung sei, nichts mehr gültig, alles erlaubt. Er macht sich bereit, zusammen mit der Welt in den Abgrund zu springen.

Völlig enthemmt säuft er wie ein Loch, vorzugsweise Wein, Madeira, trotz Alkoholverbot, für das er sich noch selber bei der Zarin eingesetzt hatte, er zieht mit seinem Tross durch Tavernen, er ist versessen auf Zigeunermusik und Zigeunerinnenchöre, er tanzt wild auf Tischen und singt und randaliert und schmeisst mit Rubeln um sich, ganz wie ein Vorläufer der postkommunistischen, neureichen Nachtklubklienten. Die Agenten der Ochrana, die ihm wie ein Schatten folgen, notieren gewissenhaft einen inflationären Verbrauch von Frauen. Er holt sich Huren von der Strasse, bis zu viermal pro Tag, daneben die Besuche der feinen Damen der Gesellschaft, der Anhängerinnen, einen endlosen Reigen an Leibern lässt er an sich vorbeiziehen, in seinen Zimmern, in den Séparées, in den geliebten Dampfbädern.

Manchmal befiehlt er einer Dirne, sich nackt auszuziehen, er setzt sich gegenüber, schaut lange und schweigend ihren Körper an und geht wieder, ohne sie angerührt zu haben. Die «Nerven schärfen», «sich verfeinern» nennt er dieses Verfahren seinem Verleger Filippow gegenüber. Derselbe Filippow überrascht ihn aber einmal in seiner Wohnung bei einer erstaunlichen Szene mit einer seiner Verehrerinnen. «Ich erblickte Rasputin hinter dem Wandschirm. Er schlug auf Frau Lochtina ein, die ein weisses, mit Bändern behängtes Kleid trug; sie hatte sein Glied gepackt und schrie: du bist Gott!» Manchmal bricht Rasputin zusammen. «Ich bin der Teufel», schluchzt er bitterlich, «ich bin unwürdig.»

Vor seiner vom Zaren bezahlten Wohnung an der Gorochowajastrasse 64 stehen die Bittsteller schon frühmorgens Schlange. Alle wollen sie von seinem direkten Zugang zur Macht profitieren. Geschäftsleute, die auf einen lukrativen Handel mit der Regierung hoffen, Ehefrauen, die ihren Mann von der Front versetzen lassen möchten, Bankrotteure, Arbeitslose, Politiker. Rasputin ist ein grosszügiger Mensch, und er würde am liebsten alle glücklich machen. Beste Chancen haben Frauen. Wie alt bist du? Bist du schön?, fragt er schon am Telefon. Leckermäulchen, raspelt er, wenn sie kommt, und streichelt ihren Busen, Honigtäubchen, sprich, ist dir nach Sünde zumute? Und er hat sich auch so genannte Sekretäre und Berater zugelegt, zwielichtige Figuren, Betrüger, die sich eine Audienz beim Starez von den Gesuchstellern teuer bezahlen lassen.

«Man muss hart sein»

Währenddessen taumelt die russische Armee nach kurzen Anfangserfolgen von einer Niederlage zur nächsten. Es fehlt an Ausrüstung, Munition, Moral, fähigen Offizieren, an allem. Im Sommer 1915 setzt der Zar seinen Grossonkel Nikolaj als Generalissimus ab und übernimmt selbst das Oberkommando über die Truppen. Die Zarin Alexandra Fjodorowna regiert das Reich jetzt faktisch allein. Zusammen mit Rasputin. Jeden Morgen um zehn ruft ihre Busenfreundin diesen an, und er teilt ihr seine Eingebungen mit. Zwischen seinen Ausschweifungen, in Nuttenabsteigen, Bädern, Kneipen ernennt er Minister, Generäle, setzt Erzbischöfe ab, ersinnt militärische Offensiven oder entscheidet sich für Fahrpreiserhöhungen der Strassenbahn.

Der Zar akzeptiert die Entscheide seiner regierenden Gattin. Wenn er zögert, macht sie ein wenig Druck. «Man muss hart sein», kabelt sie ihrem unsicheren, klein gewachsenen Gatten durch, «schliesslich bist du ein Mann.» Oder: «Sei Peter der Grosse, Iwan der Schreckliche, zertrete sie allesamt. Lächle nicht, garstiger Junge: so möchte ich dich sehen…» Oder sie schickt ihm von «unserem Freund» geweihte Gegenstände, einen Kamm, den er benutzt hat, eine Ikone, ein Fläschchen Madeira, religiöse Fetische, die eine magische Kraft schenken sollen. Und der antwortet gehorsam, dass er den Wein direkt aus der Flasche getrunken habe, «auf sein Wohlergehen, bis zum letzten Tropfen».

Den eigenen Tod sieht der Prophet nicht voraus. Zumindest versucht er nicht, ihm zu entkommen. Ende 1916 sind bereits zwei Millionen russische Soldaten gefallen, die militärische Lage ist katastrophal, im Land herrscht Hunger, keine Besserung ist in Sicht. Inbegriff für das Schlamassel, für die Agonie wird der dämonische Vertraute der Zarin. Soll Russland wiederauferstehen, muss Rasputin vernichtet werden. Dies ist mittlerweile die Meinung aller Patrioten ausser dem Zarenpaar.

Tödliche Verschwörung

Einer der Mördergruppe ist Fürst Felix Jussupow, ein bisexueller Beau aus der reichsten Familie des Landes. Unter dem Vorwand, ihm seine Frau anzubieten, die wunderschöne Prinzessin Irina, lockt er Rasputin in der Nacht zum 17. Dezember 1916 in seine Villa, wo er ihm vergiftete Sahnetörtchen und Wein vorsetzt. Nachdem Rasputin keine Reaktion auf die gewaltige Zyankalidosis zeigt, feuert Jussupow mit einer Pistole aus nächster Nähe auf den Muschik im Seidenhemd. Er überlebt auch diese Attacke. Erst die Schüsse des Mitverschwörers Dmitri Pawlowitsch, Lieblingsneffe des Zaren, Mitglied der Olympiamannschaft, ehemaliger Liebhaber von Fürst Felix und späterer Liebhaber von Coco Chanel, töten den Bauern. In einem Anflug von Raserei schlägt Felix noch mit einem Knüppel auf den leblosen Körper ein, auf Gesicht, Brust und Geschlecht, bevor sie den Leichnam im Eisloch versenken. Den gefesselten Leichnam. Sie trauen Rasputin alles zu.

Im Februar 1917 wehen in Petersburg die roten Fahnen der Revolution, der Zar dankt ab und wird ein Jahr später von den siegreichen Bolschewisten als Gefangener mit seiner Familie in die Verbannung nach Jekaterinburg transportiert. Am 16. Juli 1918 werden der Zar, die Zarin, die fünf Kinder, der Leibarzt und die Dienstboten von Bewaffneten in einen Kellerraum getrieben und erschossen. Ausserhalb der Stadt übergiesst man ihre Leichen mit Benzin und verbrennt sie. Auf persönlichen Befehl von Lenin, dem neuen Herrscher des Landes.

Die vier Grossfürstinnen trugen alle ein Amulett mit dem Bildnis «unseres Freundes» unter der Bluse. Rasputin hatte immer orakelt, dass sein Untergang auch derjenige des Zaren sein würde. Zumindest diese Prophezeiung war eingetroffen.

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