Die Weltwoche / Eugen Sorg

23.05.2002

Eiswürfel in die Unterhosen

Mit dem Frühlingsbeginn setzt die Erotisierung des Alltags ein. Der Mann appelliert an die Vernunft, doch die Biologie ist stärker. Notizen von der Hormonfront.

Von Eugen Sorg

Mein Bekannter Hamid, ein junger, lediger Teehausbetreiber im pakistanischen Peschawar, ist sich sicher: Die westlichen Frauen sind leicht zu haben. Er hat die Bilder gesehen. Ohne Scham präsentieren sie ihre Körper in aller Öffentlichkeit, ihre nackten Arme, Rücken, Bäuche. Er denkt, ich lebe in einer Art Männerparadies. Als ich ihm zu erklären versuchte, dass der Schein trügt, dass ein unbedecktes Frauenbein keineswegs eine sexuelle Aufforderung bedeute und dass die Paarungsrituale durchschnittlicher Europäer komplex, mit viel Kopfarbeit verbunden und häufig erfolglos seien, hat er höflich genickt, mir aber kein Wort geglaubt. Irgendwie konnte ich ihn verstehen.

Neulich unterhielt ich mich mit Lisa, einer Kollegin, über ähnliche Fragen. Lisa ist Ende dreissig und in einem aufgeklärten, bildungsbürgerlichen Haus aufgewachsen. Barbie-frei, wie sie es ausdrückt. Als sie in die Pubertät kam, hörte sie von ihren Eltern oft: «Maitli, gib dich nicht billig.» Billig, das waren Schminke, hochhackige Schuhe, damit der Hintern wackelte. Billig, das waren die Seconda-Mädchen aus der Realschule, die rauchten, scharfe Kleider hatten und Freunde mit Autos und Gel in den Haaren. Später, in den Achtzigern, lernte sie, dass die intensive Beschäftigung mit dem Aussehen, die Unterwerfung unter die Modediktatur und das herrschende Schönheitsideal nicht nur billig waren, sondern Ausdruck eines patriarchalen Gewaltsystems. Die Weibchenrolle war ein Männerkonstrukt, erfunden, um die Frauen dumm und gefügig zu halten.

Lisa und ihre Freundinnen verzichteten auf Styling und Nettigkeiten und achteten dafür umso genauer darauf, dass ihre Männer und Freunde kein Mackergehabe an den Tag legen konnten.

Komm mir nicht zu nahe

Sehr vieles, bemerkte Lisa, habe sich aber in den letzten Jahren geändert. Was früher als Attribute sexistischer Weiberklischees verpönt gewesen wäre, gehöre heute zum modischen Alltag. Hervorheben von Po und Titten, schwere Parfums und dunkel umrandete Lippen, die ganzen Stilutensilien aus dem Nutten- und Unterschichtsarsenal, würden selbstverständlich adaptiert, und niemand würde sich daran mehr stossen. Sie selber auch nicht. Schau auf meine Schuhe, lachte sie, hochhackig, damit der Hintern schön wackelt.

Nur schon ein flüchtiger Blick auf das frühlingshafte Strassengeschehen bestätigt Lisas Einschätzung. Und dieselben Bilder, verschärft, in den Musikvideos der Fernsehkanäle. Viel schimmernde Haut ist dort zu sehen, ruckelnde Körper, Zuhälterästhetik, Referenzen zu Pornofilmen, raffinierte Vulgaritäten aus schummrigen Tropennachtklubs, archaische Geschlechterrollen, eine kreative TrashParade von den Rändern der Hochzivilisation.

Die Bilder des Popkarnevals zirkulieren seit Jahren um die Welt. Sie sind aber nicht verbindlich im Sinne eines Diktats, sondern funktionieren eher als visueller Selbstbedienungsladen. Man pickt sich heraus, man sampelt, man stellt sich eine optische Identität zusammen, und was sich schliesslich auf der Strasse zeigt, hat eine eigene Aussage, die oft völlig losgelöst ist vom ursprünglichen Statement. Niemand mehr denkt bei einem Zungenpiercing an bizarre Sexualpraktiken sadomasochistisch veranlagter Homosexueller. Oder sogar wenn: na und?

Nur eine Botschaft zieht sich bei aller Beliebigkeit der Stile und Chiffren durch, und sie scheint sich sogar laufend zu verstärken: Mein Körper ist sexy. Dies gilt bei Frauen und zunehmend auch bei Männern. Allerdings kontrastiert hierzulande die Betonung der sekundären Geschlechtsmerkmale, ja die Verwandlung des ganzen Körpers in ein einziges sekundäres Geschlechtsmerkmal mit einer ausgesprochen unerotischen Begegnungskultur. «Ich bin begehrenswert», sagt der Body, um gleichzeitig zu drohen: «Aber komm mir nicht nahe.»

Ich erzählte Lisa ein kleine Geschichte, die sich vor einiger Zeit in einem Restaurant im westafrikanischen Abidjan abgespielt hat. Einem Gast hat die Kellnerin gefallen. Sie war gross und üppig gebaut, und sein Blick verfolgte jede ihrer Bewegungen. Als sie das zweite Bier vor ihn hinstellte, sagte er: «Quand je te regarde, je tremble d’excitation.» (Wenn ich dich anschaue, zittere ich vor Erregung.) Die Kellnerin musterte den Mann einen Moment, schüttelte leicht den Kopf, drehte sich um, und während sie zurück zum Buffet wogte, wiederholte sie ein paar Mal den Satz, die Aussprache leicht karikierend, wie um ihn ganz auszukosten, schüttelte erneut den Kopf und kicherte vor sich hin.

Gekichert und gelacht wurde auch an den anderen Tischen. Man hatte die Szene mitgekriegt (der Mann hatte nicht versucht, leise zu sprechen), und in angeregten Diskussionen kam man zum Resultat, dass die Aktion des Mannes als gelungen beurteilt werden musste: ein guter Einstieg, originell, fast literarisch, eine reife Leistung. Ich fragte Lisa, wie sie wohl auf so eine Anmache reagieren würde. Sie könne dies nicht sagen, sagte sie, es komme auf den Typ an. Wie er es sage, ob er sympathisch sei oder ein Schleimer. Übrigens werde sie ohnehin selten angesprochen, und wenn, dann vor allem von Ausländern, von Kurden, Afrikanern, Balkanmännern. Die Schweizer getrauten sich kaum, sie seien Hasenfüsse. Kein Wunder, entgegnete ich, bei dem, was einen erwartete. Lisa meinte, ich solle nicht übertreiben, so schlimm seien sie auch wieder nicht, widersprach mir aber nicht wirklich.

Immer zum Frühlingsbeginn heben die Klagen in meinem männlichen Bekanntenkreis wieder mächtig an. Es «schäle» ihn, sagte einer, wenn er die luftigen Röcke und die transparenten Blusen sehe, er gehe vollkommen drauf, und das Beste wäre, er würde zu Hause bleiben und die Türe zusperren. Ein anderer unterrichtet junge Frauen. Eine Stunde lang der Anblick dieser schönen, halb bekleideten Wesen, jammerte er, und sich gleichzeitig auf den Unterrichtsstoff konzentrieren zu müssen, das mache ihn krank. Dann murmelte er etwas von Folter.

Spanner in der Lingerieabteilung

Ein Dritter erzählte, wie er ein T-Shirt für die Freundin umtauschen musste, sich in die entsprechende Abteilung begab und unversehens von Leibchen anprobierenden jungen Frauen umgeben war. Er sei sich mit seinen 32 Jahren wie ein alter Spanner in der Lingerieabteilung vorgekommen. Wenn er wieder mal einen ähnlichen Auftrag erledigen müsse, behauptete er, nähme er Eiswürfel mit. Um sie sich in die Unterhosen zu stopfen. Und wie wirst du eigentlich mit solchen Dingen fertig, wollte er noch wissen. Innere Werte, antwortete ich, ich rette mich mit zunehmendem Alter zu den inneren Werten. Das kenne ich, erwiderte er mitfühlend, damit habe ich es auch schon versucht.

Ein Gang durch die Stadt ist wie eine Passage unter Sperrfeuer. Ein Sperrfeuer der Reize. Jeder halbwegs aufgeklärte Zeitgenosse weiss, dass es die Frauen nicht so meinen, wie es aussieht. Aber dies nützt ihm wenig. Das genetische Erbe ist mächtig. Die nackte Haut, die dargebotenen Brüste, die wiegenden Becken, alles signalisiert dem Gorilla-Selbst Paarungsbereitschaft. Die Drüsen beginnen wie verrückt Sexualhormone auszuschütten, und der Mann gerät ins Schlamassel. Er appelliert an die Vernunft, doch die Biologie ist stärker. Sie ist ein Strassenköter, der dorthin rennt, wo es nach Essen riecht.

Stoische Selbstbeherrschung

Es gibt keine Lösungen, nur Notlösungen. Die sinnliche Mobilmachung überraschte die Hiesigen, ohne dass sie über die dafür notwendige Sozialkompetenz verfügten. Leute vom Format des Werbers von Abidjan sind in diesen Breitengraden äusserst selten, sie gedeihen schlecht und stossen auf Unverständnis. Unsereins bleibt vorläufig nicht viel anderes übrig, als weiterhin am Aufbau eines robusten inneren Apparates zu arbeiten, der uns stoische Selbstbeherrschung verschaffen soll. Und an der Perfektionierung der Tarnung: zu schauen, ohne dass man sieht, dass man schaut.

Die Erotisierung des Alltags ging interessanterweise eine Zeit lang einher mit der Skandalisierung des (männlichen) Sex. Feministische Gruppen prangerten Ausbeutungsverhältnisse in der Pornoindustrie, Vergewaltigungen, Kindsmissbrauch und sexuelle Übergriffe in Fabrik und Firma an. Die Anklagen waren berechtigt, aber sie transportierten noch eine zweite Botschaft. So bist du, Mann, du Schwein, lautete diese. Sie suggerierte, dass die Massenvergewaltigungen auf bosnischen Schlachtfeldern, die Perversitäten des Kinderschänders Osterwalder und die Penetrationsgelüste des Familienvaters in einem geheimen Zusammenhang stehen würden: im Wunsch des Mannes, die Frau zu demütigen.

Nicht, dass dieser Generalverdacht verantwortlich wäre für die Unbeholfenheit der Annäherungsversuche. Aber er machte sie auch nicht souveräner. Einerseits wurde die gesellschaftliche Feier der sekundären Geschlechtsmerkmale immer lustiger. Andererseits wurden Broschüren gegen sexuelle Belästigung in den Büros verteilt, vergleichbar mit Drucksachen für den Ernstfall von der Gruppe Rüstung: «ABC-Schutzmöglichkeiten im Umfeld der Terror-Ängste». In den Faltprospekten gegen Belästigung wurden «Vergewaltigung» und «aufdringliche Blicke» im selben Atemzug genannt. Da konnte einer schon mal ins Schielen geraten.

Ob sie eigentlich wisse, welche Wirkung die Frauen auf uns hätten, fragte ich Lisa. Sicher, lachte sie, nur schon wenn sie die Haare offen hätte, würden die Männer anders gucken. Aber eines würden wir Typen offenbar nie begreifen: Wenn sie eine enge Bluse anziehe und einen engen Jupe, dann heisse das nicht, dass sie auf dem Aufriss sei. Es gefalle ihr einfach, sie fühle sich gut darin, und sie trage dies für sich selber. Aber wir seien offensichtlich unfähig, zwischen billig und sexy zu unterscheiden, und seien nicht davon abzubringen, dass Frauen uns damit provozieren wollten. Dies sei jedoch unser Problem, und sie sei mittlerweile selbstsicher genug, Kerle abzublocken, die dies missverstünden.

Hamid war nicht hundertprozentig bei der Sache gewesen, als ich ihm von den Gepflogenheiten in meinem Land erzählt hatte. Irgendwann hatte er sich dann doch getraut und war mit der Frage rausgerückt, die ihn wirklich beschäftigte. Mit wie vielen Frauen ich geschlafen hätte, als ich so alt gewesen sei wie er. Er war zwanzig (und noch unberührt, wie er gestand). Er blinzelte mir zu, als ich ihm Antwort gab. Man könne sie an einer Hand abzählen. Hamid war sicher, ich mache einen Scherz. Er war unbelehrbar.

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