Das Magazin

02.05.1998

Die anderen 68er

Alle reden von den Achtundsechzigern, und alle reden von den Intellektuellen, den Journalisten, Leuten von Kultur und anderen Meinungsführern. Das ist nur die halbe Wahrheit. Im Windschatten der Elite hat sich eine nicht minder rührige Subkultur von Machern und Mischlern herausgebildet, beseelt von den Idealen der Freiheit und Freizügigkeit, verlacht von den Helden des Geistes. Hier kommt ihre Geschichte, eine Schweizer Chronik der Frivolität und Doppelmoral.

Von Eugen Sorg

Noch in den sechziger Jahren warnten Mediziner in Aufklärungsbroschüren heranwachsende Burschen vor Selbstbefriedigung. Handarbeit am falschen Ort führe zu dunklen Augenringen, Aus-zehrung, Siechtum. Und letztlich zur Gefährdung der Volksgesundheit. Und zwar moralisch wie körperlich. Die Gemeinschaft hatte die Aufgabe, sexuell Aufreizendes aus ihrer Mitte fernzuhalten. Mit Artikel 204 des Strafgesetzbuches (StGB) wurde die Lage abgesichert. Unzüchtig und somit verboten seien, galt da offiziell bis 1992, sämtliche geschlechtlichen Darstellungen, welche gegen das «Sittlichkeitsgefühl des normal empfindenden Bürgers» verstos-sen, die «weder tiefe Liebe noch warme Zärtlichkeit der Partner zum Ausdruck bringen» oder die «ohne Sinnzusammenhang mit höheren Lebensäusserungen sind». Jahrzehntelang gelang es der Polizei leidlich, das erotische Bilderverbot durchzusetzen.

Zwar gab es immer wieder Zeichen, die auf die Macht tieferer Lebensäusserungen hinwiesen. Als Anfang der sechziger Jahre das nigerianische Staatsballett im Zürcher Kongresshaus gastierte, war der männliche Andrang gewaltig. Das Interesse an den barbusigen Tänzerinnen aus Afrika konnte aber als Völkerkundliches durchgehen oder als Naturwissenschaftliches, vergleichbar mit einem Zoobesuch. Ebenso das Schlangestehen für Kulturfilme wie «Die Frau bei anderen Völkern», in denen man so aufregende Dinge wie Hirse stampfende Eingeborenenmütter sehen konnte.

Immer häufiger aber zirkulierten Heftchen und Filme, die nichts anderes sein wollten als das, wa sie vorgaben zu sein: sexuelle Muntermacher. Urlauber hatten sie aus Dänemark oder Schweden mitgebracht, wo die Pornographie entkriminalisiert worden war. Im Herbst 1969 landeten in Kloten zwei prall gefüllte Chartermaschinen einer Reisegesellschaft. Mehrere hundert Schweizer hatten in Kopenhagen die erste Porno-Weltmesse besucht. Es sei phantastisch, vertraute einer der Heimkehrer dem «Blick»-Reporter an, diese Disziplin! Ohne Murren hätten die Leute in Dreierkolonne zwei Stunden vor den Messekassen gewartet. Solche Töne waren für die staatlichen Tugendwächter das wahrhaft Beunruhigende. Der unzüchtige Schund fand hierzulande nicht nur viele Abnehmer, sondern immer mehr auch solche, die nichts Anrüchiges darin sehen konnten.

Sittenverwirrung

Die fortschreitende Sittenverwirrung fiel zusammen mit einer weltweiten Rebellion der Jugend. Die Werte der Eltern und Vorgesetzten wurden verspottet, sie seien lustfeindlich und verklemmt und neurotisch. In Kommunen von angehenden Akademikern wurde die freie Sexualität durchexerziert, denn nur diese, so die Theorie der Jungrevolutionäre, schaffe freie Menschen und eine freie Gesellschaft. Oder umgekehrt. Zügellosigkeit und Ekstase feiernde Beatbands wurden Idole der Jugend, und Radio Luxemburg verbreitete deren Botschaft in alle Teenagerschlafzimmer Europas. Und in den Zeitungen sah man Bilder von Rock-festivals, wo sich jugendliches Publikum aller Kleider entledigte.

Im Sommer 1970 präsentierte Bundesanwalt Hans Walder den akkreditierten Bundeshausjournalisten eine kleine Auswahl der fünf Tonnen «volksschädigender Druckerzeugnisse», die er mittlerweile pro Jahr beschlagnahmen liess. Er glaubte, die Schweinigeleien würden für sich selber sprechen und die Zensurkritiker zum Schweigen bringen. Unter den diversen erbeuteten Kopulationsmagazinen, Stöhnfilmen und Plastikpenissen lagen auch der altehrwürdige Erotikroman «Josefine Mutzenbacher» und Guillaume Apollinaires «Elftausend Ruten», ein Klassiker der Weltliteratur, oder, nach Sachbearbeiter Graf (Übername: Pornograf), eine Sauerei. Die sehr gut besuchte Schau beeindruckte die Presseleute derart, dass der eine oder andere der Redaktoren einzelne Publikationen gleich mitlaufen liess. Zu Recherchezwecken selbstredend.

Nicht nur der Bundesanwalt schaute genau hin, welche Drucksachen die Untertanen in ihrer Freizeit lasen, sondern auch Pius Wernli*, 20 Jahre alt, Kanzlist im Strassenverkehrsamt. Ihm war aufgefallen, dass jeden Freitag die Arbeiter vor einem bestimmten Kiosk in Zürich-Oerlikon Schlange standen. Er fragte nach, und man sagte ihm, dass an diesem Tag ein Auto aus Deutschland vorfahre, um die «St.-Pauli-Nachrichten» auszuliefern. Aha, kombinierte Wernli, der nicht vorhatte, den Rest seines Lebens als Beamter zu verdämmern, in diesem Ressort scheint einiges drinzuliegen. Er hatte schon als Jugendlicher ghändelet, mit Münzen und Briefmarken, und er war kein Typ mit moralischen Scheuklappen.

Er verkehrte in Lokalen wie «Blow Up» oder «Revolution», überall dort, wo sich die aufmüpfige Jugend traf. Und was die rebellischen Studenten sagten, über freie Liebe und Unterdrückung und so, fand er gut, aber im Unterschied zu diesen wusste er, dass er sein Geld selber verdienen musste. Mit seinem alten Schulkollegen Fredy Schönholzer übernahm er den Kiosk in Oerlikon und wandelte ihn 1971 zum ersten Sexshop der Schweiz um. Als typischer 68er war er gegen Versteckis und Heuchelei. Nicht mehr unter der Ladentheke lagen die Artikel, wie früher die Nudistenheftli im Zigarrenlädeli, sondern offen in Regalen, ordentlich arrangiert nach Weichteilen, Körperöffnungen, Hartgliedern, übersichtlich wie in einer Metzgereivitrine. Bald war Pius Wernli Herr über eine Kette von 20 Sexläden in der ganzen Schweiz.

Richter in der Grauzone

Nach einer koordinierten Pornorazzia im Jahre 1973 schleppte die Zürcher Sittenpolizei kistenweise Material ab: die üblichen Schriften und Filme, erotische Pokerkartensets, aufblasbare Vaginas, Dildos, auch einen Massagestab in Form eines Weihnachtsmännchens. Der Richter geisselte «die primitiven Darstellungen geschlechtlicher Vorgänge, die in derber Weise den Menschen zum geilen und völlig von seinem Geschlechtstrieb beherrschten Wesen erniedrigen und damit beim Betrachter eine Abscheu und Widerwillen erregende Wirkung erzeugen». Er verurteilte Wernli und seinen Schulkollegen Schönholzer, der sich mit eigenen Erotikshops selbständig gemacht hatte, wegen «unzüchtiger Veröffentlichungen» zu Bussen von 8000 respektive 3000 Franken. Das waren die Einnahmen aus einem halben Tagesgeschäft. ·

Unter den Richtern selber herrschte je länger, desto weniger Klarheit, wie denn nun eigentlich Unzucht zu definieren sei. Die ausländische Tänzerin Habanita beispielsweise hatte in einem Zürcher Nachtlokal im November 1971 einem zahlreich anwesenden Publikum die gewagte Inszenierung «Trauernde Witwe» dargeboten, einen anschaulichen Einakter über die Kunst der fleischlichen Selbsttröstung. Im Gegensatz zu Wernli jedoch wurden die Künstlerin und der Direktor des Etablissements zwei Jahre später vom Vorwurf der öffentlichen Unzucht freigesprochen.

Bei den Razzien mit dabei war jeweils Albert Denzler von der Zollfahndung. Er und ein Kollege bildeten ab 1973 eine Sondergruppe für Sex. Der Grossteil der Ware kam schwarz über die Grenze, Bücher und Zeitungen waren von der Wust befreit, aber nicht die Filme, Spielkarten und Sexgeräte. Die Nachverzollung und die Bussen waren für die Zollverwaltung sehr einträglich, vor allem als Ende der siebziger Jahre die Videos gross aufkamen. Wernli und Co. versicherten Denzler, sie würden ihr Material noch so gerne verzollen, aber leider sei es hier immer noch verboten. Denzler hatte da seine Zweifel, aber er musste zugeben, dass die Sexhändler in der Regel anständige Leute waren. Wenn er sie aufbot, standen sie termingerecht in seinem Büro, Wernli war sogar ein richtiger Gentleman. Schmuggeln tat der nicht selber, das machten andere für ihn, und Denzler lernte auch diese kennen.

Ein schmuggelnder Professor

Besondere Leute waren es, ganz interessante Menschen, wie zum Beispiel Gaudenz Hotz*, genannt Professor, ein gescheiter Mann, der Vorlesungen an der Uni hielt und in der Armee etwas Höheres war, aber ein wenig abartig, nach ganz persönlicher Ansicht von Denzler. Er kam dem Professor zufällig auf die Spur, und er packte ihn bei der Ehre. Was, sagte Denzler bei der Befragung, und er dehnte die Worte, Sie? Als Offizier der Schweizer Armee? Da kotzte der Professor aus und verriet den Ort seines Lagers. Denzler glaubte ihm, dass er nicht aus Gewinnsucht geschmuggelt hatte, sondern aus anderen, vielleicht sogar ideellen Motiven, wie er zu Protokoll gab. Das war 1974, und er hat danach nie mehr etwas mit Denzler zu tun gehabt.

Oft waren Denzler und seine Kollegen nahe an einer wirklich grossen Sache dran. Gopfertami nahe. Zum Beispiel, als sie in Wernlis Laden an der Werdstrasse auf Styroporkartons aus Dänemark stiessen, die nach Fisch stanken. Aber sie konnten nichts beweisen. Leider waren die anderen meistens einen Schritt voraus.

Wie den Jungrebellen bereitete es auch den Jungunternehmern einen Heidenspass, die Behörden auszuzählen. Wenn an Samstagen der Zoll bei Waldshut nicht besetzt war, fuhren öfters mit Strohballen beladene Laster durch. Das Stroh war ein Geschenk für einen Luzerner Bauern, die Videos unter dem Stroh nahm Wernli mit. Grössere Schmuddelsendungen passierten in deutschen Zementröhren die Grenze oder in Kisten aus Holland mit TIR-Versiegelung. Die Lastwagenchauffeure hatten gegen einen finanziellen Zustupf Zangen und Plomben dabei. Die Ware aus Dänemark führten anfänglich noch Einzelpersonen wie der Professor ein. Als passionierter Sammler von Pornographica war der Junggeselle ein geeigneter Einkäufer und als Offizier ein generalstabsmässiger Organisator. Er verstaute in Kopenhagen seine Warenkoffer in verschiedenen Zugsabteilen, und bei der Ankunft in Zürich raste er von Versteck zu Versteck, um die Schätze wieder zu bergen.

Später kam der heisse Nachschub in Fischkisten. Die gefrorenen Flunderfilets gingen weiter an die Migros. Bei der Firma Storebest in Winterthur besorgte sich Wernli spezielle Drehgestelle für die Sexshops und -lager. Fand eine Razzia statt, verschwanden die scharfen Sachen in Sekundenschnelle, und die harmlosen kamen hervor. Und in einem Kasten in seiner Villa in Wallisellen befand sich eine Geheimtüre, die zu einem Hinterausgang führte. Als letzte Fluchtmöglichkeit.

Blutjunge Verführerinnen

Die Polizisten von der Sitte befassten sich nicht nur mit Wernli. Sie mussten auch ins Kino gehen. Einige Lichtspieltheater fingen an, Erotikstreifen zu zeigen. Deutschland exportierte das «Wunder der Liebe» von Oswalt Kolle, und das einheimische Filmschaffen brachte einen Mann hervor, der unter dem Pseudonym Michael Thomas mehr Lustfilme pro Jahr produzierte, als ein anständiger Sittenpolizist Unterhosen besass. Das war nicht lustig. Im Dunkeln mit dem Notizblock auf den Knien aufzuschreiben, was unzüchtig an der Szene war, die sich auf der Leinwand abspielte. Und gleichzeitig nicht zu verpassen, wie die Geschichte weiterging. Und all die Rapporte. Und dieses tagelange Visionieren der beschlag-nahmten Streifen im muffigen Keller des Kreisgebäudes.

Dagegen war die Stimmung an den Drehorten heiter bis ausgelassen, zumindest in den ersten Jahren. Es gab noch keine Agenturen für Nacktdarsteller, und doch war es einfach, Schauspieler zu finden. Vor allem männliche. Der Kameramann brachte seinen Freund aus der Wohngemeinschaft mit, dieser die zwei Kollegen aus der Kneipe, diese wiederum die Kumpels von der Band. Niemand musste je geschauspielert haben, dafür konnte man zeigen, dass man kein verklemmter Spiesser war, man konnte mit Mädchen rummachen, und obendrein gab es 300 Franken in einem einzigen Tag.

Am meisten freute sich aber der Produzent. Der Streifen «Mädchen, die am Wege liegen» spielte zum Beispiel eine Million Franken ein. Viel für damals und sehr viel für einen Film, bei dem bis zum Schluss keine Handlung ersichtlich wurde, dessen Dialoge sich nie über die Aussage «Ran an die Buletten» zu erheben vermochten und dessen Hauptdarsteller inmitten der Dreharbeiten als RAF-Terrorist abtauchen musste. Edi «Zulu» Stöckli, der den Film mit dem Geld von Thomas und mit seinem Freund und späteren Oscar-Regisseur Xavier Koller drehte, merkte sich das.

1971 verfilmte Thomas die zuerst in der Illustrierten «Quick» publizierte Romanserie «Blutjunge Verführerinnen». In einer Autobusszene wippt eine junge Frau rittlings auf dem Schoss eines männlichen Fahrgastes. Beide sind bekleidet, und sie lutscht an einem Schleckstengel. Die Kamera schwenkt auf den Nebensitz, dort liegt ein roter Damenslip. Das müssen Sie herausschneiden, befand Bundesanwalt Hans Walder. Warum? fragte Thomas zurück, man sieht ja gar nichts. Aber Sie sind verantwortlich für die Bilder, die Sie im Kopf auslösen, antwortete Walder, und diese sind Pornographie. Thomas antwortete mit dem Werklein «Stewardessen». Auf den Filmplakaten war eine offensichtlich nackte Flughostess mit Swissair-Häubchen zu sehen und der in Grossbuchstaben gedruckte Satz: SIE FLIEGEN DURCH DIE LÜFTE, VÖGELN GLEICH. Diesmal war die Zensur machtlos.

Zwar genossen die Sittenbeamten moralische Unterstützung von hoher Seite. Bonaventur Meyer, Musketier Gottes und Oberhaupt des ultrakatholischen Klubs Pro Veritate, schoss aus dem solothurnischen Trimbach Strafanzeige um Strafanzeige auf Kinobesitzer und Verleiher ab, um dem prophezeiten «sittlichen Selbstmord» zuvorzukommen. Gott selbst aber hielt sich bedeckt, und Bundesanwalt Walder, Meyers weltliches Vollzugsorgan, litt an Autoritätsschwund. Der Mann habe einen sexuellen Schaden, lästerten seine Gegner, er werde laufend rot, wenn es um Geschlechtliches gehe, und er wohne noch immer bei seiner Mutter.

Innerhalb weniger Jahre kapitulierte die Zensur faktisch vor der Macht der neuen Dreistigkeit. Eine zwischen Zürcher Behörden und Kinobetreibern 1976 ausgehandelte Vereinbarung setzte die Grenzen des Erlaubten unter anderem fest bei «Grossaufnahmen von primären Geschlechtsteilen (das heisst deren leinwandfüllende Vereinigung oder Bearbeitung mit Hand oder Mund)» oder beim «Einführen von Gegenständen (zum Beispiel Flaschen, Gurken und Bananen) in die Geschlechtsöffnung».

Die Freibeuter

Im selben Jahr lancierte der 26jährige Peter Baumann, ehemaliger Pressechef der Fluggesellschaft Globair, den «Schweizer Sex- Anzeiger», kurz SAZ genannt. Darin inserierten Prostituierte und Salonbetreiberinnen und machten mit Foto und Kurzbeschreibung auf ihre Spezialitäten aufmerksam. Die Idee war Baumann nach dem zwölften Whisky im «Falstaff» gekommen, der Bar seines Freundes Charly Hug unweit der Zürcher Langstrasse. Ein anderer Freund akquirierte und fotografierte die Kundinnen, ein weiterer Freund besorgte das Layout.

Der am Kiosk beziehbare SAZ war derart erfolgreich, dass Baumann kurz darauf eine zweite Sex-Postille nachlieferte: den vierfarbigen SOS, «Sex ohne Scheu». Er schaffte sich zwei Rolls- Royce an und einen Chauffeur, kaufte die Jacht von Wernlis ehemaligem Compagnon Fredi Schönholzer, mit der er sich vom Fernsehen filmen liess, eine zweimotorige Cessna, obwohl er kein Flugbrevet hatte, die Villa des ermordeten Fluchthelfers Hans Lenzlinger, der neben abtrünnigen DDR-Bürgern auch Pornographie über die Grenzen geschmuggelt hatte, und er las nur noch Bankkontoauszüge und Flugzeugheftli, seine grosse Leidenschaft.

Im Jahr darauf, hundert Meter von der «Falstaff»-Bar entfernt, eröffnete Gody Müller im Spielsalon seines soeben verstorbenen Vaters den «Stützli-Sex». Bei Einwurf eines Fränklers ging eine Klappe hoch und gab für 30 Sekunden den Blick frei auf eine Drehfläche, auf der sich ein nacktes Modell räkelte. Müller hatte sich bis dahin von Cervelat und Bürli ernährt. Sechs Monate später war er Millionär, trug Dauerwelle, hatte eine englische Freundin mit tätowiertem Schmetterling auf der Brust und liess sich für die Ringier-Presse in seiner goldenen Badewanne ablichten.

Der ehemalige Strassenverkehrsbeamte Pius Wernli wiederum posierte für den Zeitungsfotografen auf dem Heck seines Rolls- Royce, umgeben von einer Korona asiatischer Bikinimädchen. Neben der Expansion ins Auto- und Gastgewerbefach hatte er sein Kerngeschäft ausgebaut. Seine Peep Show AG vermittelte Artistinnen, die Wernli selber in Thailand ausgesucht hatte, in die Schweiz. Hier durften sie als Stripperinnen in den Hinterzimmern seiner Sexshops für Live-Attraktionen sorgen. Die Arbeitsverträge waren von der Fremdenpolizei abgesegnet worden, und Wernli, Pionier des Thai-Girl-Imports, sprach von Entwicklungshilfe.

Die Familienväter von der Sittenpolizei, die aufpassten, dass sie das Kinobillett à 8.80 Franken nicht verloren, um es der Spesenabrechnung beilegen zu können, stellten mit Bitterkeit fest, dass Schlufis wie Wernli oder Müller aus einer guten Laune heraus zwei oder drei Champagnerrunden den Gästen im Nachtlokal spendieren konnten, um darauf, ohne mit der Wimper zu zucken, 10 000 Franken hinzublättern. Und Gemeinderätin Silvia Ramer, SP, wollte Ende der siebziger Jahre vom Stadtrat wissen, wie er die gesellschaftlichen Hintergründe des Bedürfnisses nach Einrichtungen wie dem «Stützli-Sex» beurteile.

Die Kunden seien, antwortete Polizeivorstand Hans Frick tiefsinnig, «vorwiegend Männer zwischen 18 und 80», und als das Gelächter im Rat wieder leiser geworden war, setzte er mit dem Gedanken nach, dass «die Verherrlichung einer ungehemmten Sexualbetätigung durchaus geeignet ist, das Bedürfnis nach genannten Lokalen zu steigern». Der Verlust von Hemmungen zeigte sich auch an anderen Orten. Zweimal war der Estrich des Bezirksgebäudes aufgebrochen worden. Die Eindringlinge hatten beschlanahmtes Gut aus Sexshops geklaut, das dort gelagert war. Und nur Angestellte des Gerichts wussten um den Ort der Ware.

Der neue Puritanismus

Die Wende kam im Januar 1983. Als erstes wurde Gody Müllers «Stützli-Sex» behördlich versiegelt. Extra wegen Gody war ein Gesetz geschaffen worden, das sogenannte Unterhaltungsgewerbe-gesetz, welches den rätselhaft esoterischen Begriff «ideelle Immissionen» enthielt. Betriebe mit unerwünschten «ideellen Immissionen» also, etwa solche wie der «Stützli-Sex», würden keine Bewilligung erhalten. Kurz darauf wurden Wernlis Show-Rooms zugenagelt, in denen die Aktricen aus Fernost getanzt hatten. Es folgten Zensurmassnahmen in den Pornokinos. Strafanzeigen gegen SAZ-Herausgeber Baumann und den «Blick», welcher ebenfalls ins Geschäft mit den Lustinseraten eingestiegen war. Erkennungsdienstliche Erfassung von Nacktbadenden im Zürichsee. Strafanzeigen gegen Huren, die sich zu früh am Abend auf die Strasse stellten. Strafanzeigen gegen Falschparkierer. Strafanzeige gegen die bekannte Dirne Mireille, Pionierin des Kliniksex, in deren Salon mitten im gutbürgerlichen Stadtkreis 6 geplagte Manager und Richter sich bizarre Entspannung verschafften. Was jahrelang geduldet worden war, wurde plötzlich wieder gejagt.

Man habe bisher, meinte Bezirksanwalt Lino Esseiva, das «Sexgewerbe nicht mit letzter Konsequenz ausgerottet, was aber machbar wäre». Und die Zeit schien günstig, es herrschte eine Einigkeit, die denkwürdig war. Die Quartiervereine beklagten sich über die Zerstörung von Wohnraum durch Bordellbetriebe. Die 68er Linken, inzwischen mit eigenen Kindern und Karriere beschäftigt, distanzierten sich endgültig von ihren unappetitlichen Verwandten, mit denen sie einst die Musik und die Lust am Tabubruch geteilt hatten. Die Sexindustrie, analysierten sie mit vager Erinnerung an ihre marxistischen Schulungskurse, sei die reinste Form des ausbeuterischen Kapitalismus, und sie kritisierten die Polizei, viel zu lasch zu handeln. Solches hatte man seit den Globus-Krawallen von dieser Seite nie mehr gehört.

Die neue Frauenbewegung wiederum fand im Kreis 4 schaudernd und massenhaft Bestätigung für ihre Kernthese von der Zweiteilung der Welt in männliche Täter und weibliche Opfer. Und die Jugendunruhen der achtziger Jahre mit Opernhauskrawall und Kampf ums AJZ waren bewältigt. Polizei und Gerichte hatten wieder freie Kapazitäten. Längst fällig, kommentierte Got-tesmann Bonaventur Meyer aus Trimbach zufrieden den neuen Puritanismus der Zwinglistadt.

Pius Wernli erhielt von seinem Anwalt den guten Rat, sich abzusetzen. So, wie es momentan aussehe, werde das Sexualstrafrecht in den nächsten Jahren nicht revidiert. Wernli hatte bereits eine dreimonatige Gefängnisstrafe abgesessen, man hatte ihm die Kasse beschlagnahmt, die Konti blockiert, sechsstellige Bussen aufgebrummt und ihn zur Ablieferung von mehreren Millionen Franken verknurrt, die er als unrechtmässigen Gewinn aus seinem Heftliverkauf erzielt habe. Mittels Konkursanmeldungen und Firmenverlegungen und -neugründungen konnte ein gewitzter Geschäftsmann zwar viele Forderungen unterlaufen. Aber die Anwaltskosten waren empfindlich hoch, und diesmal, so kam es Wernli vor, wollten sie ihn kaputtmachen.

Das Gerichtsverfahren vom Herbst 1984 verfolgte er vom thailändischen Badeort Pattaya aus, wo er sich unverzüglich dahintergeklemmt hatte, eine neue Existenz aufzubauen. Seine erste Strip-Bar nannte er «Limmatquai 80», in Erinnerung an das Lokal, das ihm die Behörden in Zürich geschlossen hatten. Zehn Jahre später kontrollierte der rührige Schweizer am Golf von Siam verschiedenste Bars, Nachtklubs, Restaurants und Erotik-Cabarets.

Pionierschicksale

Weniger glücklich operierte Gody Müller. Auf die Schliessung des «Stützli-Sex» hatte er mit einer grosszügigen Champagnereinladung an Freunde reagiert. Als bald darauf das Geld weg war, waren auch die Freunde weg, und nach ein paar Tippeljahren als Clochard im Tessin kehrte er nach Zürich zurück, wo er im Obdachlosenheim Suneboge von Pfarrer Sieber an der Gerechtigkeitsgasse Aufnahme fand.

Pech hatte auch SAZ-Gründer Baumann. Verheerende Geschäfte mit Liegenschaften, ein Flugzeugverkauf nach Afrika, der zum Desaster wurde, weil ein Putsch den Deal vereitelte, Anwaltskosten, ein gutmütiges Naturell und falsche Freunde, all das riss Löcher ins Budget. Am Schluss hauste er in einer Zweizimmerwohnung neben der «Falstaff»-Bar, wo das Leben angefangen hatte und wo es Anfang der Neunziger mit einem harten Aufprall wieder endete. Baumann stürzte kopfüber vom Barhocker, rappelte sich wieder auf, wankte zum Ausgang, stürzte über die kleine Treppe, wurde in den Notfall gefahren und starb bald darauf.

Doch auch Bezirksanwalt Lino Esseiva konnte nicht recht froh werden. Die Lust auf Pornographisches war mächtiger, und der Eifer der Säuberungstruppen erlahmte nach zwei Jahren. Bald war alles wieder wie zuvor. Der SAZ wurde weiter verkauft, diesmal von Basel aus, wo Ernst Balmer, der neue Besitzer und ehemalige Treuhänder Baumanns, residierte. Die Pornokinos zeigten harte Sachen und machten Edi «Zulu» Stöckli zum steinreichen Mann. Und die Sexshops boten feil, was schon in Wernlis Drehgestellen aufgelegt war. Als 1992 das neue Sexualstrafrecht in Kraft trat, legalisierte es eine Praxis, die schon längst gang und gäbe war. 20 lange Jahre hatte die Kommission gebraucht, 20 Jahre diskutieren und abwägen und austarieren, um den Begriff Unzucht ersatzlos zu streichen. Der Weg zurück in die Schweiz war für Pius Wernli wieder offen.

Er kehrte 1993 heim, beleibt wie Buddha, ein wohlhabender und zufriedener Familienvater mit halbwüchsigen Kindern, und er eröffnete sofort wieder eine Sexshop-Kette. Finanziell hätte er es nicht mehr nötig gehabt, aber abgesehen davon, dass er sich in diesem Metier am besten auskannte, war auch etwas Trotz dabei. Man hatte ihn immer als Kriminellen angeschaut, dabei war er stets nur ein Gewerbetreibender gewesen, ein hart arbeitender nach eigener Einschätzung, der die Überzeugung hatte, dass es den Staat einen Dreck angehe, welche Heftli erwachsene Menschen anschauen ·

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