Das Magazin

20.09.1997

Sag mir, seit wann du mich liebst

Alles sprach gegen das junge Paar. Das Alter, die Gesetze, die Fremdenpolizei. Die Vernunft, die Erfahrung, die Politik, die Verwandtschaft. Es gab keinen Grund, den beiden eine Chance einzuräumen. Ausser vielleicht einem. Die Liebesgeschichte von Chiga und Nora.

Text EUGEN SORG Fotos PIA ZANETTI

Am 18. Mai 1994 fuhr Nora mit einigen Freundinnen in die Stadt. Es war ein Mittwochnachmittag, schulfrei, und in der Altstadt von Winterthur war Afro-Pfingsten, das alljährliche Fest der kulturellen Begegnung. Die Freundinnen schlenderten zwischen den Verkaufsbuden hindurch, als plötzlich ein Afrikaner vor ihnen auftauchte, um Nora herumtanzte, Spässchen machte und ihr einen Anhänger schenkte. Man kam ins Plaudern, «wie heisst du» und solche Sachen, flanierte weiter und ging schliesslich zurück zum Bahnhof.

Die Freundinnen wollten nach Hause. «Ich auch», sagte Nora, verabschiedete sich und machte rechtsumkehrt. Der junge Afrikaner hiess Chiga, und er lud Nora ins nahe Restaurant «Casino» ein. Er trank ein Bier, sie trank ein Coci. Daraus wird sowieso nichts, dachte Nora, ich kann ja nicht einmal Französisch. Und sie liess die Kohlensäure in ihrem Hals hochsteigen, was sie sich nie erlaubt hätte, wäre es eine ernste Sache gewesen.

Nora erfuhr, dass Chiga 20 Jahre alt war, dass er unten in Afrika ein Kind habe. Sie fand es gut, dass er so ehrlich zu ihr war. Jetzt musste sie aber wirklich nach Hause, Schulaufgaben machen. Kaum hatte sie diese erledigt, eilte sie zurück an die Marktgasse. Sie fühlte sich nervös, angenehm nervös, ein Kribbeln eher, und sie hätte den ganzen Weg singen mögen. Aber sie war soeben 14 geworden, und da verhielt man sich nicht mehr wie ein Kind.

Von dem, was Chiga sagte, verstand sie kaum ein Wort. An der Steiner-Schule hatte sie zwar Französisch, aber sie legten dort mehr Wert auf die musischen Fächer. Trotzdem musste Nora immer lachen, wenn Chiga sprach, und sie lachte auch, als er ihr nach zehn Minuten sagte: «Je t’aime.» «Was heisst das schon wieder?» fragte sie kichernd zurück und findet es noch heute «uh schlimm», dass sie diesen Satz nicht verstanden hat und er ihn auf englisch wiederholte: «I love you.» «Ja, ja», gab sie zurück, «das sagen alle.» Doch die drei Worte gingen ihr nicht mehr aus dem Sinn.

Hand in Hand bummelten die beiden durch die Gassen, und als sie an der Stadtkirche vorüberkamen, fragte sie ihn, ob er Aids habe. Ob sie Sida meine? Ja, antwortete sie, sie glaube, das meine sie. Nein, sagte er, und sie? Sicher nicht. «Ist mir das peinlich», sagt sie heute, «wie schäme ich mich dafür. Wir hatten noch kaum geredet, und ich komme mit so etwas, nein, wirklich.»

Dann erfuhr Nora, dass Chiga Musiker aus Zaire sei und in Basel lebe. Dass er Asyl beantragt habe und auf den Bescheid warte, sagte er ihr erst später, aber sie hätte ohnehin nicht genau gewusst, was das ist. Bei der Bushaltestelle machten sie auf den folgenden Tag ab, und als der Bus kam, dachte Nora, jetzt oder nie, und gab ihm einen Kuss, einfach so, sie wusste selber nicht warum.

Am nächsten Tag brachte Nora einen Mini-Diktionär mit. Chiga stellte sie seinen Kollegen vor. Dann hatte seine Band ein Interview bei Radio Eulach, Nora durfte dabeisitzen, alles war wahnsinnig spannend, und an diesem Nachmittag schmusten sie bereits.

Am Freitag reiste Nora ins Pfingstlager. Es regnete andauernd, und Nora, mit Pfadinamen Bijoux, hockte mit den Freundinnen die meiste Zeit im Zelt. Sie weihte sie in ihr Geheimnis ein und schrieb mit Hennapaste «Chiga» auf ihre Hand. Es hielt eine ganze Woche.

Am folgenden Mittwoch traf sie ihn wieder. Seine Gruppe hatte unter grossem Beifall des Winterthurer Publikums den ersten Preis der Championnade de la Musique Africaine en Suisse gewonnen und war zum Abschluss der Afro-Pfingsten vor dem grossen Star Joussou N’Dour aufgetreten. Chigas Bild war im «Landboten» erschienen, Nora hatte es ausgeschnitten und ihm mit schlottrigen Knien überreicht. Sie war seit letzten Donnerstag verliebt.

Es war unmöglich, das Ganze weiter für sich zu behalten. «Mami, ich muss dir etwas sagen.» Pause. «Ich habe einen Freund.» «So?» «Aber er ist uh alt.» Pause. «Wie alt?» Pause. «20.» «Das geht ja noch.»

Die erste Hürde war geschafft. Das mit dem «uh alt» war ein geschickter Zug gewesen. Das Thema war vorbelastet. Erst vor kurzem war es mit dem letzten Freund auseinandergegangen, der war 26 gewesen, aus der Karibik, eine leidige Geschichte, die in einer städtischen Familienberatung geendet hatte. Nora war ganz verstockt geworden und hatte ihre Eltern Rassisten genannt, als sie diese Beziehung unterbinden wollten. Der Mann stellte sich als Schlufi heraus, leider musste dies auch Nora zugeben.

Das nächste halbe Jahr reiste Chiga jeden Mittwochnachmittag von Basel nach Winterthur. Auf einer Bank im Stadtpärkchen schwatzten und turtelten und lachten sie, bis Nora um halb sieben wieder nach Hause musste. Die Lehrer wunderten sich über ihre Fortschritte in Französisch. Die Eltern warteten ab, der Neue schien Nora fair und respektvoll zu behandeln, und Nora hielt sie diesmal auf dem laufenden. Sie bauten ein wenig darauf, dass es dem Mann mit dem jungen Meitli bald verleiden und er sich eine erfahrene Frau suchen würde. Und bis es soweit war, wünschte sich die Mutter einen anderen Treffpunkt für die beiden. An der Töss beispielsweise. Die Vorstellung, dass eines Mittwochs ausgerechnet die Eurhythmielehrerin an dem Pärchen auf der Parkbank vorbeispazieren könnte, war ihr sehr unangenehm.

Im Herbst fragte Nora die Eltern, ob sie Chiga in Basel besuchen dürfe. Sie durfte. Ab da stand sie jeden Sonntag um sechs Uhr auf. Chigas kleine Absteige war immer voll mit Freunden und Bekannten, man kochte, trank, palaverte, alle kümmerten sich um Nora, sie fühlte sich wohl. Häufig waren sie plötzlich nur noch zu zweit. Chiga hatte die Gäste diskret hinauskomplimentiert, Nora war das auch recht. Und wenn sie am Abend den 20-Uhr-Zug erwischen musste, wie sie es mit den Eltern abgemacht hatte, tauchte die ganze Truppe manchmal wieder auf und begleitete sie zum Bahnhof.

«Was hätten wir tun sollen? Alles von Anfang an abklemmen, wie die Verwandten rieten? Man fragte mich häufig, ob ich als Mutter nicht Angst habe, dass meine minderjährige Tochter mit einem Schwarzen geht. Ich hätte böse Angst gehabt, wenn Nora in diese No-future-Stimmung abgerutscht wäre oder mit Drogen angefangen hätte. Aber Nora hatte es gut, sie war lustig und aufgestellt. Diese Leute hatten Energie, Lebenskraft, eine fröhliche Papageiengesellschaft.»

Noras Eltern hatten unterdessen Chiga kennengelernt. Ihn einzuschätzen war nicht einfach. Man hatte es mit einer völlig fremden Kultur zu tun. Chiga hatte Nora seine Geschichte erzählt, auf der Parkbank, Stück für Stück, jeden Mittwoch etwas mehr, und Nora hatte immer alles den Eltern weitererzählt. Sie waren skeptisch. Stimmte es, dass er in seiner Heimat verfolgt worden war? Wie war er wirklich in die Schweiz gekommen? Wie ist seine Familie? Noras Mutter wandte sich an die Schweizer Freundin eines Cousins von Chiga, der schon länger in der Schweiz lebte. Zwecks Überprüfung. Es ergaben sich keine Ungereimtheiten. Chiga schien die Wahrheit zu erzählen. Am meisten beruhigte die Eltern aber eine Tatsache: Noras jugendliches Alter. Chiga konnte sie nicht für eine Heirat benützen, dazu war sie zu jung. Offenbar hatte auch er sie gern.

«Ich war ab dem ersten Donnerstag ganz schlimm verliebt. Und du, Chiga?» «Wann? Mmh.» «Also, wann? J’écoute, ich höre.» «Mmh, nachdem du mich zum dritten Mal in Basel besucht hattest.» «Was, so spät? Und warum bist du dann jede Woche nach Winterthur gekommen?» «Nora, was soll ich dir sagen, es war einfach so.»

«Aya ôh le le, eloko nini osala na mboka. Aya ôh le le, was hast du für dein Land getan. Es lebe die Freiheit, es lebe die Demokratie, oyee.» Das Lied war im Frühjahr 1993 in Kinshasa ein Renner, die Radiostationen und TV-Anstalten spielten es, und Chigas Band Swede-Swede de Kintambo hatte einen vollen Terminkalender. Eines Abends trat die Gruppe an einem grossen Meeting der Mobutu-Opposition auf. Nach dem Konzert wurde Chiga von einem Vertrauten des Mobutu-Sohnes Kongulu zu sich gerufen. «Warum singst du gegen Mobutu?» «Ich singe gegen niemanden.» «Gut. On verra, man wird sehen. Heute ist mein Geburtstag. Du wirst in meinem Haus für mich singen.» Es war nicht ratsam, diese Einladung abzulehnen. Mobutus Sohn hatte im Volk den Übernamen «Saddam Hussein». «Was schaust du mich so an», habe er zum Beispiel einen Tischnachbarn in einer Disco gefragt, die Pistole gezogen, auf diesen gerichtet und abgedrückt: «Nun schau mich wieder an.»

Die Musiker verstauten ihre Instrumente im Bus, Chiga stieg mit zwei Männern und dem Freund von «Saddam» in dessen Limousine. Bei einer Villa am Fluss hielten sie an. «Steig aus. Wir werden dich waschen.» Chiga wurde eiskalt vor Angst. «Wo sind meine Musiker?» «Sie sind gut aufgehoben.» Dann fingen sie an zu schlagen. Als Chiga wieder aufwachte, war er in einem Gefängnis der SARM, der Geheimpolizei Mobutus. Die ersten Tage seien die Hölle gewesen, sagt Chiga, Schläge immer und überall, die Wärter wollten Geld und Zigaretten, ah, du willst uns nichts geben, alors tu vas nager, dann wirst du schwimmen. Das «Schwimmbad» war zwei auf drei Meter, gefüllt mit «caca», mit Scheisse, ein Bad dauerte 30 Minuten. Nach einer Woche sagte der Chef: «Sohn, du redest schlecht von deinem Vater.» «Aber nein. Du kannst meine Kassette hören. Nichts Schlechtes wirst du finden.» «Mein Sohn, hier spielt man keine Musik. Hier tötet man.»

Aus der zweiten Ohnmacht erwachte Chiga im Lazarett. Er lag auf dem Bauch, sein Mund war geschwollen, auf dem Rücken klafften drei tiefe Schnitte. Die Krankenpflegerinnen flüsterten ihm zu, man hätte ihn bereits totgesagt. Nach zweieinhalb Wochen wurde er ins Gefängnis zurückgeschafft. Dort waren auch die anderen neun Mitglieder der Band: Kennedy, am ganzen Körper von einem Ausschlag befallen, Bel, mit aufgedunsenem Gesicht, Bokoko, ohne Vorderzähne und mit Kopfverletzungen. Nur Le Beau, den Kleinen, hatten sie nach zwei Tagen nach Hause geschickt. Der war mit zwölf als Sänger zur Gruppe gestossen, nachdem er aus der Schule davongelaufen war.

Nach einem halben Jahr sagte ein Wärter: «Ihr könnt gehen, ausserhalb des Landes. Ich arrangiere es mit dem Chef, wenn ihr genügend Geld habt.» Es war viel Geld, der Manager organisierte die Summe, und der Wärter öffnete in der Nacht die Türen. «Allez vite, schnell, ihr kennt Mobutus Sohn.» Zehn Tage darauf waren sie in Frankreich, vive la liberté, vive la démocratie, oyee, sie blieben sechs Monate, hatten Auftritte, dann war das Visum abgelaufen.

Wohin jetzt? Chiga rief seinen Cousin in der Schweiz an. Der hatte eine Idee. Die Schweiz sei ein Grenzland zu Frankreich, er kenne einen Übergang. Mit einem Konzert im Gemeinschaftszentrum Heuried in Zürich feierte die Band ihre Ankunft. Zwei Tage darauf erzählten sie ihre Geschichten den Asylbeamten. Chiga, Shora, Bel, Jerisson, Vicky in Basel, Kennedy, Mimi Orange, Bokoko, Sacha und Le Beau in Kreuzlingen. Es war im September 1993.

Nora lebte unbeschwert, bis sie eines Tages in der Zeitschrift «Mädchen» blätterte. Darin war ein Fotoroman über einen Asylanten. Das letzte Bildchen zeigte, wie er mit gefesselten Händen ausgeschafft wurde, die traurigen Augen den Leserinnen zugewandt. Plötzlich konnte sich Nora ausmalen, was Chiga und ihr drohte. Sie musste weinen und reiste sofort nach Basel.

Wenig später, an einem Mittwoch vor Afro-Pfingsten 1995, ein Jahr waren sie zusammen, rief Chiga an. «Ich habe den Brief bekommen. Ich muss gehen. Weg aus der Schweiz. Ja. So ist das Leben.» Er war kurz angebunden, tönte emotionslos, war wie ein anderer Mensch. Nora hatte einmal in einem Auto gesessen, das in einen Baum fuhr. Jetzt war es genau wie nach diesem Unfall. Der Knall – und dann Totenstille.

Zwei Tage danach trafen sie sich zu einem Konzert von Papa Wemba, dem Grandseigneur der neueren zairischen Musik. Chiga wirkte wie versteinert, er sah viel älter aus, und sein Gesicht war hart, dass es ihr ganz unheimlich wurde. Sie wollte mit ihm reden. Er antwortete nicht. Sie nahm ihn in den Arm. Er blieb stocksteif. Sie streichelte über seinen Rücken. Da platzte ein Knopf von seinem Hemd, als ob er unter elektrischer Spannung stehen würde. Nora, sagte sie zu sich, sei keine Nervensäge, lass ihn, diesmal geht es um ihn, und sie fühlte sich als kleines, überflüssiges Nichts. Nach dem Konzert ging er direkt nach Hause, ohne sie.

Am 30. Juli 1995 wäre die Ausschaffung gewesen. «Die Band ist hier», sagte Chiga Ende Juni, «das ist meine Familie. Und du bist hier. Ich bleibe.» Er gab sein Zimmerchen auf und tauchte bei Landsleuten unter. Er hatte sich die Papiere eines Kollegen ausgeliehen, und er fand eine Schweizerin, die bereit war, ihn zu heiraten. Nora hatte nichts dagegen, die andere war eine Lesbe, aber sie kannten niemanden, der die 20 000 Franken Abfindung vorgestreckt hätte.

Alles lief weiter wie bisher, Nora lebte für die Wochenenden, nur Chiga war angespannter. Er hatte Angst, mit ihr auszugehen, und vermutete hinter jeder Strassenecke einen Polizisten. Besonders gefährlich waren die Hauptbahnhöfe. Einige Male war er kontrolliert und wieder laufengelassen worden, einmal aber wurde er in Basel verhaftet. Die Polizisten fragten nach seinem Namen, seinem Geburtsdatum, er machte keinen Fehler, sie verglichen das Foto im Ausweis mit seinem Gesicht, er ist es nicht, sagte der eine, er ist es doch, sagte der andere, das wollen wir uns genauer ansehen, sagte der erste und scherte die Rasta-Locken von Chigas Kopf. Zwei Tage behielten sie ihn auf dem Posten, dann verabschiedeten sie ihn mit einem Tritt in den Hintern.

Nora hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte. Zum ersten Mal im Leben schwänzte sie die Schule, rief Bekannte an und Polizeiposten. Durchatmen konnte sie erst wieder, als endlich der Anruf von Chiga kam.

«Er war jetzt illegal in der Schweiz. Hätten wir ihn anzeigen sollen? Und danach nie mehr in den Spiegel sehen? Ihm das Haus verbieten? Ihm, Chiga, den wir gern bekommen hatten? Und unsere Nora? Wie ihr das erklären? Und wer hätte sie getröstet?»

Noras 16. Geburtstag im Frühling 1996 war ihr bisher schönster. Chiga hatte ein Liebeslied komponiert, eigens für sie, und die Freunde spielten es, während er mit ihr tanzte. Eine Woche später rief er an und fragte, ob sie zu ihm kommen könne. Darauf sagte er noch, ob sie sehen wolle, wie sich jemand umbringt. Nora raste zum Bahnhof, es war ein Mittwochnachmittag, und als sie bei ihm ankam, fand sie ein Häufchen Elend. Er sei am Ende, er wisse nicht mehr weiter. Mit jeder Bewegung fällt man hier auf, sagte er, ich werde verrückt, und heimkehren kann ich auch nicht. An zairischen Konzerten in der Schweiz hatte er den Sohn von Mobutu gesehen. Mit seinen Leibwächtern. Der kannte ihn und hatte ihm direkt in die Augen geschaut. Chiga war sofort verschwunden, fröstelnd und voll kalten Schweisses.

Nora redete ihm zu, tröstete ihn, und da kam ihr zum ersten Mal die Idee, ihn zu heiraten. Ob er wisse, ob das möglich sei. «Nein», sagte er, und sie antwortete, «wart ab, mach bloss keine Dummheiten, ich frage meine Mutter.» Da Nora sich nicht getraute, der Mutter dabei in die Augen zu schauen, rief sie auf dem Heimweg aus einer Telefonkabine an. «Das könnte man besprechen», kam die Antwort, «zusammen mit Vater.» Nora war erleichtert. Sie hatte fest mit einem Nein gerechnet. Aber sie hätte alles getan für ihn.

Die Auskünfte der Anwälte waren nicht ermutigend. Nora sei zu jung für eine Heirat, alles wäre zu kompliziert, man würde sehr abraten. Dann kam alles wieder ganz anders. Chiga trennte sich von Nora. Sie hatte ihrem Tagebuch ein kleines Geheimnis anvertraut, einen überflüssigen Ausrutscher, den sie bereute. Für sie war es bedeutungslos gewesen, aber nicht für Chiga. Er hatte das Tagebuch gelesen, ohne ihr Wissen, aber er sagte es erst, als er eine andere hatte. Eine, die ihn sofort heiraten würde.

Die ganze Familie litt, als sich Chiga im Sommer weinend von allen verabschiedete. Für Nora war es wie Sterben. Nachdem sie zehn Kilo abgenommen hatte, ass sie wieder, schnitt sich die Haare, ging ins Karate, buchte eine Reise nach Venedig und organisierte auf Anfang nächsten Jahres ein Austauschsemester mit einer Steiner-Schule in Paris. Sie liebte Chiga zwar noch, aber sie musste nun ohne ihn leben.

Chiga war es, der den Kontakt wiederaufnahm, zuerst am Telefon, und dann trafen sie sich auch wieder. Einmal krümmte er sich plötzlich vor Schmerzen und spuckte Blut. Man ging zu einem Arzt, einem Bekannten von Noras Mutter. Der sagte zu Chiga, du bist gesund, aber dein Magen blutet, du denkst zuviel und hast zu viele Sorgen. Er hatte auch die Narben auf Chigas Rücken gesehen und sich gewundert, was das für Leute sind, die anderen solche Dinge antun können. Chiga war es unangenehm, dass Noras Familie immer für ihn bezahlen musste. An einem Konzert sah Nora zum ersten Mal die andere. Auf einen Blick war ihr klar, dass diese keine Konkurrenz war. Nach dem Konzert, vier Monate nach ihrer Trennung, waren sie wieder zusammen.

«Wie alt ist deine Freundin?» hatte eine Anwältin gefragt, die Chiga zufällig kennengelernt hatte. «16», hatte er geantwortet, und sein Kollege hatte gespöttelt: «Il marche avec des bébés, er geht mit kleinen Kindern aus.» «In Zaire wäre es einfach», hatte die Anwältin daraufhin gesagt, «dort kann eine Frau mit 15 und der Unterschrift der Eltern heiraten.»

Von diesem Gespräch berichtete Chiga Nora nur nebenbei, und als er in ihren Augen ein Leuchten bemerkte, fügte er an, es würde aber mindestens 4000 Franken kosten, um seine Papiere zu organisieren. Das Leuchten erlosch und glimmte erst wieder auf, als am nächsten Abend die Mutter meinte, das wäre doch eine Möglichkeit, aber das Geld müsse sie selber auftreiben. Nora sprach mit dem Götti, telefonierte mit den zahlreichen Tanten, besuchte die Onkel, und alle sagten, sie müssten sich das überlegen. Nora hatte den Eindruck, deren grösste Angst sei weniger die Heirat, sondern die Vorstellung, dass sie allein nach Afrika reisen wollte. Dabei würde sie doch mit Chiga unterwegs sein. ·

Die Eltern bestellten Chiga zu sich und quetschten ihn aus. Über seine Beziehung zu Nora, über seine Zukunftspläne, über seine Vorstellungen von einer Ehe. Er habe die volle Verantwortung, dass ihre Tochter heil und gesund zurückkehren würde. Damit kein Wort verlorenging, war eine sprachkundige Freundin der Familie beigezogen worden.

Selber mitzufliegen war für die Eltern finanziell unmöglich. Um so mehr, als Noras Kreditgesuche erfolglos geblieben waren. Die Verwandten riefen zwar zurück, aber nur, um den Eltern ihre Meinung über die Heirat nahezubringen. Sie wollten gewiss etwas ausleben über Nora, analysierte einer, dieses Exotische gefalle ihnen doch. Diesem Chiga traue sie nicht, offenbarte eine andere, bestimmt lüge er bezüglich seines Alters. Und dieses Machogehabe. Und diese Kleider. Wie ein Gigolo. Sie habe das Thema auch in ihr Frauengrüppli hineingetragen, und man habe erwogen, zu den Vormundschaftsbehörden zu gehen.

Es seien Sachen gekommen, sagte die Mutter, die sie aus ihren Kreisen nicht erwartet hätten. Bis dahin hätte man engen Kontakt gehabt. In ihrer Verwandtschaft sei man fortschrittlich, sozial und tolerant. Aber offenbar nur, solange es einen nicht selber betreffe. Es habe sie verletzt, dass kein einziger realisiert habe, was das Ganze für sie bedeutete. «Es gibt keine Eltern, die wünschen, dass die Tochter mit 16 nach Afrika heiraten geht. Ich fragte: Was schlagt ihr vor? Auseinandergehen? Die jungen Leute lieben sich. Aber niemand nahm diese Liebe ernst.»

Auch auf den Ämtern wurde die Stimmung regelmässig eisig, sobald die Mutter Noras Fall vorzutragen begann. «Sie wollen also ihre Heiratseinwilligung beglaubigen lassen», säuselte die Dame von der Vormundschaft, «damit ihre Tochter heiraten kann. Dort unten.» Und fuhr mit spitzer Stimme fort: «Unser Amt ist nicht zuständig. Wir würden es auch nicht machen, wenn wir könnten. Es gibt nie einen Grund für eine Jugendheirat.» Kein einziges Mal fiel das Wort Neger oder Rabenmutter oder Heiratsschwindler. Aber die Mutter konnte es in den Blicken und Gesten lesen. Erst als sie ihren Mann mitnahm, wurden die Schalterleute etwas zuvorkommender.

Am Morgen des 13. Dezember 1996 karrten Nora und Chiga ihr Gepäck durch den Flughafen Kloten. Dahinter ein Umzug der engsten Angehörigen, Freundinnen und Bekannten. Nora checkte ein, dann stapelte Chiga seine Koffer aufs Förderband. Die Hostess blätterte in seinem Pass. Plötzlich sagte sie: «Es tut mir leid, sie können nicht abfliegen. Sie haben kein Transitvisum für Paris.» In Kinshasa war alles organisiert und vorbereitet worden. Nora konnte den Flug unmöglich verschieben, im Januar begann ihre Schule in Paris. Sie musste sich auf einen Koffer setzen und heulte los, ihre jüngere Schwester heulte mit, die Mutter bekam einen Kreislaufkollaps, Chiga das harte Gesicht, und die anderen redeten auf die Hostess ein. Dann begann auch diese zu weinen. Eine beherzte Bekannte war inzwischen losgespurtet, düste von Schalter zu Schalter und kam schliesslich zurück mit einem Ticket für Chiga auf den übernächsten Tag, Kinshasa direkt, Business Class, 6000 Franken.

Noras Maschine flog um 7.45 Uhr. Um 7.35 Uhr entschied sie sich, allein zu fliegen, um 7.40 Uhr sprintete sie los, «renn», hatte die Hostess gesagt, die jetzt nicht mehr weinte, «renn», und drückte ihr den Koffer in die Hand. Im Rennen reichte ihr die Nachbarin einen Glücksbringer. Als Nora im Flugzeug sass, kriegte sie kaum die Gurten zu, so sehr zitterten ihre Hände.

«Los, renn», sagten ihr auch die Leute, die sie am Flughafen in Kinshasa abholen kamen. Sie hatten gefragt, ob sie Nora sei, und ihr Foto hochgehalten. In der Dämmerung standen Palmen, die Luft war feucht und heiss und voller feiner Gerüche. Dann nahmen sie Noras Gepäck, fassten sie bei der Hand und kurvten durch das Gewimmel in der Empfangshalle.

Nora hatte keine Zeit zum Überlegen. Ein Dicker schleuste sie durch die Kontrollen, er schien den Beamten Respekt einzuflössen, und verfrachtete sie schliesslich in einen schwarzen Mercedes. Kaum war sie ins Polster gesunken, ging die Türe wieder auf, Nora, Nora, ah, ma soeur, endlich bist du da. Es war Chigas Schwester. Sie umarmte Nora und begann vor Freude zu weinen. Erst jetzt realisierte Nora, dass sie wirklich angekommen war.

Der Dicke war ein Bekannter der Familie, der als Bodyguard des Mobutu-Clans arbeitete. Er chauffierte sie zu einem bewachten Anwesen mit hohen Mauern. Drinnen standen verschiedene Häuser, auch eine Kapelle, und viele Nonnen huschten über das Gelände. Es war ein katholisches Kloster. «Die Schweiz von Zaire», lachte der Dicke. Dort hatte sich die Familie einquartiert. Zur Sicherheit der weissen Braut. Chigas Mutter hatte den ganzen Tag im Hof gewartet, und nun wollte sie Nora nicht mehr loslassen. Sie schaukelte sie in ihren Armen, wimmerte, lachte, weinte, plauderte, endlich, meine Tochter, endlich.

Einige Tage später klingelte das Telefon bei Noras Eltern in der Schweiz. «Hier Blaser am Apparat, Kinshasa, Botschaftssekretär». Eine junge Dame sei heute bei ihm gewesen, die wolle heiraten. Ob das unbedingt sein müsse. Das sei gefährlich. Alle Jungen hier wollten weisse Mädchen heiraten, um aus dem Land herauszukommen. Wo sie den Burschen denn kennengelernt habe. Aha, ein Asylbewerber. Und er hat kein Asyl bekommen? Sie sehe, er habe also gelogen. Sonst hätte er sein Asyl gekriegt. Übrigens, die notariell beglaubigte Unterschrift der Eltern, welche das Meitli ihm vorgelegt habe, sei ungültig. Es brauche ein spezielles Formular der Zivilstandsbehörden mit Stempel von der Staatskanzlei. Die Mutter dachte an Nora, wurde bleich und hängte auf.

Nun hatte Sekretär Blaser eine kleine Neuerung verpasst. Am 1. Januar 1996 war in der Schweiz das Mündigkeitsalter von 20 auf 18 heruntergesetzt und gleichzeitig die Befugnis der Eltern, mit ihrer Unterschrift die Heirat ihrer unmündigen Kinder zu ermöglichen, abgeschafft worden. Besagtes spezielles Formular existierte offiziell nicht mehr. Zum Glück für das junge Paar hatte das Amt in Winterthur noch keine Zeit gehabt auszumisten. Nach drei weiteren Zittertagen war das erlösende Papier auf der Schweizer Botschaft. Zufällig war ein Bekannter von Chiga über Zürich nach Kinshasa gereist. Die Trauung fand am 28. Dezember statt.

Die zairische Standesbeamtin hatte eine Stunde Verspätung, entschädigte dafür die Wartenden mit einer zweistündigen Rede. Sie war eine resolute Frau. Der afrikanische Mann, referierte sie Richtung Nora, schiebe die weisse Frau in seine Familie ab. Ab und zu besuche er sie, sei aber sonst immer mit den Cousinen zusammen. Cousinen nenne er sie, dabei schlafe er mit ihnen. Die weisse Frau hingegen, und jetzt schaute sie Chiga an, wolle wenig Kinder und arbeiten wie ein Mann, ja, sie wolle sein wie ein Mann. Doch, und nun wandte sie sich wieder an die Braut, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, auch bei ihnen in Afrika seien Mann und Frau gleich. Das heisst, die Frau sei etwas höher. Weil aber jemand der Chef sein müsse, habe man den Mann bestimmt. Die Frauen würden das respektieren, obwohl sie wüssten, dass sie in Wirklichkeit regierten. Dann wünschte sie dem Paar viel Glück, und Nora fand, dass die Frau etwas frech gewesen sei. Sie liess sich aber von der prächtigen Stimmung der Festgemeinde anstecken, die den Vortrag mit schallendem Gelächter belohnt hatte.

Pünktlich um neun Uhr morgens, am 5. Januar 1997, nahm die Frischverheiratete ihren Platz in der Schulbank in Paris ein. Ihr Mann sollte nachkommen, sobald er die nötigen Papiere besorgt hatte. Der Bodyguard-Verwandte musste das Gefängnisdossier verschwinden lassen, und er musste die richtigen Leute für die richtigen Ausweise und Stempel auftreiben. Alles kostete Zeit und Geld, das vorgezogene Erbe von Noras Grosseltern. Und die Schweizer Botschaft nahm es sehr genau.

Gleichzeitig tauchte ein neues Problem auf. Aus dem Osten näherten sich mit grossem Tempo die aufständischen Truppen von Laurent Kabila. Bald schon hörten die Kinois, die Einwohner Kinshasas, Geschützdonner. Nora lag gerade in einer Frauenbadi und dachte über Victor Hugo und Paul Verlaine nach, die sie im Unterricht durchnahmen, als ihre Nachbarin eine Nachricht auf dem Pager empfing: «13.45 Uhr, Kabila in Kinshasa einmarschiert und zum neuen Staatspräsidenten ernannt.» Sie hörte einen Monat lang nichts mehr von Chiga. Immer wenn sie Bilder von Zaire, das jetzt wieder Kongo hiess, im Fernsehen sah, hatte sie schreckliche Angst, ihren Mann unter den Toten zu sehen.

Die Zeit um den Einmarsch war ein einziges Chaos. Mobutus Männer plünderten, die neuen aus Angola und Ostzaire plünderten, nur die Soldaten aus Ruanda waren diszipliniert. Und die serbischen und tschetschenischen Söldner Mobutus mit ihren 100 Dollar Tageslohn.

Chiga versuchte, allen aus dem Weg zu gehen. Kabilas Leute sprachen Englisch und Swahili, die Kinois Französisch und Lingala. Nur schon ein «Halt» konnte zu tödlichen Missverständnissen führen. Es war schwierig, die Kinder vor den schrecklichen Bildern zu schützen. Spätestens wenn sie vor Hunger schrien, musste man die Türe aufmachen, um Essen zu organisieren. Chiga flüchtete über den grossen Fluss nach Brazzaville. Kaum war er angelangt, fingen auch dort die Kämpfe an. Noch schlimmer als in Kinshasa. Chiga flüchtete zurück.

Nora war vor drei Tagen aus Paris heimgekehrt. Sechs Monate hatten sich das Paar nicht mehr gesehen. Jetzt wartete Nora am 7. Juli 1997 um sechs Uhr morgens am Flughafen Kloten auf Chiga. Alle Hindernisse hatten die beiden überwunden. Nun würde alles gut. Nora spähte durch die Trennscheibe. Die Passagiere aus Kinshasa trafen ein. Lauter unbekannte Gesichter. Nora eilte zum Schalter der Fluggesellschaft. Chiga war nicht auf dem Flieger gewesen. Jetzt kommt er nie mehr, dachte sie und fühlte sich mit ihren 17 Jahren auf einmal müde, sterbensmüde.

Chiga hatte Visum, Ticket und Reservation. Auf dem Rollfeld des Flughafens von Kinshasa war seine Maschine startklar gewesen. Der Belgier in der schicken Sabena-Uniform hatte seinen Pass studiert und das Flugbillett angeschaut. «Du hast kein Retourbillett.» «Ich bin verheiratet und fliege zu meiner Frau.» «Beweise es. In deinem Pass ist kein Eintrag.» Der Angestellte hatte seinen Vorgesetzten geholt. «Du hast nur ein 30-Tage-Visum. Du bleibst hier.» Ein dritter Sabena-Steward war hinzugekommen. «Wo hast du dieses Ticket gefunden?» «Ich verstehe nicht.» «Wo hast du es gestohlen?» «Ich bitte Sie.» Dann hatte die Anfrage in Zürich ergeben, dass das Billett in Ordnung war. «Zeige deine Heiratspapiere. Voilà. Das beweist gar nichts. Besorge dir etwas Richtiges.»

Auf der Schweizer Botschaft war Chigas Fall mittlerweile wohlbekannt, man drückte ihm die Stempel anstandslos in die Dokumente. Am 9. Juli konnte sich das Paar in die Arme schliessen. Sogar der Schweizer Zöllner hatte trotz angestrengtem Suchen keine Unkorrektheit ausmachen können.

Das zweite Hochzeitsfest fand fünf Wochen später statt, am letzten Wochenende von Noras Schulferien. Sie hatten 300 Leute eingeladen, und alle kamen. Alle Verwandten, die sich einige Monate nicht mehr bei Nora und ihrer Familie gemeldet hatten, alle Freundinnen Noras, die sie immer verteidigt hatten, alle Freunde und Bekannten von Chiga. Und die Bekannten dieser Bekannten. Insgesamt bestimmt 400 Leute. Der Brautvater hielt die erste Rede in seinem Leben, und Noras Freundinnen hielten sich an den Händen und fanden es «uh herzig», als er sagte, man könne ein junges Liebespaar nicht gewaltsam auseinanderreissen. Swede-Swede de Kintambo spielte auf, zum ersten Mal seit langem, Chiga dirigierte, und Le Beau, der Kleine, sang und tanzte und verdrehte die Augen und lachte, als sei er gerade wieder mal der Polizei entwischt. Und die Winterthurer in den kurzen Sommerhosen musterten verstohlen den festlichen Aufzug der Gäste aus Kinshasa, diese Kombinationen aus Voodoo und avantgardistischer Haute Couture.

Ab zwei Uhr morgens hörte man praktisch nur noch Französisch und Lingala. Um drei Uhr konnte Nora gerade noch ihre Hochzeitstorte mit den Marzipanrosen retten. Eine Frau war daran, sie einzupacken. Um vier Uhr, als die Musiker ihre Verstärker ausschalteten, war die Torte trotzdem verschwunden. Sie habe ein wenig den Rappel, sagte Nora, während sie die letzten Festteilnehmer verabschiedete, wenn sie daran denke, dass jetzt wieder der Schulalltag beginne. Aber trotzdem sei sie glücklich. Ob es nicht so sei, in der ganzen Musik und in allen diesen Romanen ginge es doch um die grosse Liebe. Und diese erlebe sie jetzt.

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