Das Magazin

14.12.1996

Mutterland

Der siebenjährige Tibi wurde zusammen mit anderen tibetischen Flüchtlingskindern in die Schweiz geflogen. Damit sie es bei uns besser haben. 33 Jahre später trifft seine Mutter zum ersten Mal die Pflegemutter ihres Sohnes.

Text Eugen Sorg Fotos Ueli Meier

An der Bushaltestelle wartet eine ältere Frau. Als sie den blauen Überlandbus hinter einem der Hügel auftauchen sieht, gibt sie sich einen Ruck, ordnet das ergraute Haar, zupft sich die Wolljacke zurecht. Der Bus hält an. Ein Mann mit langen, zu einem Zopf gebundenen Haaren springt aus der hinteren Türe und dreht sich sofort wieder um. Seine Bewegungen werden plötzlich behutsam, liebevoll. Er hilft einer kleinen Frau die Treppe hinunter. Die Frau wirkt zerbrechlich, ihr Gesicht ist runzlig und dunkel, mit asiatischen Zügen. Die Wartende mit der Wolljacke zögert kurz, bevor sie zu den beiden hingeht. Die Gruppe scheint für einen Moment zu erstarren, als würden alle den Atem anhalten. Der Bus setzt sich schnaubend in Bewegung. Dann wendet sich der Mann zu der Frau, die gewartet hatte. «Müetti», sagt er zu ihr, «das ist meine Mutter.»

Im Jahr 1950 erschreckten zwei düstere Omen die Bevölkerung Tibets. Die im Jahr zuvor auf dem chinesischen Festland an die Macht gekommenen Kommunisten unter Mao Zedong liessen im Rundfunk verbreiten, dass sie Tibet als Bestandteil Chinas betrachteten, und kündigten an, es von der «imperialistischen Unterdrückung» zu befreien. Damals befanden sich gerade etwa sechs Europäer im seit Ewigkeiten abgeschlossenen und geheimnisumwitterten Tibet, unter ihnen der Alpinist und Buchautor Heinrich Harrer. Ein furchtbares Erdbeben im Südosten Tibets, das ganze Täler, Berge und Flüsse versetzte, bestätigte die unheilvolle Drohung. Heerscharen von tibetischen Mönchen verdoppelten ihre Opfer, neue Gebetsfahnen wurden aufgezogen, seltene, besonders wirksame Amulette aus Truhen hervorgeholt, und der Wind trieb das Flehen der Gebetsmühlen von den Berggipfeln in alle Himmelrichtungen.

Zwei Wochen benötigten Maos Soldaten, um das riesige Schneeland militärisch zu unterwerfen. Als die chinesischen Eliteeinheiten im Oktober 1950 in die tibetische Hauptstadt Lhasa einmarschierten, klatschte die Bevölkerung wie betäubt. Mit Klatschen verscheuchte man böse Geister. Die Götter blieben stumm, ebenso wie die Völkergemeinschaft. Einzig der Zwergstaat El Salvador verurteilte den Aggressor. Die Gelehrten in Lhasa griffen zum letzten Mittel. Sie befragten das Orakel. Der heiligste aller Mönche, der Dalai-Lama, so die eindeutige Antwort, solle zum Staatsoberhaupt des Sechs-Millionen-Volkes gemacht werden. Er war 15 Jahre alt.

Ruth Graber, die Frau mit der Wolljacke, hat im Wohnzimmer Tee und Konfekt bereitgestellt. Durch das Fenster der Villa, hinter Schlehdorn und Haselnussstauden, sieht man die schmucken Giebel und Türmchen eines Zürcher Dorfes. Die Gastgeberin giesst Tee ein, lächelt der anderen Frau zu, etwas scheu oder zerstreut, diese lächelt zurück, versinkt in Gedanken, und in die Stille hinein redet der Mann, ihr gemeinsamer Sohn, der plötzlich den Wunsch verspürt hatte, dass seine leibliche Mutter seine zweite Mutter kennenlernen sollte.

«Hat sie es auf dem Magen?» fragt Frau Graber ihren Sohn nach einer Weile, als sie bemerkt, dass die andere Frau das Gebäck nicht anrührt. «Nein», antwortet Tibi, der Sohn, «Mutter hat es auf der Leber. Das kommt vom vielen Buttertee. In Indien ist es zu heiss, um ihn zu trinken.» Eine Stunde später fragt Ruth Graber unvermittelt: «Wie heisst sie?» «Youden», antwortet Tibi, «die Mutter heisst Youden Jampa.»

1959 floh der Dalai-Lama vor einer drohenden Verhaftung durch die Chinesen nach Indien. In Lhasa brach ein Aufstand aus und wurde niedergeschlagen. Drei Tage lang sollen danach die Feuer mit den Leichenhaufen gebrannt haben. 80 000 Menschen folgten ihrem göttlichen Oberhaupt ins Exil, unter ihnen auch Youdens Familie. Immer mehr Chinesen in Uniform waren auf Pferden in ihr Dorf im Südwesten des Landes gekommen. Sie zogen einen Teil der Ernte ein, hielten mit den Dörflern Versammlungen ab, beschimpften den Dalai-Lama, schlugen die Bauern, wenn sie die Mao-Parolen nicht nachbeten wollten, und verschleppten die Wohlhabenderen. Youdens Mann war Händler und hatte gute Kontakte zu den Dorfoberen. Aus Lhasa war zudem durchgedrungen, dass man Kinder zur Schulung nach China schicken würde. Davor hatten sie am meisten Angst. Eines Nachts beluden sie drei Yaks mit dem Allernotwendigsten, etwas Mehl, Butter und Tee, es war 1961, der fünfjährige Tibi und sein jüngerer Bruder wurden in die Satteltaschen gesteckt, der Älteste ging zu Fuss, das Neugeborene trug der Vater. Nach zehn Tagen erreichten sie Nepal, flüsternd und zitternd im Schutze der Dunkelheit, um nicht einer chinesischen Patrouille in die Hände zu fallen, der Vater kannte als Händler alle Schleichwege.

Zur selben Zeit, am 15. Februar 1961, berichtete der Journalist Werner Wollenberger in seiner Kolumne «Der Rorschacher Trichter» in der Zeitschrift «Nebelspalter» vom Fall der Charlayne Hunter. Die 18jährige Frau war als erste dunkelhäutige Studentin an einer Uni im US-Bundesstaat Georgia von ihren weissen Kommilitonen und Kommilitoninnen vom Campus gejagt worden. Wollenberger rief die «Nebelspalter»-Leserschaft auf, den «Pigmentfanatikern» einen Strich durch die Rechnung zu machen und Geld zu spenden, um Charlayne ein Studium in der Schweiz zu ermöglichen. Die Aktion wurde ein grosser Erfolg. Nur war unterdessen auf direkte Intervention von Präsident Kennedy Charlaynes Studium trotzdem ermöglicht worden, und Wollenberger schlug vor, das gesammelte Geld sonstigen guten Zwecken zukommen zu lassen. Ihm war unter anderem zu Ohren gekommen, dass sich ein Oltner Industrieller, der Kraftwerkdirektor Charles Aeschimann, für tibetische Flüchtlingskinder einsetzte. Aeschimann sei, erzählte Wollenberger, während einer Indienreise auf einen kleinen Tibeter gestossen, der sich im Basar von Delhi von Abfällen und Bettelei ernährte. Der erschütterte Direktor habe den Dreijährigen in die Schweiz geflogen und ihn in seine Familie aufgenommen. In der Zwischenzeit seien viele tibetische Kinder in einem Kinderheim im nordindischen Dharamsala untergebracht worden. Das Heim sei aber überfüllt und die Versorgung katastrophal, und Aeschimann suche weitere Schweizer Pflegfamilien. «Der Dalai-Lama», schrieb Wollenberger, «ist damit einverstanden. Er möchte einmal, wenn sein Land wieder frei von kommunistischen Henkern ist, aus diesen Kindern die Elite des Staates machen.» Noch mehr Geld wurde aufs Postcheckkonto des «Nebelspalters» einbezahlt, für Flugbillette und überhaupt, und 40 Familien meldeten sich spontan, «Tibeterchen» in Obhut zu nehmen. Aeschimann begann den Papierkrieg mit der Fremdenpolizei und wählte die Familien aus, die seiner Meinung nach geeignet waren. Er fand sie fast ausnahmslos in sogenannten besseren Kreisen. Darunter befanden sich auch Dr. Hans Graber, Biologielehrer, und seine Frau Ruth Graber, Lehrerin, Eltern von vier Kindern.

Im nepalesischen Exil gab es kaum Nahrung, das Klima war ungewohnt heiss und feucht, viele Flüchtlinge starben, auch Youdens viertes und jüngstes Kind. Das Bild des Priesters, der den kleinen Körper auf ein Holz gebunden und dem Fluss übergeben hat, blieb wie ein Tattoo in Tibis Gedächtnis haften. Nach einem Jahr brach Youdens Familie zusammen mit anderen erneut auf. Sie hatten gehört, dass der Dalai-Lama im nordindischen Dharamsala sein neues Domizil aufgeschlagen hatte und dort für sein Volk sorgen würde. Der Weg führte durch chinesisch besetztes Gebiet. Die Männer wurden verhaftet und erst nach drei Tagen den weinenden Familien zurückgegeben. Sie hatten geschworen, sich auf einer Pilgerreise zu befinden. Über abgründige Pfade und vereiste Pässe gelangten sie nach Katmandu und von dort, im Frühjahr 1962, nach Dharamsala. «Gut, dass ihr da seid», empfing sie der Dalai-Lama. «Die Kinder besuchen hier die Schule, und die Grossen bekommen Ausweise, damit sie arbeiten können.» Die schwangere Youden und ihr Mann gaben Tibi und seine zwei Brüder im Kinderhaus von Dharamsala ab, bestiegen kurz darauf einen Lastwagen und fuhren nach Kulu. Die Flüchtlinge bauten die Höhenstrasse nach Ladakh, der gebirgigen Grenzregion zu China, auch Klein-Tibet genannt. Sieben Jahre lang zertrümmerte Youden Steine zu Schotter, schleppte Körbe voll Sand und wärmte in den kalten Nächten im Zelt ihr fünftes Kind. Als es fünf wurde, brachte sie es ebenfalls ins Kinderheim. Bald darauf hörte sie, dass es gestorben war. Der Mann war bereits nach einem Jahr ins indische Militär eingerückt. Eine Order des Dalai-Lama.

Youden hat ein Kinderfoto von Tibi auf den Tisch gelegt. Sie trägt es immer bei sich. «Für mich ist die Zeit stehengeblieben», sagt sie leise, «er blieb für mich ein Bub.» Ihre Stimme ist hell und singend wie die eines jungen Mädchens. «Müetti», fragt Tibi, «hast du gewusst, dass meine Mutter nicht gefragt wurde, ob sie ihr Kind weggeben will?» «Nein», antwortet Frau Graber, «das haben wir nicht gewusst.»

Im August 1961 waren die ersten 16 Kinder der Aktion Aeschimann auf dem Flughafen Kloten gelandet. Bis 1964 sollten es 158 sein. Das Kinderheim Dharamsala bekam in der Folge immer wieder Post aus der Schweiz. Sie enthielt Fotos mit lachenden Tibeterkindern in weissen Hemden unter blühenden Apfelbäumen. Tibi sah sich die Bilder immer wieder an. Im Heim war das Essen knapp, die Kinder schlangen es herunter, damit es kein anderes stehlen konnte. Wenn eine Kleidersendung eintraf, wurde sie auf einen Haufen gelegt, und nur die Stärkeren konnten sich eine Hose erkämpfen. Die Sitten waren hart, und Krankheiten grassierten. Tibi hatte überdies seine Mutter seit ihrer Abreise nicht mehr gesehen. Dreimal hatte sie genug Geld zusammengekratzt, um ihn zu besuchen, jedesmal war er gerade woanders. Er war ein lebendiges und flinkes Kind und wurde deswegen in die Tanztruppe des Kinderheims aufgenommen. Ein Mitglied der Tanztruppe zu sein war ein Privileg, das eigentlich nur den Sprösslingen noblerer Familien zustand. Als 1963 wieder einmal Kinder ausgesucht wurden, um in die Schweiz zu fliegen, fragte man wie immer zuerst diejenigen der Tanztruppe. Tibi streckte sofort auf.

«Wir hatten drei Mädchen und einen Sohn», sagt Frau Graber. «Ein Bub, dachten wir, würde noch gut passen.»

Der Brief, in dem eine Tante schrieb, dass Tibi in ein Land gehen würde, wo Weisse leben, wurde Youden an die Arbeit gebracht. Nachdem er ihr vorgelesen worden war, legte sie den Hammer auf den Boden, band sich den Kleinen, der immer neben ihr mit den Kieseln spielte, auf den Rücken und bestieg den nächsten Bus. In zwei Tagen war sie in Dharamsala. Sie weinte und war wütend und verzweifelt, und es nützte nichts. Tibi war schon weg. Die Leiterin des Kinderheims, eine Schwester des Dalai-Lama, zeigte ihr Fotos eines schönen Landes, beteuerte, dass bald Briefe eintreffen würden, versicherte, dass man ihn nicht weggegeben, sondern nur zur Ausbildung fortgeschickt habe. Danach werde er heimkehren. Als sie wieder im Strassencamp ankam, brach sie zusammen. Wir sind Flüchtlinge, schrieb ihr der Mann aus der Militärkaserne, der ebenfalls nichts vom Weggang seines Sohnes gewusst hatte, wir dürfen keine Ansprüche stellen, vielleicht ist es ein Glück für ihn.

Ganz «vertrüdelet», verwirrt sei Tibi angekommen, erinnert sich Ruth Graber. «Ich fühlte mich hereingelegt», antwortet Tibi.

Zum Abschied in Delhi spendierte jemand den Kindern eine Glace. Weil Tibi noch nie etwas Ähnliches gesehen hatte und weil seine Kopfhaut brannte wie Feuer, schmierte er sich das Eis in die Haare. Es kühlte und tat gut. In Kloten warteten die neuen Eltern. Die Kinder stellten sich ihnen gegenüber in einer Gruppe auf. Sie rochen ziemlich übel. Die jungen tibetischen Begleiterinnen hatten sie vor der Flugzeugtoilette gewarnt. Sie sollten sich nicht auf die Schüssel setzen, sonst würden sie ins Loch hinuntergesaugt. Keines hatte daraufhin das Klo betreten. Einzeln wurden die Kinder aufgerufen und ihrer Schweizer Familie zugeführt. Tibi, der geglaubt hatte, er würde mit den Kindern von Dharamsala zusammenbleiben, geriet zuerst durcheinander und schliesslich in Panik, als immer mehr seiner Gefährten verschwanden.

Er begann zu schreien. Children, children, schrie er, man hatte ihnen vor dem Abflug ein paar Brocken Englisch beigebracht, Kinder, schrie er zuerst auf englisch und dann auf indisch, weil seine neuen Eltern ja Ausländer waren, und er war nicht zu beruhigen. Er hörte auch nicht auf, als sie ihm im Auto eine Banane reichten, und wurde erst ruhig, als er auf dem Schoss eines seiner neuen Geschwister einschlief. Zu Hause angekommen, fing er von neuem zu schreien an, obwohl Frau Graber Reis gekocht hatte, damit er sich etwas heimisch fühle. Der herbeigerufene Hausarzt drückte am Bauch herum, tippte auf Blinddarm und veranlasste eine Spitaleinweisung, auch wegen des Ausschlags an Kopf und Körper. Man schnitt ihm den Bauch auf und nahm den Blinddarm heraus, obgleich er nicht entzündet war. Sicher ist sicher. Er blieb drei Wochen im Spital. Jedesmal, wenn Grabers ihn besuchen kamen, packte er sein Köfferchen. Er dachte, sie kämen ihn holen und brächten ihn zu den anderen Kindern. Weil er dann immer so enttäuscht war und fürchterlich weinen musste, kamen sie erst wieder am Tag seiner Entlassung.

«Ich habe nach zwei oder drei Jahren zum ersten Mal von dir gehört», sagt Youden sanft. «Nein», wehrt sich der Sohn, «bestimmt dauerte es nicht so lange.» «Ich hatte das Gefühl, es sei eine unendlich lange Zeit gewesen. Der Brief kam über die Tante. Ein Foto war drin von dir. Dein Gesicht war noch genau gleich. Du trugst eine seltsame Mütze und einen Rucksack.» «Das war mein Schultheek.» «Immer wenn ich lange nichts von dir hörte, hatte ich Angst, du seist gestorben und ich sähe dich nie wieder. Drei Mal am Morgen und drei Mal vor dem Schlafengehen bin ich vor dem Altar niedergekniet. Jeden Tag, all die Jahre. Bei jedem Gebet warst du in meine Wünsche eingeschlossen.»

Alle Pflegefamilien verpflichteten sich Aeschimann gegenüber, dass sie die ihrer Obhut anvertrauten Kinder weder christlich erziehen noch taufen, noch adoptieren würden. Die Muttersprache sollte gepflegt und die buddhistische Tradition erhalten werden, um die Kinder nicht von ihren Wurzeln abzuschneiden. So war es zwischen Aeschimann und dem Dalai-Lama abgemacht worden. Monatlich stattfindende Schulen unter der Leitung von Lamas, tibetischen Geistlichen, wurden eingerichtet. Man organisierte Sommerferienlager, um den Kontakt der kleinen Tibeter untereinander nicht abreissen zu lassen. Das Buch von Heinrich Harrer, «Sieben Jahre in Tibet. Mein Leben am Hofe des Dalai- Lama», wurde von den Pflegeeltern fleissig studiert. Eine Gratisvorstellung des Circus Knie für die Pflegekinder und ihre Schweizer Familien im Jahr 1964 feierte der «Nebelspalter» als «Rendezvous der Tibeterli».

Überhaupt genossen die Tibeter grosse Sympathien. Der Bundesrat bewilligte 1963 die Einreise von 1000 Flüchtlingen, das grösste Kontingent der westlichen Welt. Es herrschte kalter Krieg, und eine uralte Kultur war von gottlosen kommunistischen Stiefeln niedergetrampelt worden. Das Land erinnerte mit den hohen Bergen und dem Schnee an die Schweiz, und die vertriebenen Hirten und Bauern weckten in ihrer heiteren Demut und Frömmigkeit die Sehnsüchte nach einer Welt so heil wie in den Gotthelf-Romanen und so heroisch wie in den SJW-Heftli. Verständnisvoll wurde geschmunzelt, wenn einige nicht einsehen wollten, dass man hierzulande nicht in Kleid und Schuhen, sondern im Pyjama schläft. Weggesteckt wurde, als sich bei der amtlichen Registrierung herausstellte, dass da ein Tibeter zwei Ehefrauen und dort eine Tibeterin gar zwei Ehemänner hatte.

Das Pestalozzi-Dorf, das Schweizerische Rote Kreuz und der Verein Tibeter-Heimstätten engagierten sich ebenfalls für die Flüchtlinge. Letztere aber schauten, dass die tibetischen Kinder zusammen mit ihren richtigen Familien im Exil leben konnten. Bei vielen Pflegeeltern Aeschimanns löste jedoch die Idee, die leiblichen Eltern ihrer Schützlinge in die Schweiz kommen zu lassen, alles andere als Freude aus. Eine Pflegemutter schrieb in Aeschimanns Mitteilungsblatt für Pflegeeltern (Juli 1964): «Es ist sicher leicht zu begreifen, wie tragisch das für unsere Familie wäre. Ist es eigentlich nicht wie ein kleines Wunder zu betrachten, dass sie sich hier so gut assimilierten? Das brachte vor allem die gegenseitige Liebe zustande. Jeder gute Gärtner weiss, dass man Pflanzen nicht unbeschränkt umtopfen darf; sie gehen daran zugrunde. Auch wenn die in die Schweiz eingereisten Tibetereltern ihre Kinder nicht zurückfordern wollten, entständen Konflikte. Unternehmen Sie alles, um es nicht soweit kommen zu lassen!» Und die Redaktion merkte an, man sei überzeugt, «dass den Kindern ein schwerer Schaden zugefügt würde, wenn sie aus der Gemeinschaft einer Schweizer Familie in ihren eigenen Familienkreis zurückversetzt würden».

1968, rund fünf Jahre nach ihrer Ankunft in der Schweiz, konnten nur noch zehn Prozent der 157 Pflegekinder in ihrer Muttersprache sprechen. Dies ergab eine von Aeschimann gemachte Umfrage. 131 der Kinder wurden christlich, zwei anthroposophisch, eines jüdisch und nur 13 buddhistisch erzogen. Und im Jahr 1972 waren bereits 48 der Pflegekinder getauft. Die Pflegeeltern hiessen eben nicht Thupten, Tretung oder Namdak, sondern Nietlisbacher, Hugentobler und Äppli, die Gute-Nacht-Geschichte wurde auf schweizerdeutsch erzählt, und die Herzen der Pflegemütter schlugen zwar warm, aber nicht buddhistisch.

Sie wisse nicht mehr, wie fleissig die Korrespondenz geflossen sei, meint die Pflegemutter, aber eine Zeitlang wollte er überhaupt nicht mehr schreiben, es war ihm zuviel Arbeit. Ja, sagt die leibliche Mutter, schlimm seien sie gewesen, diese Zeiten ohne Kontakt. Aber als Schulkind sehe man nicht alles, was wichtig sei. Er habe viel zu tun gehabt. «Ich war ein liederlicher Schreiber», gibt Tibi zu, «doch du warst so weit weg, und ich wollte so viel sagen, und das ging nicht. So schmiss ich den Brief weg und dachte: das nächste Mal dann…»

Tibi heisst eigentlich Lhundub Tsering. Als der Siebenjährige neu in der Schweiz war und die Sprache noch nicht verstand, kam er auf dem Weg in die Schule immer an einem Bauernhof vorbei. Die Bäuerin hatte Freude an dem Jungen mit den kirschenschwarzen Schlitzäuglein und machte jeweils «Tibitäbi». Weil ihm das besser gefiel als «Lumpehund» und «Isegrind», welches ihm die Kinder nachriefen, entschied er sich für den Namen Tibi. Am wenigsten gefiel ihm die Bezeichnung «Chines». Die Schweizer Kinder schlugen nicht ins Gesicht. Er schon. Das verschaffte ihm Respekt. Nun nannten ihn alle Tibi, und die Stärksten wollten seine Kollegen sein.

«Du hattest Jähzornausbrüche. Die haben sich mit der Zeit gelegt und kamen erst wieder in der Pubertät.» «Ich war wild und unbezähmbar. Ich glaube, ich war damals oft einsam. Sie können mich gleich behandeln, dachte ich, aber es nützt nichts. Ich bin nicht ihr Sohn, und ich werde es nie sein. Ein Blick in den Spiegel reichte. Ich war eifersüchtig. Immer wenn ich im Bett weinen musste, kam mir meine Mutter in den Sinn. Warum hatte sie mich weggegeben? Ich versuchte diese Gefühle zu verscheuchen, aber ich hatte Angst im Dunkeln und schlimme Träume. Hier, wo ich Ruhe hatte, kam alles hoch. Bilder von der Flucht, deutlich wie Dias. Ich erwachte schweissgebadet und glaubte, meine Eltern seien tot. Schreib deinen Eltern, sagtest du. Ich kann dir nichts vorwerfen. Aber wenn die richtigen Eltern dagewesen wären, hätten sie beruhigen können, sie hätten gewusst, von wo dies alles kam.»

«Mutter, wie war ich als Kind?» Youden schaut auf das Kinderfoto und lacht: «Du warst ein Plapperi. Unaufhörlich hast du geredet. Überall und mit jedem. Dein älterer Bruder war ruhig, und du hast gleich noch für ihn gesprochen. Das war das Wesen deines Vaters, der hat Handel getrieben und das Reden beherrscht. Ein schönes Leben hast du gehabt, den ganzen Tag gespielt. Und Schwarzauge haben wir dich genannt wegen deiner dunklen Augen.»

Sie hätten es halt gerne gesehen, sagt Frau Graber, wenn Tibi die Matura gemacht hätte. Er war aufgeweckt, aber auch froh, dass mit dem Abschluss der Sekundarschule das Stillsitzen ein Ende nahm. «Denk an deine Zukunft. Werde Maurer», hiess es in den frühen 70ern auf Plakaten. Tibi hatte es auch gelesen. Er beschloss, Maurer zu werden. Professor Graber überwand sich und verhandelte mit den Maurermeistern der Umgebung über eine Lehrstelle für seinen Pflegsohn. Frau Graber, Lehrerin in der dritten Generation und Mutter dreier zukünftiger Lehrerinnen, seufzte, na gut, in der Baubranche kann man ja auch aufsteigen, die Polierschule soll gar nicht so schlecht sein. Tibi beendete mit Würgen die Lehre und schmiss sie nur deshalb nicht, weil ihm Vater Graber den Vertrag vorgelegt hatte, worin er dem Dalai-Lama versprach, für die Ausbildung des Pflegkindes zu sorgen. Dieses hatte seit einiger Zeit nur noch einen Gedanken: so schnell wie möglich nach Indien zu fahren.

Einige der mittlerweile jugendlichen Pflegekinder hatten von Aeschimann eine Liste angefordert und Kontakt zueinander aufgenommen. Die Tibeterschulen waren immer weniger besucht worden. Die Kinder hatten ihr Ursprungsland mit der Mission verlassen, sich zur Elite auszubilden und heimzukehren. Jetzt waren alle mit der unlösbaren Aufgabe beschäftigt, Schweizer zu werden, und die Heimat verflüchtigte sich zur nebulösen Idee. Das runde Dutzend Halbwüchsiger mietete einen Raum und versuchte sich zu erinnern, wer sie alle eigentlich waren. Während sie lachten und diskutierten und Pläne schmiedeten, spürten sie, dass sie zerrissen waren. Wo sie lebten, fühlten sie sich innerlich nicht zu Hause. Sie gebrauchten untereinander dieselben Worte wie die Pflegeeltern und die Nachbarn, aber man hörte ihnen das Ausländische an. In ihren Sätzen schwang ein fremder Klang. Der Klang eines Liedes, das ihnen zutiefst vertraut und zugleich unerreichbar fern war. Herkunft.

Mit der Erinnerung kam die Sehnsucht. Die Jugendlichen gründeten eine Zeitschrift. «LAM» hiess sie, «Weg». Der Titel beinhalte, schrieben die Redaktoren, «den gemeinsamen WEG von uns Jugendlichen zu einem Selbstverständnis». Die Hefte handelten von der Geschichte Tibets, von Religion und Politik, von der Rückkehr nach Indien, auch von Persönlichem. In einem Bericht schildert ein Junge, wie er nach elf Jahren Trennung seinen Eltern zum ersten Mal wieder gegenübersteht.«Es ist zu erwarten», hatten die Zeitungsmacher in der ersten Nummer geschrieben, «das die von uns aufgezeigten WEGE nicht immer geradlinig auf ein Ziel hin tendieren».Tibi besuchte unterdessen jedes Wochenende eine tibetische Familie in Rikon, wo auch das tibetische Kloster stand. Grabers unterstützten ihn und staunten, als sie ihn eines Tages am Telefon tibetisch sprechen hörten. Sie hatten geglaubt, er hätte es vergessen. Kaum hatte er 1976 die Lehre fertig, reiste er als 20jähriger mit einem Freund aus der «LAM»-Clique nach Indien.

Seine Mutter hatte bis 1969 im Strassenbau gearbeitet und war dann ins südindische Bylakuppe gezogen. Der Vater verliess das Militär zwei Jahre später und lebte wieder mit ihr zusammen. Das Dorf war ursprünglich ein Stück Urwald gewesen. Die indische Regierung hatte dieses den Tibetern zur Verfügung gestellt, und es war von den Flüchtlingen gerodet und schliesslich besiedelt worden. Tibi hatte seinen Besuch angekündigt und geschrieben, er werde nach seiner Ankunft noch zwei Wochen in Delhi bleiben, bevor er nach Bylakuppe hinunterfahre. Darauf hatte Youden einen bösen Traum. Sie ging anderntags zur Wahrsagerin und bekam zu hören, dass ihr Sohn in Schwierigkeiten geraten könnte. Sofort machte sich der Vater auf den Weg. 60 Stunden später wurde Tibi in Delhi von seinem Freund geweckt. «Steh auf», sagte der, «wasche dich, da ist ein Mann, der behauptet, er sei dein Vater.» Tibi rieb sich den Schlaf aus den Augen und wandte sich zur Tür. Dort stand ein grosser Kerl. Der schaute ihn an, nahm seine Hand, legte die Stirn an die seinige und heulte los. Tibi bekam einen trockenen Mund, schluckte leer, wischte ein paar Tränen weg und klopfte dem Mann, der sein Vater war, auf die Schultern. Gut jetzt, es ist ja gut. Zusammen fuhren sie zur Mutter.

«Du standest in der Küche und warst verlegen. Ich fühlte mich aber sofort nahe, und es war mir wohl.» «Unbegreiflich war mir, dass ein solcher kam. Du warst zwar mein Sohn, aber in meinem Kopf hatte ich das Bild des Kleinen.» «Wir schwatzten drauflos, den totalen Blödsinn. Du fragtest, wie es mir in der Schweiz ergangen sei. Ich erzählte irgend etwas von der Reise. Du wolltest jenes wissen, und ich redete von etwas ganz anderem. Die anderen hielten sich die Bäuche. Ich verstand kaum ein Wort. Du sprachst in deinem Dialekt.»

Weitere Besuche in Indien folgten. 1978 flog er hin, als der Vater starb, und noch einmal drei Jahre danach. Dann erst wieder 13 Jahre später. Das Wiedersehen hatte einen Kreis geschlossen, aber auch vieles aufgewühlt. Seine Gefühle empfanden tibetisch, seine Augen aber blickten europäisch. Es war ihm nicht möglich, sich vor den Lamas auf den Boden zu werfen, wie es der traditionelle Respekt verlangte. Er war unfähig zu glauben, dass der Dalai-Lama Regen macht, konnte die Wortgläubigkeit nicht teilen und bemerkte statt dessen die Verquickung von Religion und Geschäftemacherei. Als er all dies seiner Mutter erzählte, schaute sie ihn mit ihrem lieben Gesicht an und erwiderte: «Du kannst nichts dafür, mein Sohn, du bist unwissend, weil du nicht bei uns aufgewachsen bist.» Er war tief glücklich, seine Familie wiedergefunden zu haben, und gleichzeitig ahnte er, dass er sie verloren hatte. Sie akzeptierten ihn vorbehaltlos, aber sie verstanden ihn nicht. Er würde nie wirklich dazugehören. Wie in der Schweiz. Es war ein Gefühl der Bodenlosigkeit.

«Manchmal ging ich dich suchen, wenn ich lange Zeit nichts mehr von dir gehört hatte.» Die Pflegemutter redet wie zu sich selber. «Wenigstens hattest du die Lehre abgeschlossen. Du konntest dich anpassen, man hatte dich überall gerne. Aber du wolltest dich nirgendwo festlegen. Du hast keinen Vertrag unterschrieben, warst nirgends zu Hause, gingst keine Bindungen ein und hast auch nie begriffen, warum man Steuern bezahlen soll. Da war diese Unrast in dir drin.» Frau Graber hält einen Moment inne und schaut nach draussen, in den Garten, wo ihr verstorbener Mann immer so gerne gearbeitet hatte und wo der Wind die letzten verdorrten Blätter von den Ästen weht. «Wir erklärten es uns mit der Verwurzelung in deinem Volk. Ein Nomadenvolk in einem kargen Land. Es lebt von der Hand in den Mund. Wenn das Vieh nichts mehr zum Essen findet, dann zieht man weiter.»

Meistens arbeitete Tibi als Gerüstebauer. Er war behende und kräftig, ihm passte die Arbeit im Freien. Wenn irgendwo in der Höhe ein besonders kniffliges Rohr verschraubt werden musste, hiess es: Schicken wir den Indianer. Der Umgang war rauh und schwielig, wie unter Seeleuten, stellte sich Tibi vor, und man gehörte sofort dazu, wenn man zupacken konnte. Man zog das Gestänge hoch, fertig, und dann zum nächsten Ort. Das Herumschweifende, das Aufrichten von Provisorien über dem Nichts entsprach seiner inneren Verfassung. Er hatte nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren. Er liess sich treiben.

Die Eltern Graber wünschten sich, Tibi würde sich mit einer Tibeterin zusammentun. Für den nötigen Halt. Sie schauten sich fassungslos an, als Ende der 80er Jahre ein Brief von Tibi eintraf. Absenderadresse war das Untersuchungsgefängnis. Die Polizei hatte ihn wegen illegalen Drogenkonsums und -handels verhaftet, und er schrieb, dass es ihm leid tue, ihnen das mitteilen zu müssen, sie seien ihm gute Eltern gewesen, und er sei bereit, die Konsequenzen für sein Tun zu tragen. Der Richter war milde und liess ihn auf Bewährung laufen. Tibi stieg wieder auf die Gerüste.

«Ja, du hast es mir erzählt», sagt Youden mit ihrer singenden Stimme, «es war ein schlechtes Jahr für die Sippe. Es gab keinen Regen, und die Ernte fiel aus. Der Bruder ging mit dem Geld der letzten Ernte nach Tibet, um Geschäfte zu machen. Die Chinesen nahmen ihm die ganze Ware ab. Wir mussten beim Kloster Schulden machen. Und die Tochter des Bruders kam mit kranken Augen zur Welt.»

Für Tibi waren die Wochen in der Gefängniszelle eine Gelegenheit zur Bilanzierung gewesen, eine Art Meditation. Er kam zum Schluss, sein Leben als Schicksal zu akzeptieren, als Karma, das vielleicht etwas verzwickter war, durch das er aber durch musste. Zwei Väter und zwei Mütter, zwei Kulturen in einer Brust zu tragen brauchte viel Energie. Hatte man die nicht, stürzte man tief. Es öffnete aber auch Freiheiten, man musste selber entscheiden, war stärker. Tibi fühlte, dass nichts und niemand ihn mehr verführen konnte. Es war ihm auch plötzlich klar, dass er seine Mutter herholen würde. Nicht nur, damit sie sich keine Sorgen mehr machen muss-te, ob er auch wirklich genug zu essen und ein anständiges Dach über dem Kopf hatte. Sie sollte seine Pflegemutter kennenlernen. Sie musste kommen, damit sie sich bildhaft vorstellen konnte, von was er redete, damit sie besser verstand, warum er anders war.

Sie war noch nie in einem Flugzeug gesessen und hatte sich einen dicken Schal um den Kopf gewickelt. Jemand im Dorf hatte Youden gesagt, das Dröhnen in so einer Maschine übersteige alles Ertragbare. Nach ihrer Ankunft in Zürich-Kloten konnte sie zwei Tage lang kalt und heiss nicht mehr unterscheiden, und ihr Kopf war wie leer. Ihre Seele sei immer noch im Himmel oben, meinte sie. Tibi führte sie in die Kneipen, in denen er jahrelang seinen Baulohn gegen Flüssiges eingetauscht hatte, er stellte sie seinen Freunden vor, er zeigte ihr seine neue Arbeitsstelle im Heim für behinderte Kinder, alles sollte sie sehen und wissen, was sein Leben hier ausmachte. Er genoss es, am Abend nach Hause zu kommen, seine Mutter anzutreffen und mit ihr in die Nacht hinein zu plaudern. Über Tibet, über die Familie, über das Leben und den Tod, über die Wanderungen der Seele. Drei Monate lang, die Dauer eines Visums, hörte er sich ihre Geschichten aus einer Welt an, die nicht mehr die seine war, die ihm aber trotzdem Kraft gibt.

Er hatte ihr auch sein Kinderzimmer gezeigt. Youden blieb auf der Schwelle stehen und murmelte etwas, das klang wie ein Gebet. Als sie wieder in der Stube der Grabers sassen, sprachen sie nicht mehr. Die zwei Frauen wirkten müde, sie schauten sich in die Augen, schienen über etwas zu sinnieren. Dann standen beide auf, gleichzeitig, wie auf Vereinbarung. Auch der Sohn erhob sich. Die Mutter ging auf die Pflegemutter zu, verneigte sich, legte ihr eine weisse Schärpe um den Hals und berührte mit ihrer Stirn die Stirn der anderen.

«Vielen Dank», sagt sie daraufhin, «ich danke dir, dass du für meinen Sohn ab seinem siebten Lebensjahr geschaut hast.» Dann herrscht für einen Moment völlige Stille. Bis Frau Graber den Busfahrplan hervorzukramen und Tibi in seiner Tasche zu nesteln beginnt. Er hat feuchte Augen. Als sie sich verabschiedet hatten und Youden im Bus zu dösen schien, wandte sie sich unvermittelt zu ihrem Sohn und sagte: «Sie ist eine gute Frau. Du solltest sie mehr besuchen. Sie ist jetzt alt.» ·

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