Basler Zeitung

19.07.2013

Hannah Arendt in Jerusalem

Die Banalisierung des Bösen

Von Eugen Sorg

Als vor genau 50 Jahren das Buch der Philosophiedozentin Hannah Arendt «Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen» in New York erschien, löste es eine moralische und intellektuelle Debatte aus, die in ihrer Heftigkeit einmalig war. Autoren beschimpften einander, Freundschaften gingen in Brüche, intellektueller «Bürgerkrieg»(Irving Howe) brach aus. «Die Kontroverse», wie der Streit genannt wurde, ist weitgehend vergessen. Die Fragen aber blieben ungelöst, sind heute aktuell wie damals.

Hannah Arendt war 1963 im Auftrag des Magazins «New Yorker» nach Jerusalem gereist, um über den Prozess des israelischen Staates gegen den SS-Offizier Adolf Eichmann zu berichten. Eichmann, Cheflogistiker der Vernichtung von sechs Millionen Juden, war in einer spektakulären Aktion von Israels Geheimdienst in Argentinien aufgestöbert und nach Europa überführt worden. In der Studie «Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft» hatte die deutsch-jüdische Denkerin das Funktionieren «radikal böser» Systeme wie Nationalsozialismus und Stalinismus zu ergründen versucht. Nun bot sich für sie die Gelegenheit, einen verantwortlichen Akteur aus dem Inneren eines Terrorstaates zu studieren.

Der graue Mann mit Brille, den sie da im Gericht sah, war jedoch weder ein Teufel noch ein Psychopath noch ein Frankenstein. Der Mann im Glaskasten, der operative Leiter des «grössten Unheils unseres Jahrhunderts» war, so kam es ihr sofort vor, ein pflichtversessener Bürokrat, ein feiger, übereifriger Opportunist. «Je länger man ihm zuhörte, desto klarer wurde es, dass seine Unfähigkeit zu sprechen eng mit seiner Unfähigkeit zu denken zusammenhing, speziell mit seiner Unfähigkeit, vom Standpunkt eines anderen aus zu denken.» Eichmann war erschreckend normal, medioker, genau wie Hunderttausende andere, er war ein «Hanswurst», aber kein Monster. «Ausser einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit hatte er überhaupt keine Motive; und auch diese Beflissenheit war an sich keineswegs kriminell, er hätte bestimmt niemals einen Vorgesetzten umgebracht, um an dessen Stelle zu rücken. Er hat sich nur, um in der Alltagssprache zu bleiben, niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte.» Eichmann verkörpere, dies ihr berühmtes Diktum, «die Banalität des Bösen».

Wie jeder Angeklagte, ob Ladendieb, Autoraser oder Massenmörder, hatte Eichmann versucht, seine Verantwortung möglichst klein, Motive möglichst schön zu reden. Er war nicht das ohnmächtige Rädchen des Apparates, der selbstvergessene Beamte, als die er sich darstellte. Er wusste, was er tat. Er war ein fanatischer Judenhasser, Karrierist in einem Vernichtungsstaat, innovativer Kadermann, der noch 1944, als der Krieg praktisch verloren war, die Ausrottung der ungarischen Juden, der letzten intakten jüdischen Gemeinschaft Europas, persönlich organisierte und überwachte. Vor Gericht log er um sein Leben. Dass die kluge Hannah Arendt auf diese durchsichtige Strategie hereinfallen konnte, ist erstaunlich. Ihre Kritiker warfen ihr zu Recht vor, Eichmanns Schuld quasi zum Verschwinden zu bringen und die Shoa zu verharmlosen.

Mit der Exkulpierung des Täters ging eine Trivialisierung des Begriffs des Bösen einher. In ihren Studien zum Totalitarismus sprach Arendt noch vom «radikal Bösen» mit metaphysischer Dimension. Seit dem Eichmann-Prozess erklärte sie, das Böse sei ein «Oberflächenphänomen», «extrem», das zwar «die ganze Welt überwuchern» könne, «wie Pilze auf der Oberfläche», aber ohne jede Tiefe. Sie reflektierte so eine sozialphilosophische Position, die gesellschaftliche Verhältnisse als allein ausschlaggebend für individuelle Lebensentwürfe und Entscheide ansah. Moral, Ängste, Träume, Obsessionen, alles sind Funktionen von übergeordneten gesellschaftlichen Prozessen. So würde in der Moderne das Böse nicht mehr in der Gestalt der Gewaltherrscher oder Bürokraten auftreten, sondern in Form von Mitläufern. Die vorherrschende Existenzform sei jene der entfremdeten Massen, Kleinbürger ohne höheren Lebenssinn, stets bereit, ihre Unabhängigkeit für eine Bewegung aufzugeben, die ihnen Ziel, Illusion einer Wahrheit und Heimat gibt. So wie Eichmann, «Sohn déclassé einer soliden Mittelklasse-Familie», bei den Nazis einen Sinn gefunden habe, gedankenlos, konformistisch, jenseits von individuellem Gewissen und Verantwortlichkeit.

Die arendtsche These von der «Banalität des Bösen», so leicht widerlegbar sie war, entfaltete Ende der 1960er-Jahre in vulgarisierter Form ein unvorhergesehenes Eigenleben. Sie wurde populär bei der akademischen Jugend, die in ihr eine moralische Absolution zu finden glaubte für den Aufstand gegen Professorenautorität, Universitätshierarchie, Staatsordnung, das Prinzip Autorität an sich. Nazischergen, Turn­lehrer, südamerikanische Folteroffiziere, Haus­abwarte, Väter, US-Soldaten in Vietnam, Polizisten – sie alle stünden unter dem Bann desselben archaischen Herrschaftsaxioms. Nur eine pädagogische und kulturelle Umwälzung vermöge die fatale Verzahnung von Eichmannschem Sozialcharakter und gesellschaftlicher Unterdrückung aufzubrechen und künftiges Unheil zu verhindern. Arendt, die 1975 starb, blieb auf Distanz zu den studentischen Rebellen. Für die Philosophin waren Autorität und Freiheit keine Gegensätze.

Seit «Eichmann in Jerusalem» haben zwei Genozide und mehrere verheerende Bürgerkriege gewütet, weitere finden aktuell statt, die meisten ausserhalb Europas und Amerikas. Die «entfremdeten» und «bourgeoisen» Gesellschaften des Westens dagegen haben sich gut gehalten, haben allen totalitären Versuchungen widerstanden, die «einsame Masse» benimmt sich meistens vernünftig, sozial, politisch. Ob einer ein Eichmann, ein Karadzic oder ein Mandela wird, Mörder oder Held, kann man nie voraussagen. Nicht die Verhältnisse entscheiden letztlich über die Wahl von Gut oder Böse, sondern der Einzelne selbst mit seinem Gewissen.

Nach oben scrollen