Basler Zeitung

24.05.2013

Warum sich der Westen genau überlegen muss, ob er in Syrien eingreifen soll

Politik des Entsetzens

Von Eugen Sorg

Gräuelnachrichten aus Syrien häufen sich, das geschichtsträchtige Land zwischen Mittelmeer und Euphrat ist auf der Fahrt in die Hölle. Anfang dieses Monats sollen Schergen des Diktators Assad in der Region von Tartus ganze Familien mitsamt Kindern umgebracht und massenhaft Frauen vergewaltigt haben. Kurze Zeit später ­kursierte im Internet eine Videoaufnahme, auf der zu sehen war, wie Rebellen gefangen genommene, gefesselte Regierungssoldaten mit einem Messer köpften.

Und letzte Woche tauchte ein neues Video auf: Es zeigt den Rebellenführer Abu Sakkar, der einem getöteten Soldaten den Brustkorb aufschneidet, ein Organ herausnimmt, sich zur Kamera hindreht und «bei Allah schwört», dass er und seine Männer allen Soldaten des «Hundes Assad» die «Herzen und Lebern» herausreissen und essen werden. Darauf beisst er in das blutige Organ, das nach nüchterner Einschätzung medizinischer Experten zwar eher wie eine Lunge als wie ein Herz aussah. Später prahlte er vor einem Reporter des Magazins «Time» damit, dass er einen anderen Soldaten mit einer Säge in Stücke zerteilt habe.

Das westliche Publikum reagiert schockiert und verstört auf solche Meldungen. Der Prozess der Aufklärung und der Moderne hat zu einer Ablehnung von Brachialgewalt geführt. Das Verstümmeln und Schänden von Körpern, brutale Strafveranstaltungen und Blutrituale wurden aus der öffentlichen Sphäre verbannt und zivilisatorisch geächtet. Wird der Westler trotzdem mit solchen Szenen konfrontiert, kann er die Vorkommnisse nicht in seinem Weltbild einordnen. Er neigt dazu, sie als isolierte Einzelfälle schnell weg zu vernünfteln und bald wieder zu vergessen.

Dabei hätten die politischen und kriegerischen Verwerfungen nur schon der jüngeren Zeit genügend Anschauung geboten, naive Vorstellungen über die menschliche Natur und verbreitete romantische Träume über die Weisheit fremder Kulturen und Religionen zu korrigieren. Hinter der Exotik lauert oft die Barbarei. Anfang der Neunziger zum Beispiel kämpften kriegerische somalische Clans um die Macht im Land am Horn von Afrika. Hunderttausende Männer, Frauen und Kinder waren vom Hungertod bedroht oder bereits gestorben. Um die Katastrophe zu stoppen, die Tausende Kilometer entfernt auf einem anderen Kontinent stattfand, intervenierten die Amerikaner. Sie hatten keinerlei strategische oder wirtschaftliche Motive. Grund des gigantischen ­humanitären Unternehmens waren die schreck­lichen Bilder der ausgemergelten Kinder, Hungergespenster mit weit aufgerissenen Augen.

Das Militär flog und schiffte Tonnen von kostenlosen Nahrungsmitteln und medizinischem Material herbei. Bald schon aber wandten sich die Clans gegen die Retter. Sie raubten Hilfsgüter, Fahrzeuge, töteten Blauhelme der UNO. Eine amerikanische Bestrafungsaktion endete im Fiasko, 18 GIs fanden den Tod. Als ihre entkleideten und verstümmelten Leichen an einem Strick durch die Strassen Mogadischus geschleift wurden, schlossen sich dem Zug unzählige jubelnde und tanzende Frauen und Kinder an. Bald danach zogen die Amerikaner wieder ab. Unter den Abermillionen Menschen, die diese Ereignisse verfolgt hatten, war auch Osama bin Laden, der damals in Khartum im Exil lebte. Seine Lehre aus den Geschehen: Die Amerikaner sind schwach. Kaum tötet man ein paar ihrer Leute, laufen sie schon davon.

Zu einem Teil lassen sich die barbarischen Akte aus der Kriegssituation erklären. In dieser sind die Gesetze, die im zivilen Leben gelten, ausser Kraft gesetzt. Die Tötung des Feindes ist die Voraussetzung des eigenen Überlebens, dessen Vernichtung und Einverleibung ist der ultimative Triumph. Aber die Scheusslichkeiten auf den Killing Fields verdanken sich nicht nur der schnellen Verrohung von unter Hochstress agierenden Kriegern. Der kannibalistische Auftritt des syrischen Kommandanten, das Aufspiessen von abgeschnittenen Köpfen auf Stangen mitten in Kabul durch afghanische Mujaheddin, das Häuten von lebenden Gefangenen durch Taliban, die auf Video aufgenommenen und via Youtube über die Welt verbreiteten Enthauptungen von «Ungläubigen» durch Al-Qaida-Männer – die ganze demonstrative Präsentation von verunstalteten Körpern und Grausamkeiten gehorcht noch einem weiteren Zweck. Sie folgt einer rationalen Politik des ­Entsetzens. Der Feind soll eingeschüchtert und gelähmt werden.

Diese Tradition der Kriegsführung ist in den vormodernen und tribalen Gesellschaften des Nahen Ostens und Afrikas noch ungebrochen lebendig. Die Römer säumten die Prachtsstrasse Via Appia nach dem niedergeschlagenen Spartakisten-­Aufstand 71 v. Chr. mit 6000 Kreuzen, an jedem ein angenagelter Sklave, zur Abschreckung. Der mongolische Eroberer Tamerlan oder Babur, erster islamischer Grossmogul Indiens – beide machten sich unsterblich durch die Türme, die sie mit den Schädeln der geschlachteten Opfer errichten liessen.

Der arabische Historiker al-Maqqari beschrieb im 17. Jahrhundert, dass die musli­mische Invasion Spaniens durch den Terror ­arabischer Reiter und Seeleute vorbereitet worden sei: «Allah, auf diese Weise wurde eine solche Angst unter den Ungläubigen gesät, dass sie es nicht wagten, sich zu rühren und gegen die Eroberer zu kämpfen; nur als Bittsteller näherten sie sich diesen und flehten um Frieden.»

Das Verhältnis zur Grausamkeit zieht die Trennlinie zwischen archaischen Gesellschaften und westlicher Kultur. Die Ablehnung von Gewalt macht unsere Zivilisation überlegen, wird aber zur Achillesferse, wenn sie dazu führt, dass die Wahrnehmung von Gewalt verhindert wird. Die Decke der Zivilisation ist dünn, und nur ein unsentimentaler Blick auf die ­Realität schützt vor falschen Entscheiden. Zum Beispiel, ob der Westen in Syrien eingreifen soll und wie. In Ägypten wurde Mubarak fallen gelassen. Man sehnt sich bereits wieder nach ihm zurück.

«Die Amerikaner sind schwach. Kaum tötet man ein paar ihrer Leute, laufen sie schon davon.»

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