Die Weltwoche

19.09.2019

Eine Frage der Moral

Die dunkle Seite des Traums

Von Eugen Sorg

Wohin die ungehinderte Selbstverwirklichung beim englischen Ehepaar Fred und Rose West führte.

Spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat in den westlichen Gesellschaften eine noch nie zuvor erlebte grosse Lockerung stattgefunden. Altehrwürdige Traditionen verloren innerhalb von zwei Generationen ihre Geltung, die Kirchen leerten sich, moralische Grenzen, ja die Existenz von Gut und Böse wurden in Frage gestellt. An die Stelle von verbindlichen sozialen Regeln trat zunehmend ein narzisstischer Kult der individuellen Befindlichkeit. Die ungehinderte Entfaltung der geistigen, emotionalen und sexuellen Bedürfnisse, kurz, Selbstverwirklichung, galt als neues Menschenrecht, und die romantische Hippie-Maxime «Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum» wurde mehrheitsfähig und schaffte es, ältere, realistischere Volksweisheiten zu verdrängen, wie etwa: «Träume sind Schäume.»

Ernst genommen und zur Vollendung getrieben wurde die Forderung nach der Verwirklichung der eigenen Träume und Fantasien auch vom englischen Ehepaar Fred und Rose West. Allerdings auf eine aussergewöhnliche Weise. Sie hatten Anfang der siebziger Jahre den Keller ihres Hauses an der Cromwell Street 25 in Gloucester zur Folterkammer umgerüstet, ein de-Sadesches Universum mit Aufhängevorrichtungen, Peitschen, Bandagen, Knebeln, Videokameras. Hier quälten und vergewaltigten die Wests vor laufender Kamera zwischen den Siebzigern und den frühen Neunzigern eine unbekannte Zahl junger Frauen. Die Folterungen konnten eine ganze Woche dauern, bis die Mädchen schliesslich getötet wurden. Nachweisen konnte man zwölf Morde. Man fand die Knochen der Opfer, die Fred im Hof oder im Gemäuer des Hauses vergrub, nachdem er sie zerstückelt hatte. Schätzungen gehen jedoch von bis zu sechzig Morden aus.

Seine Beute fand das Paar meistens unter Autostopperinnen. Die Mädchen stiegen unbesorgt ein, wenn sie sahen, dass eine Frau mit im Wagen sass. Aber die Wests machten auch vor den eigenen acht Kindern nicht halt. Diese wurden brutal misshandelt und von beiden Elternteilen geschändet. Sie mussten sich die Foltervideos anschauen, und als sich die älteste Tochter Heather im Alter von 16 aufzulehnen begann, fesselten Fred und Rose sie im Keller, vergewaltigten sie, töteten sie und vergruben sie im Hof. Über dem Grab errichteten sie einen Barbecue-Grill.

Die Wests waren nicht krank oder psychotisch oder von unkontrollierbaren Dämonen besessen. Warum also begingen sie all diese Schrecklichkeiten? Es gibt keine tieferen Gründe. Sie hatten einen starken sexuellen Appetit und ausgeprägte sadistische Neigungen – Fred erzählte später, dass ihn «der entsetzte Ausdruck auf den Gesichtern erregte» –, und sie entschieden sich aus freien Stücken dafür, alles auszumerzen, was der Befriedigung ihrer Lust im Wege stand: Gesetz, Moral, Scham, Mitgefühl, Menschlichkeit. Sie setzten ihr Begehren und ihre Freiheit absolut und sprachen den anderen Menschen jeglichen Wert ab, ausser deren Nützlichkeit für den eigenen Gebrauch. Hatten diese ihren Zweck erfüllt, wurden sie entsorgt. Die Wests waren radikal böse.

Der permissive Zeitgeist war nicht die Ursache für die Monstrositäten an der Cromwell Street, aber er spielte eine Rolle bei dem Umstand, dass der Albtraum mehr als zwanzig Jahre andauern konnte. Alarmierende Hinweise und Gerüchte gab es immer wieder. Schon früh hatte ein ehemaliges Kindermädchen der Wests der Polizei gemeldet, sie sei von den beiden geknebelt und vergewaltigt worden. Die Wests kamen mit einer Busse von je 25 Pfund wegen Körperverletzung und unzüchtiger Handlungen davon. Sie zogen ihre eigenen Konsequenzen. Ein lokaler Videohändler wiederum, dem Fred Aufnahmen von gefolterten Frauen verkaufen wollte, meldete dies ebenfalls der Polizei, die aber nichts unternahm. Oder die Notfallaufnahme des Spitals: 31-mal wurden dort West-Kinder behandelt. Wegen Würgemalen, Stichwunden, Verletzungen im Genitalbereich, einer Eileiterschwangerschaft einer minderjährigen Tochter. Aber niemand schaltete die Polizei ein. Auch jener Sozialarbeiter nicht, dem eines der Kinder erzählt hatte, dass die ältere Schwester Heather von den Eltern unter dem Küchenboden vergraben worden sei.

Die Aufweichung moralischer Prinzipien und sexueller Tabus, die Atomisierung der Lebensstile, ein alles verstehender Therapeutismus, der keine Täter, sondern nur noch Opfer kennt – all dies führte zu einem kollektiven Verlust der Fähigkeit, das Böse zu erkennen, sogar wenn es direkt vor einem stand. Die Wests konnten sich sicher fühlen. Auch als Fred 1992 wegen der Vergewaltigung seiner dreizehnjährigen Tochter verhaftet wurde, kam es zunächst zu keiner Anklage. Es war der Hartnäckigkeit einer misstrauisch gewordenen Ermittlerin zu verdanken, dass das Haus der Wests schliesslich doch noch gründlich umgepflügt wurde. Fred erhängte sich 1995 in seiner Gefängniszelle, Rose, heute 65, sitzt eine lebenslängliche Haftstrafe ab.

Die Losung «Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum» soll übrigens vom ketzerischen Dominikanermönch Tommaso Campanella stammen. Dieser hat vor über 400 Jahren seinen Traum von einem idealen Gemeinwesen niedergeschrieben. Das Resultat, die Utopie «Civitas solis», «Sonnenstaat», ist ein totalitäres Überwachungsungeheuer ohne Privateigentum und ohne Familie, wo Priesterbeamte die Paare zusammenstellen und individuelle Anwandlungen wie Schminken oder Stöckelschuhe-Tragen mit dem Tode bestraft werden. Die literarische Vorwegnahme von Pol Pots Schreckensregime.

Die Seele eines Menschen birgt Abgründe. Zivilisation ist nur möglich mit moralischen Regeln und Tabus. Träumen zu folgen, ist kein kluger Entscheid.

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