Die Weltwoche

29.01.2004

Die Profis

In Kolumbien werden weltweit am meisten Personen entführt und erpresst. Gegen diesen Alptraum kämpft die Elitetruppe Gaula. Unter Einsatz ihres Lebens, intelligent und erfolgreich. Auf Kidnapperjagd in Medellín.

Von Eugen Sorg und Luca Zanetti (Bilder) ·

An diesem Morgen ist Hauptmann Hernán Garzón noch besser gelaunt als sonst. Er schnaubt und vibriert vor Tatendrang. «Komm in mein Büro», begrüsst er mich mit einem Kommando, so laut, als ob ich auf der anderen Seite einer lärmigen Strasse stehen würde und nicht im Kasernenhof direkt vor ihm. «Komm mit. Ein Besucher. Interessant für dich.»

Es wäre ein grosser Fehler, vom martialischen Kasernencharme des Hauptmanns Garzon, 34, Sohn indianischer Bauern, aufgewachsen auf Pferderücken in den sonnenverglühten Llanos, den südlichen Ebenen Kolumbiens, auf eine gewisse Tumbheit zu schliessen. Garcón ist intelligent, hat ein Gespür für Menschen und ein aussergewöhnliches Wissen. Er ist Chef der Gaula von Medellín. Gaula-Einheiten (Grupos de Acción Unificada por la Libertad Personal) sind militärische Elitekommandos, spezialisiert auf die Bekämpfung von Entführung und Erpressung. Wahrscheinlich die besten weltweit in ihrem Metier. Gaula-Angehörige haben viel zu tun. Mit besagten Gangstermethoden finanzieren die Farc (Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) und die ELN (Nationale Befreiungsarmee), die beiden mächtigsten und ältesten Guerrillaverbände Kolumbiens, zirka zwanzig Prozent ihres Unternehmensbudgets. Imitiert werden sie längst von gewöhnlichen Banditen, die ihre Entführten oft an die Guerrilla weiterverkaufen. Ebenso beteiligt an der lukrativen Industrie sind die Paramilitärs. Ihre Spezialität ist vor allem die Schutzgelderpressung, im Volksmund «vacuna» (Impfung) genannt.

In Kolumbien werden im Schnitt pro Tag fünf Menschen verschleppt und ein Dutzend erpresst. Dies sind die offiziellen Zahlen. In Wirklichkeit sind es viel mehr, aber aus Todesangst vor Vergeltung werden die Fälle oft nicht gemeldet. Obwohl es die speziell dafür eingerichtete, landesweit gültige Notfallnummer 147 gibt, die den Anrufer direkt mit der nächsten Gaula-Garnison verbindet. Verschleppt werden Reiche, Arme, Männer, Frauen, Kinder, Alte. Nachts, am helllichten Tag, vor dem Kino, aus dem Haus. Landstrassen werden blockiert und ganze Menschentrupps aus den gestoppten Autos zusammengestellt und in den Dschungel entführt. «Pescas milagrosas» nennt man dies, «wunderbare Fischzüge». Niemand hat nicht mindestens einen Verwandten oder Bekannten, der Opfer des Alptraums wurde. Kolumbien hält in dieser Hinsicht den einsamen, uneinholbaren Weltrekord. Im Land selbst wird die Statistik des Entsetzens seit Jahren von der Provinz Antioquia mit der Hauptstadt Medellín angeführt – dem Einsatzgebiet von Hauptmann Garcón.

Dieser war letztes Jahr in Europa. Kaum hörten sie dort, dass er aus Kolumbien stamme, sprachen ihn alle auf zwei Dinge an: Kokain und Entführungen. Für Hauptmann Garzón war dies, als ob man seine Mutter beschimpfen würde. Er liebt seine Heimat. Seit er 17 ist, dient er ihr als Soldat. In seinem Arm steckt eine Kugel der Farc, im Bein eine der ELN. Diese Leute, findet er, diese Terroristen der Guerrilla, sind der Krebs der Gesellschaft, und man kann sie nur auf zwei Arten behandeln: ausmerzen oder zerstören. Er ist zuversichtlich, dass dies bald geschehen wird.

Die Bibel und Szenen einer Fuchsjagd

Das Büro, in das er uns bittet, ist die Kommandozentrale seines Krieges: ein winziger Raum, auf den ärmlichen Möbeln Marienstatuetten, heilige Drachentöterfiguren aus Porzellan, Vasen mit Stoffblümchen, Holzpferde und eine aufgeschlagene Bibel; an den Wänden Säbel, militärische Auszeichnungen, eine Reproduktion englischer Fuchsjagdszenen. Auf einem Stuhl sitzt der angekündigte «Besucher», ein gepflegter, aber apathischer, wie unter Schock stehender Mittvierziger.

Dieser Geschäftsmann, klärt uns der Hauptmann auf, habe heute Morgen einen Erpresserbrief erhalten. Ein typischer Fall, doziert er wohlgemut, und eine banale Routineangelegenheit, ergänzt er beruhigend in Richtung des sichtlich verstörten Mannes. Er solle keine Panik haben, seine Leute lösten 80 Prozent solcher Fälle. Dieser Herr, meint er dann etwas pathetisch und dreht sich wieder zu uns, dieser Herr sei ein Patriot. Denn er helfe mit seiner Anzeige der Regierung im Kampf gegen die Banditen und die Guerrilla. Und wie immer, wenn der Hauptmann das Wort «Guerrilla» ausspricht, tönt und kracht und rollt es, als ob er eine Baumnuss in seiner Faust zerquetschen würde.

Der Erpresserbrief ist unterzeichnet von einem gewissen Ramón Gonzáles alias El Paiza, Kommandant der 34. Front der Farc-Rebellen. Gestützt auf das «Gesetz 002», einen dreisten Farc-Erlass aus dem Jahre 2000, durch den sich die Guerrilla selber das Recht ausstellte, bei Firmen und Personen eine «Kriegssteuer» einzuziehen, wird der Geschäftsmann aufgefordert, 40 Millionen Pesos (rund 20000 Franken) zu bezahlen. Und um dessen Bereitschaft zur «Zusammenarbeit» zu optimieren, enthält der Brief nebst martialischen Revolutionssprüchen Fotos von einem gefesselten und einem erschossenen Mann und einige Angaben zur Person des Geschäftsmannes. Man wisse genau, heisst dies, wer er ist und wo er gegebenenfalls zu finden wäre.

Was wir von diesem Brief hielten, fragt der Hauptmann und fährt, ohne eine Antwort abzuwarten, fort, es handle sich um eine Fälschung. Nicht die Farc habe ihn verfasst, sondern ein Krimineller. So etwas erkenne er so sicher wie ein Essen seiner Frau. «Mi amor», ruft er, «Süsse», und in der Tür erscheint seine Sekretärin. «Hole mir einen Ordner mit Guerrilla-Briefen.» Er streichelt ihre Hand, als sie das Gewünschte bringt, «danke, Zucker», charmiert er, «Herzchen», und die junge Frau lacht und zwinkert uns fröhlich zu, als sie das Büro wieder verlässt und ihr der Hauptmann theatralisch hinterherseufzt, sie sei sein «Schweineöhrchen». Gegrillte Schweineohren gelten in Kolumbien als Delikatesse.

Die Erpresserbriefe der Farc- und der ELN-Guerrilla zeichnen sich aus durch makellose Grammatik, akademisch gedrechselte Formulierungen und eine etwas altmodische Höflichkeit. Sie wirken fast wie Inaugurationsreden von Universitätsrektoren. Der vorliegende Brief ist dagegen ein kompletter Pfusch, getippt auf einer müden Schreibmaschine, voller ungelenker Wendungen und Rechtschreibfehler.

Operation Orion

«Ein Krimineller», wiederholt der Hauptmann und wendet sich wieder an den bleichen Geschäftsmann. «Erpresser vertrauen auf den Schrecken», führt er aus, «aber leben Sie normal weiter, gehen Sie zur Arbeit und reden Sie mit niemandem darüber. Wahrscheinlich ist jemand aus Ihrer Firma in die Geschichte verwickelt.» Einer der Ermittler werde ihm ein Abhörgerät am Telefon installieren und über jeden weiteren Schritt informieren. Der Hauptmann klingt beschwingt, als wäre der Fall bereits gelöst.

Am späteren Nachmittag rückt eine bewaffnete 15-köpfige Gaula-Einheit aus, um einen weiteren Erpresser zu verhaften. Alle Abteilungen sind auf den zwei Pick-ups und dem Motorrad vertreten: Staatsanwalt, Nachrichtendienstler, Kämpfer. Die Gaula ist wie ein Staat im Staat. Sie kann selber ermitteln, Haftbefehle ausstellen, Operationen durchführen, das Strafmass vorschlagen. Sie hat grosse Macht, aber dies macht sie flexibel und effizient. Unter den staatlichen Institutionen geniesst sie als eine der wenigen einen ausgezeichneten Ruf. Die Gaulistas gelten als intelligent, mutig und nicht korrupt.

Der Verfolgte hat im Namen der ELN von einer Frau zwanzig Millionen Pesos zu erpressen versucht. Die Ermittler haben herausgefunden, dass sein Spitzname León lautet – er gleicht offenbar einem Löwen – und dass er kein ELN-Mitglied ist, dafür aber mindestens einen Komplizen hat, einen Taxifahrer, dessen Identität aber noch nicht bekannt ist. Er wohnt im Barrio Santo Domingo, einer der vielen Habenichtssiedlungen, die an den Bergflanken emporwuchern und Medellíns Innenstadt mit ihren Bürokomplexen, Einkaufsstrassen, Geschäftsvierteln wie einen gigantischen Gürtel bedrohlich umfassen.

Bis vor zehn Jahren wurden diese Quartiere von Pablo Escobar beherrscht, dem kaltblütigen und grosszügigen Kokain-Caudillo, der eine Million Pesos Kopfgeld für jeden erlegten Polizisten bezahlte. Nach dessen Tod sickerten Farc und ELN ein. Mit unterirdischen Tunnels, Minenfallen, Maschinengewehren, Mörsergeschützen bauten sie die Hügelbezirke zur urbanen Festung aus. Von dort aus bombardierte die Guerrilla Ziele in der Innenstadt, und dorthin verschleppte sie Leute, die sie im Zentrum gekidnappt hatte. Noch vor 15 Monaten konnten sich Polizei oder Militär nur in Kompaniestärke blicken lassen. Jede staatliche Uniform, die sich näherte, wurde sofort beschossen. Erst eine grosse, einmonatige militärische Offensive, die Operation Orion im Herbst 2002, vertrieb die Guerrilla wieder aus Medellín. Viele Rebellen wurden getötet, fast 700 konnten verhaftet und 21 Geiseln aus Hinterzimmern befreit werden. Seither ist Medellín etwas sicherer geworden. Uniformierte jedoch, la ley, das Gesetz, sind in Vierteln wie Santo Domingo immer noch nicht gern gesehen.

Verächtliche, spöttische, feindselige Blicke begleiten unsere rasante Fahrt über kurvige Strässchen und abschüssige Gassen. Die Besatzung scheint sich aber nicht darum zu scheren. Auch nicht darum, dass bei den Einsätzen der letzten zwei Jahre sechs Kameraden ums Leben gekommen sind – beinahe ein Zehntel der Truppe von Hauptmann Garzón. Vorne im Wagen scherzt der Fiscal, der junge Staatsanwalt Dario Leal, mit einer der Ermittlerinnen, und auf der Ladefläche fachsimpeln die Kämpfer über die verschiedenen Arten weiblicher Schönheit. Soldat Arboleda, ein gross gewachsener 29-Jähriger mit kindlichem Gesicht und melancholischen Augen und 28 Narben von Schrapnell-Splittern am Körper, ist überzeugt, dass die Frauen von Medellín die besten seien. Zum Beweis deutet er immer wieder auf die Passantinnen. «Sie sind nicht nur überragend schön», ruft er mir zu, während ich mich an eine Stange klammere, um in den Kurven nicht aus dem Wagen katapultiert zu werden, «sie sind auch spontan, charmant und offen.» «Aber leider nicht so offen wie Mädchen aus Pereira», lacht sein Kamerad. «Wenn du dort eine fragst, ob sie sich nicht setzen wolle, legt sie sich gleich auf den Rücken.»

Unvermittelt stoppen die Fahrzeuge, und auf einen Schlag verwandelt sich die lustige Gesellschaft in eine kampfentschlossene Einheit. Alle springen von den Fahrzeugen, und nach einer kaum drei Sekunden dauernden Besprechung spurtet die Truppe einen steilen Betonpfad hinunter und postiert sich zweihundert Meter weiter unten um ein zweistöckiges Backsteinhaus, strategisch verteilt, die Maschinengewehre im Anschlag. Aus sicherer Distanz beobachten einige Nachbarn das Geschehen. Staatsanwalt Leal schreitet zum Eingang, flankiert von zwei Soldaten, hämmert kurz an die Tür und ruft laut, man solle im Namen des Gesetzes öffnen, er habe einen Haftbefehl gegen einen gewissen León. Absolute Stille tritt ein, niemand spricht, niemand bewegt sich, und die Szenerie gerinnt zu einem pittoresken Standbild. Nur das Aufheulen eines Hundes und der Anflug von Angst in den Augen von Soldat Arboleda verraten, dass alles real ist.

Plötzlich bricht oberhalb des Hauses Lärm aus. Ein Mann in blauer Turnhose ist auf dem Balkon erschienen und versucht über das Dach zu flüchten. Die Soldaten rufen, er solle stehen bleiben, und als sie in die Luft schiessen, gibt er auf und legt die Hände hinter den Kopf. Fast gleichzeitig drückt Staatsanwalt Leal die Tür auf, stürmt mit einigen anderen in das Haus und nimmt den Mann auf dem Balkon fest. Alles wird professionell, hellwach und in jedem Moment souverän abgewickelt. Der Turnhosenmann hat einen breiten Kopf mit dicken Augenwülsten. Er ist grau vor Schreck und erinnert an einen Löwen – León. Auch die Nachrichtenabteilung hat tadellos gearbeitet. ›››

Omaira Tascón ist eine der vier Frauen der 14-köpfigen Nachrichtenabteilung (CTI, Cuerpo Técnico de Investigación). Alle machen dieselbe Arbeit. Omaira ist bei der Operation dabei gewesen, hat mit dem Staatsanwalt das Haus gestürmt, danach durchsucht und Anwesende verhört. Zurück in der Kaserne, entledigt sie sich des Helms, der kugelsicheren Weste, der Waffe, bringt die Frisur in Ordnung, schminkt sich die Lippen, und als sie die Kampfstiefel auszieht, um wieder in die Stöckelschuhe zu schlüpfen, wird oberhalb des Knöchels ein Drachen-Tattoo sichtbar. Omaira ist klein, hübsch, trägt oft ein feines, unergründliches Lächeln im Gesicht und trifft sowohl mit Pistole als auch mit Präzisionsgewehr oder Maschinengewehr. Tote ängstigen sie nicht, im Gegenteil. Sie hat einige Semester Medizin studiert, und am besten gefiel ihr das Sezieren von Leichen.

Wenn sie in die Quartiere geht, alleine, um aufgrund eines Hinweises ein Gebäude oder eine Person auszukundschaften, nimmt sie keine Waffe mit. Die Leute sind misstrauisch und erkennen, wenn jemand nicht aus dem Viertel stammt. Manchmal wird sie gefragt, was sie hier suche. Sie sei von der Universität, antwortet sie dann, oder von irgendeiner Hilfsorganisation. Fänden die Leute aber bei ihr eine Waffe, wüssten sie, dass sie eine «vom Gesetz» sei, und ihr Leben wäre sofort in Gefahr. «Während der Einsätze habe ich keine Angst», sagt Omaira. «Erst hinterher, wenn man realisiert, was alles hätte schief laufen können.» Einmal, während der Operation Orion, geriet ihre Einheit in einen Hinterhalt der Farc. Sie warf sich zu Boden, Kugeln pfiffen über ihren Kopf, neben ihr stöhnten getroffene Kollegen. Sie selber bekam keinen Kratzer ab. «Es tönt seltsam, doch erst da wurde mir wirklich bewusst, dass ich einen gefährlichen Beruf ausübe.»

Einige Fälle gehen einem besonders nahe, erzählt sie weiter, wie derjenige dieses vierjährigen Mädchens. Es war entführt worden, und die völlig aufgelösten Eltern brachten Fotos mit – ein fröhliches, gut gekleidetes Kind. Omairas Abteilung arbeitete rund um die Uhr, mobilisierte sämtliche Spitzel und Informanten, ging allen Spuren nach und wurde 15 Tage später in einem der Barrios fündig. Die Kleine wurde in einem Hort festgehalten, die Hortnerin gehörte zu den Entführern, und das Kind hätte an die Farc weiterverkauft werden sollen. Für alle war die Befreiung eine irrsinnige Erleichterung, die Eltern weinten vor Freude und Dankbarkeit, und Omaira, die einen zweijährigen Sohn hat, fühlte sich, als hätte sie ihr eigenes Kind gerettet.

Gleichzeitig erschütterte sie der Zustand des Mädchens. Es wimmerte und war abgerissen und zutiefst durcheinander und hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem Mädchen auf den Fotos. Zudem stellte sich heraus, dass die Entführer schlechte Arbeit geleistet hatten. Sie hatten sozusagen das falsche Kind entführt. Es stammte aus einer armen Familie, welche die geforderten vierzig Millionen Pesos nie hätte bezahlen können. «Solche Geschichten geben dir Energie», sagt sie. «Du weisst, dass deine Arbeit wichtig ist, und du willst nicht mehr aufhören, bis du die Kerle gekriegt hast.»

«Wir bräuchten aber mehr Lohn», schaltet sich ein Kollege ein. «Sonst muss ich auch bald jemanden entführen. Schreib das auf. Wir sind praktisch das ganze Jahr, 365 Tage während 24 Stunden im Einsatz. Für lausige 900000 Pesos (rund 450 Fr.) im Monat. Und es gibt weder Nacht- noch Essenszuschlag.» «Du im Einsatz?», stichelt Omaira, «das ist mir noch nie aufge-fallen. Du meinst wohl im Einsatz bei deinen Freundinnen.» Unter Gelächter entwickelt sich eine mit Anekdoten und mit Fallbeispielen gespickte Diskussion über Techniken und Tricks bei der Anmache. Etwas später sagt Omaira, dass eine normale Ehe in diesem Job kaum möglich sei. Die Partner würden sich praktisch nie sehen. «Montagabend und Freitagabend wäre ich aber noch frei», lächelt sie mich leicht spöttisch an, «dann kannst du mich einladen.» Ihre Kolleginnen klatschen vor Freude in die Hände, und die Männer zwinkern mir zu.

Durch ein Glasfenster sieht man, wie im Nebenraum León von Dario Leal, dem Staatsanwalt, befragt wird. Leal, pfiffige Äuglein und nur wenige Jahre älter als León, redet ruhig und freundlich mit diesem, als ob er einem Verwandten den Weg zum Bahnhof erklären würde. León, dessen Gesicht wieder etwas zu Farbe gekommen ist, behauptet, er habe keine Ahnung, warum man ihn verhaftet habe. Leal kennt das. Er arbeitet seit vier Jahren bei der Gaula, und als er neulich an einem Anti-Terror-Seminar des FBI in Virginia teilnahm, stellte er fest, dass ihm die Amerikaner nichts beibringen konnten, was er nicht schon wusste. Gestern erklärte er uns, dass jedes Verhör ein mentaler Zweikampf sei. «Du bist stärker und gewinnst, wenn du gute Waffen hast.» Er hat gute Waffen: entlarvende Telefonaufnahmen mit Leóns Stimme. Zeugen. Und vor allem das Angebot der Strafminderung: Gesetz 733 sieht für Erpressung sechs bis zwölf Jahre Gefängnis vor. Kooperiert León, wird ihm Leal ein Jahr erlassen.

Am nächsten Morgen treffen wir León im Gang der Gaula-Kaserne. Er ist nicht gefesselt und begrüsst uns entspannt, als wären wir alte Bekannte. Er hat kooperiert, das heisst, er hat gesungen wie ein Vögelchen. Er führte Leal und seine Männer noch in derselben Nacht zum Wohnort des Komplizen, des Taxifahrers. Die erpresste Frau war seit zwei Monaten dessen Freundin gewesen. Als er genug über deren Verhältnisse wusste, startete er zusammen mit León die Aktion und schickte ihr den Brief mit dem ELN-Logo, das sie von einer ELN-Website kopiert hatten.

Ein Tag, an dem man sich an Gott erinnert

Beide, León und der Taxifahrer, waren bis vor wenigen Monaten Mitglieder einer ver botenen paramilitärischen Truppe. León hat 25 Namen von ehemaligen Kollegen geliefert. Auch diese sind bereits verhaftet worden. «Ich habe einen Fehler gemacht», sagt León treuherzig, «und ich übernehme die Verantwortung. Ich will ein besserer Mensch werden.» Es tönt, als würde ein ertappter Strassenjunge versprechen, keine Fensterscheiben mehr einzuschlagen. Leal findet, Erpresser und Entführer müssten viel härter angepackt werden. Für die Betroffenen seien dies furchtbare Erfahrungen. Die Familien seien danach oft ruiniert und das Opfer für den Rest des Lebens gezeichnet.

Beim Hinausgehen treffen wir auf Soldat Arboleda, der Mann mit dem Kindergesicht und den 28 Narben. Wir plaudern ein wenig, bis er nach eine Weile meint, er wolle uns eine traurige Geschichte erzählen. Er sei einer der Überlebenden von Dabeiba, sagt er, nachdem wir uns gesetzt haben, jenem Ort im Nordwesten der Provinz, wo seine Truppe in einen Hinterhalt geraten sei und 54 von 80 Männern starben. Arboleda zögert kurz, bevor er fortfährt. Am 19. Oktober 2000, einem Donnerstag, seien sie losgeflogen, vier Blackhawk-Helikopter mit je 18 Mann. Eine halbe Stunde später, um 12.30 Uhr, erreichten sie den Bestimmungsort in den Bergen um Dabeiba. Es ging um eine Operation gegen Verbände der Farc.

Als sie zur Landung ansetzten, ging die Hölle los. Überall aus dem hohen Gras erhoben sich plötzlich Guerrillas, Hunderte, und begannen mit Maschinengewehren und Mörsern zu feuern. Sie hatten die Soldaten erwartet. Der vorderste Blackhawk schmierte rauchend ab und zerschellte am Boden. In den anderen öffneten die Soldaten die Türen und sprangen heraus. Arboleda landete neben einem Freund, der schon tot unten angekommen war. Kurz darauf gingen zwei weitere Helikopter zu Boden.

Zusammen mit Arboleda waren sieben andere Soldaten und Major Vargas. Dieser zeigte auf einen 30 Meter entfernten Ort und befahl Arboleda: «Renne dorthin und gib uns Deckung.» «Major, zu Befehl.» Da er aber gerade am Urinieren war, konnte er nicht sofort starten. Das war sein Glück. Ein paar Sekunden später schlug genau dort eine Granate ein. Er zündete eine Zigarette an und versuchte sich zu sammeln. Der Himmel war schwarz vom Rauch der brennenden Blackhawks, sie waren umzingelt von einer Übermacht, Kugeln und mit Dynamit gefüllte Zylinder flogen ihnen um die Ohren, neben ihm stöhnte Alvarez, der einen Bauchschuss erhalten hatte. Es war ein Tag, an dem man sich an Gott erinnert.

Um drei Uhr beschlossen sie, sich zu trennen und einen Ausbruch zu wagen. Weitere Kameraden waren tot, sie hatten keine Granaten mehr und spürten, wie die Guerrillas näher kamen. Arboleda kroch durchs Gras, als ein 14-jähriger Junge vor ihm auftauchte. «Steh auf, Feigling, und kämpfe wie ein Mann», sagte dieser und schoss. Arboleda spielte den Toten, und als der Junge auf zwei Meter herangekommen war, hob Arboleda das Gewehr und tötete ihn. Einen Augenblick später erschien eine ganze Gruppe Guerrillas und begann zu feuern. Arboleda fühlte keine Angst, als er registrierte, dass er nur noch zwei Kugeln hatte und das Gewehr des Jungen nicht mehr erreichen konnte. Im Kampf funktioniert man wie eine Maschine. Eiskalt und ohne nachzudenken setzte er sich das eigene Gewehr unters Kinn. Nie sich lebendig ergeben. Der Feind foltert, bevor er tötet. Sie stachen mit Nadeln in die Augen, sie schnitten die Zunge heraus, schnitten das Geschlecht ab, schlitzten einem den Bauch auf, legten eine Handgranate hinein und zwangen den Kameraden, sie zu zünden, worauf beide in Stücke gerissen wurden.

Als er abdrücken wollte, rutschte er aus und fiel hin. Neben ihm lag ein volles Magazin. Er stiess es in seine Waffe, nahm seine zwei Handgranaten, entsicherte die eine, entsicherte die andere, warf beide zur gleichen Zeit und fing an zu schiessen, während er sich rück-wärts bewegte. Er entkam fürs Erste und traf wenig später wieder auf eine kleine Gruppe Kameraden mit Major Vargas.

Wie in einer Metzgerei

Ein mächtiger Engel muss Arboleda in diesen 24 Stunden beschützt haben. Noch einige Male war der Feind so nahe, dass er ihn atmen hören konnte. Sie hatten längst keine Munition mehr, als er um Mitternacht die Umrisse von Leuten wahrnahm. «Hast du Angst, Soldat?», fragte der Major leise. «Nein», antwortete Arboleda und schlich sich mit Kamerad Buitron an die Gruppe heran. Aus zehn Metern Entfernung schrie er: «Wer seid ihr?» Aus dem Dunkeln tönte es zurück: «Du zuerst.» «Nein, ihr.» «Nein, du.» Sie waren hungrig und durstig und zerschunden. Verdammt, sagte sich Arboleda, was für ein Tag zum Sterben, stand auf und rief: «Soldat Arboleda, 3. Bataillon Granaderos, 6. Kompanie Alcatraz.» Für einen Moment war es still. Dann hörte er: «Komm her, Kamerad.» Es waren ihre Leute. Verstärkung war eingetroffen.

«Jetzt kommt der härteste Teil», sagt er und holt kurz Luft. Als es wieder hell wurde, gingen sie ihre Kameraden suchen. Arboleda hatte Jahre mit ihnen gedient, sie waren seine Familie. Überall fanden sie Tote, Körperteile, abgerissene Arme, Köpfe. Es war wie in einer Metzgerei. Arboleda, der mit einer Kugel im Stiefelabsatz davon gekommen war, hält inne, ein leichtes Zucken geht durch seinen Körper. Er bedeckt sein Gesicht mit den Händen. Er weint. «Entschuldigung», sagt er, «es ist, als wäre es erst gestern passiert.» Dann fasst er sich wieder. «So ist das Leben, so ist der Krieg. Du gewinnst und du verlierst.» Aber er sei nicht mehr derselbe, fügt er noch an. Vorher habe er keine Angst gekannt, jetzt sei er vorsichtig geworden. Er habe seine aggressive Seite verloren.

Ein Tipp vom Pfarrer

In der Abenddämmerung des folgenden Tages rasen wir mit zwei Pick-ups durch das Häusergewirr des Barrio Manrique am Westhang der Stadt. Ziel ist ein kleines, schäbiges, einstöckiges Gebäude aus roten Ziegelsteinen, das in der Nähe der Kirche neben einem Bach liegen soll. Vom Pfarrer und von einem Angestellten der Elektrizitätsgesellschaft stammt der übereinstimmende Tipp, dass dort jemand gefangen gehalten werde. Ein Schmuckhändler, der am 10. März des vergangenen Jahres verschleppt worden war. Der Leiter der Aktion, Feldwebel Varón, hat das Foto des rundlichen 40-Jährigen gezeigt und gemeint, dieser werde natürlich nicht mehr gleich aussehen. In städtischen Verliesen setzt man die Entführten, um sie ruhig zu stellen, unter Drogen.

Befreiungen müssen Überraschungscoups sein, damit die Entführer keine Zeit haben, die Gefangenen zu töten. Gaula-Mitarbeiter werden unter den Besten in der Armee ausgesucht. Jeder, sagte Varón, sei so viel wert wie acht Soldaten. Alle haben Kampferfahrung, in Kolumbien herrscht seit vierzig Jahren Krieg, und die rigorose Gaula-Ausbildung in den Dschungelcamps hörtet zusätzlichab. Bis vor kurzem gehörte dazu, dass die Absolventen einen jungen Hund erschlagen mussten, den sie während der letzten sechs Monate aufgezogen hatten.

Diesmal bietet sich ihnen vorerst keine Möglichkeit, ihr Können anzuwenden. Wir rennen über Steiltreppen, klettern über Mäuerchen, stoppen für eine kurze Besprechung, befragen argwöhnisch blickende Anwohner, keuchen durch Hinterhöfe in die entgegengesetzte Richtung – auf der vergeblichen Suche nach dem roten Haus am Bach. Es vergehen zehn lange Minuten, bis das Objekt endlich gefunden wird.

Einer klettert blitzschnell aufs Dach, ein Scharfschütze postiert sich auf einem Hügel, andere nehmen Eingang und Fenster ins Visier, und Fotograf Luca und ich ducken uns hinter einen Mauervorsprung. Wir zucken zusammen, als eine Knallerei losgeht. Einer der Soldaten nickt uns beschwichtigend zu. Es waren keine Schüsse, sondern Feuerwerk. Die Kolumbianer lieben es und benützen jeden Anlass, es zu zünden – an Weihnachten, Ostern oder wenn wieder ein grössere Ladung Kokain sicher in den USA angekommen ist. Wenige Sekunden danach wuchtet Varón die Türe auf und springt unter lauten Rufen ins Innere, gefolgt von vier Kämpfern.

Im Haus treffen sie auf eine dürre, ältere Frau, drei bekiffte junge Männer und eine heillose Unordnung. Varóns Leute durchkämmen Zimmer, kehren feuchte Betten, öffnen schimmelnde Schränke, durchwühlen schmutzige Kleiderhaufen. Keine Spur des Schmuckhändlers. «Man kann arm sein», sagt Varón entnervt und angewidert zur Frau, «aber trotzdem putzen.» Die Alte zuckt mit den Schultern. Die drei Kiffer müssen mit dem Gesicht zur Wand stehen, Hände erhoben, Beine gespreizt. Varón tritt den ersten kurz ins Schienbein, stellt sich dicht neben ihn und beginnt ihm ins Ohr zu flüstern. Dieser wird noch bleicher, murmelt zurück, schüttelt den Kopf. Varón wiederholt sein Flüsterverhör bei den zwei anderen. Keiner will etwas von einer Entführung wissen.

Dasselbe Resultat bei den Nachbarn. In einem Barrio lässt sich nichts verheimlichen, kein Ehekrach, keine Entjungferung, keine Entführung, aber nie würde man einem Vertreter des Gesetzes darüber etwas sagen. Vor allem nicht über Letzteres. Schon gar nicht in Anwesenheit anderer Bewohner. Es käme einem Todesurteil gleich. Nur ein kleiner Junge, ein Verwandter der drei Kiffer, sagt aus, dass in der Nacht zuvor zwei Cousins im roten Haus gewesen seien. Deren Namen kenne er nicht, denn er spreche nicht gerne mit denen. Die Gaula-Leute sind sicher, dass der Schmuckhändler bis vor kurzem hier war. «Wir haben die Familie über die bevorstehende Befreiung informiert», sagt Varón, «wahrscheinlich ist dies zu den Entführern durchgesickert, und sie haben den Mann weggeschafft.»

Am übernächsten Abend brausen wir erneut los. Omaira ist dabei, einige ihrer Kolleginnen und Kollegen des CTI, Varón, insgesamt 18 Anti-Terror-Spezialisten. Diesmal geht es um zwei junge Frauen, seit acht Monaten festgehalten – offenbar in einem Viertel unweit der Garnison. Das Haus wird auf Anhieb gefunden, umstellt und gestürmt. Wieder sind die Gesuchten bereits weggebracht worden. Diesmal aber von der Polizei, und zwar vor zwei Tagen, wie die herbeigerufene Hausbesitzerin berichtet. Das ist gut für die befreiten Frauen, aber demütigend für die Gaula.

Die Stimmung ist mies, als wir in die Garnison zurückfahren. Skandal, zischt einer der Ermittler, die Polizei hätte sie informieren müssen. Feldwebel Varón behauptet später, dass die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Instanzen das grösste Hindernis bei der Bekämpfung der Terroristen sei. Ob er ein Beispiel nennen könne? Claro. Bei einer Befreiungsaktion ausserhalb von Medellín seien er und einige seiner Leute einen Pfad entlang gegangen, und nach einer Weile sei ihnen ein älterer Mann entgegengekommen. Der vorderste Soldat und der Mann grüssen sich, beginnen sich zu unterhalten, wo wohnst du und so weiter, da zieht der Mann plötzlich eine Pistole und schiesst dem Soldaten eine Kugel in den Kopf. Genau in die Schläfe. Er gehörte zu den Entführern. Die anderen stellen ihm nach, erwischen ihn, und er, Varón, hat bereits den Fuss auf den Hals des Mannes gesetzt und will die Sache erledigen, eine Sache der Ehre und des Menschseins, als ein Staatsanwalt herbeieilt. «Halt», sagt dieser, «wir müssen den Fall zuerst untersuchen, Beweise beibringen.» Und er führt den Mann weg.

Oder ich solle an die drei Marihuanaraucher von vorgestern denken, meint Varón weiter. Sie von der Gaula müssten folgendermassen handeln können: Den Verdächtigen in den Wald führen, ihm sagen: «Hör zu, wir sind Paramilitärs, und du erzählst uns, was du weisst. Sonst weisst du, was passiert – wir hacken dir den Kopf ab.» Doch sie seien zurückgebunden durch das Gesetz. Das schreibe unter anderem vor, dass man nur Vorbestrafte zur Befragung mitnehmen dürfe. Die drei Kiffer seien nicht vorbestraft gewesen. Der Spielraum, den man ausnützen könne, sei klein. Einen wortkargen Verhafteten haben sie eine Woche lang hungern lassen. Als er schwächer wurde und ohnmächtig zu werden drohte, hat er ihn gepackt: «Was jammerst du? Denk an die Leute, die du entführt hast – hast du sie besser behandelt?»

Karina Ruiz, 82-jährig, verschleppt

Alle Geschichten, die in den kleinen Büros der Gaula zur Sprache kommen, sind ähnlich bewegend, und trotzdem ist jede völlig einzigartig. Würde man sie einen Monat lang aufschreiben, gäbe dies Stoff für eine mehrjährige, packende TV-Serie oder einige aufwühlende Romane. Eine dieser Geschichten wird von den abgebrühten Gaulistas immer wieder erwähnt: die von Karina Ruiz. Die Frau wurde am 18. April letzten Jahres entführt. Sie ist 82 Jahre alt und die älteste Verschleppte des Landes. Ruiz war schlafen gegangen im Haus der Familie, einem Bauernhof, wenige Stunden entfernt von Medellín. Vier ihrer Kinder und zehn Enkelkinder waren ebenfalls dort, als vier bewaffnete Männer ins Haus eindrangen, die alte Frau holten und mit ihr wieder in der Nacht verschwanden. Es waren Kämpfer der 36. Front der Farc, und ein Kommandant Oscar forderte eine Woche darauf in einem Telefongespräch die Lösesumme von 1,2 Milliarden Pesos (rund 600000 Franken).

Acht Monate später erscheint Javier Parra Ruiz im Büro von Hauptmann Garzón. Javier ist eines der dreizehn Kinder von Frau Ruiz. Der 55-Jährige mit den gewellten grauen Haaren und dem sympathischen Gesicht wirkt müde und tieftraurig. Er hatte die Entführer beim ersten Telefon gebeten, er würde seiner Mutter gerne Insulin zukommen lassen, sie sei Diabetikerin. Sie habe Bluthochdruck und brauche auch dafür Medikamente. Zuerst das Geld, tönte es von der anderen Seite, dann die Medikamente. Die Familie hatte aber kein Geld. Javier und ein Bruder waren die einzigen der 13 Kinder, die immerhin ein Auto und ein wenig Erspartes für kleinere Notfälle besassen. Sie boten an, 200 Millionen aufzutreiben und innerhalb eines Jahres in Raten zu überweisen. Zu wenig, war die Antwort.

Inzwischen hatte die Gaula über ihr Informantennetz herausgefunden, wo Frau Ruiz festgehalten wurde. Einsatztrupps kamen so nahe an den Ort im Dschungel heran, dass sie die alte Frau sehen konnten. Sie lag in einer Hängematte, und von einem in der Gegend lebenden Bauer wusste man, dass sie sehr krank war und tagelang im eigenen Kot lag. Mehrere Befreiungsversuche schlugen fehl, weil das Terrain vermint worden war. Bei einem der Einsätze wurden jedoch ein paar der Entführer umgebracht, worauf die Farc eine Tochter von Karina Ruiz aus einem Bus herausholte und vor den Augen der Familienangehörigen und der anderen Passagiere erschoss.

Javier sagt, dass er den Entführern seine Handynummer gegeben habe. Er nimmt wie mechanisch das Mobiltelefon in die Hand und starrt es einen Moment lang an. Seit zweieinhalb Monaten haben sie nichts mehr von sich hören lassen. Dafür hat sich vor einer Woche ein Bauer bei ihm gemeldet. Die Señora Ruiz sei tot, berichtete der Mann, der aus der Region stammt, wo die alte Mutter festgehalten wurde. Nun bittet Javier den Hauptmann um einen Gefallen. Er wäre dankbar, wenn ihn jemand von der Gaula zum Sitz des IKRK (Internationales Komitee vom Roten Kreuz) begleiten würde. Er hat gehört, dass das Rote Kreuz hilft, tote Gefangene bei der Guerrilla auszulösen, um sie den Angehörigen zu übergeben.

Kurz darauf fahren Feldwebel Varón und Javier zum Roten Kreuz. Eine deutsche Delegierte hört sich den Fall an, den Javier mit der inneren Abwesenheit desjenigen schildert, der durch die Verzweiflung gegangen ist und sich nichts mehr erhofft. Als die Delegierte am Ende meint, man werde schauen, was sich machen lasse, bedankt sich Javier, verabschiedet sich und vergisst, seine Telefonnummer zu hinterlassen.

Der Geschäftsmann, der mit dem falschen Farc-Brief um 40 Millionen Pesos erpresst werden sollte, erscheint erneut auf der Gaula. Es ist neun Uhr morgens, seit seinem ersten Besuch ist eine Woche vergangen, und heute soll seinem Erpresser eine Falle gestellt werden. Der zuständige Ermittler Lengua, den alle Lengueta, Zünglein nennen, weil er sehr klein ist, hatte ihn angewiesen, den Erpresser am Telefon zu «caramelizar», zu «karamelisieren», also mit Zückerchen zu ködern, zu sagen, er würde morgen einen Teil der Summe auftreiben, übermorgen einen weiteren und so fort. Durch das Hinhalten war eine ganze Reihe Telefongespräche zusammen gekommen. Die Ermittler, welche die Gespräche mitschnitten, gewannen nicht nur ein präzises Stimmenprofil des Erpressers, sondern konnten auch die Orte erfassen, von denen aus er angerufen hatte.

Das erste Telefonat kam aus einer Textilfabrik, wo der Mann, der sich immer als Kommandant El Paiza meldete, offenbar arbeitete. Alle folgenden wurden in vier verschiedenen, nicht weit auseinander liegenden Telefonkabinen im Barrio Santa Cruz getätigt. Der letzte Anruf kam gestern Abend. Der Erpresser sagte, er würde morgens um zehn Uhr nochmals anrufen, um die Art der Geldübergabe mitzuteilen, und er drohte dem Geschäftsmann, seine Leute würden ihn eliminieren, falls er das Gesetz einschalten würde. Er hat keine Ahnung, dass der Geschäftsmann den Telefonhörer nicht zu Hause, sondern in der Gaula-Zentrale abheben wird, wohin der Anruf umgeleitet wurde. Und er weiss auch nicht, dass seine Nummer auf dem Bildschirm der Ermittler aufleuchten und sein Standort zwei Sekunden später an die Männer gefunkt werden wird, die irgendwo in seiner Nähe darauf warten, ihn zu schnappen.

Gleich nachdem der Geschäftsmann in der Kaserne eingetroffen ist, fahren wir mit zwei Motorrädern, einem Pick-up und einem als Taxi getarnten Personenwagen los. Die Fahnder tragen Zivilkleidung, ihre Pistolen stecken unter den T-Shirts im Hosenbund. Im Barrio Santa Cruz parkieren wir in Sichtweite voneinander die Fahrzeuge. Nach einer halben Stunde heulen unsere Motoren beinahe gleichzeitig auf. Die Funknachricht ist gekommen, der Erpresser ist pünktlich, es ist genau zehn Uhr. Die Kabine, in der er am Telefonieren ist, liegt nur etwa 500 Meter weiter oben, die Strasse ist steil wie eine Sprungschanze. Eines der Motorräder kommt mit quietschenden Reifen zuerst an. Der Mann hat immer noch den Hörer in der Hand. Der Sozius springt vom Sattel, hält dem Erpresser die Pistole an den Kopf, nimmt den Hörer, den dieser reflexartig aufgelegt hatte, wieder aus der Gabel, drückt die Wiederholungstaste und begrüsst den Gaula-Kollegen, der sich auf der anderen Seite der Leitung gemeldet hat.

Zwischen Funkspruch und Klicken der Handschellen sind etwa dreissig Sekunden vergangen. Der falsche Kommandant trägt ein farbiges Hemd, ist 25 Jahre alt, heisst Alejandro Zapata und ist innerhalb einer halben Sekunde kreideweiss geworden wie ein Gespenst. Mit drei Kopfnüssen, einer Ermahnung – «spiele nicht den Schwulen» – und einer Beschimpfung – «Hurensohn mit Tripper» – wird er zu Lengueta auf den Pick-up bugsiert und in die Garnison verfrachtet. Zapata hatte eine feste Arbeitsstelle und noch hat er eine hübsche, junge Freundin, deren Foto und deren rührende, süsse Liebesbriefe er in seinem Portemonnaie trägt. Mit acht oder neun Telefonanrufen hat er sein Leben zerstört.

Der Hauptmann hat Prachtslaune

Der Geschäftsmann ist sehr erleichtert, aber noch nicht beruhigt. Man hat ihm das Foto in Zapatas Personalausweis gezeigt. Er hat diesen Menschen noch nie gesehen, und er weiss noch immer nicht, wer diesem die Informationen über ihn gegeben hatte. Gut möglich, dass es jemand aus der Firma sei, sagt Lengueta. Der Geschäftsmann bleibt skeptisch. Und wenn es nun jemand aus dem Bekanntenkreis war? Der Nachbar? Oder gar aus der Familie? Das Grundvertrauen ist erschüttert. Und möglich ist es, dass dies sich auch nicht mehr ändern wird, wenn er schliesslich weiss, wer ihn so schäbig verraten hat.

Gegen den Schluss unseres Aufenthaltes lädt uns Hauptmann Garzón zu einer kleinen Truppenfeier auf dem Land ein. Ein paar Männer wechseln in andere Einheiten, zwei sind befördert worden, eine Anzahl wird wegen besonderer Leistungen ausgezeichnet. Auf dem Hinweg meinte Garzón, ich könne schreiben, was ich wolle. Aber eines müsse Europa erfahren: Hier in Kolumbien seien sie voller Hoffnung, das ganze Volk habe genug von den Terroristen, und die jetzige Regierung mache viel dafür, dass bei einem nächsten Europabesuch andere Fragen als jene nach Kokain und Entführungen gestellt würden.

Der Hauptmann ist in Prachtslaune, unter den Gästen sind auch sein 10-jähriger Sohn, seine blonde Frau und seine Eltern, zwei demütig wirkende, ruhige ältere Leute. Als predige er von einem Gefechtsstand herunter, zelebriert der Hauptmann die Veranstaltung als virile Hochmesse auf die Tugenden seiner Soldaten. Er lobt deren patriotische Gesinnung, deren eisernen Durchhaltewillen, deren Mut und Intelligenz und Kameradschaftsgeist. Er ist stolz auf sie, seine Sätze explodieren wie Gewehrsalven, krachen wie Freudenschüsse an einem Defilee. Als er mit den Reden fertig ist, bittet er die Gesellschaft zu Tisch.

Eine Sau ist geschlachtet worden und köchelt nun ausgeweidet und zerhackt in einem riesigen Eintopf. «Guten Appetit, meine Damen und Herren», ruft Garzón, «greifen Sie zu, und erfreuen Sie sich an unserer köstlichen Anti-Guerrilla-Suppe.»

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