Die Weltwoche

18.12.2003

«Er fleht dich an, und du schiesst»

Wie der liberianische Kindersoldat Andrew «Ray» Jackson zum Profi-Golfer wurde.

Von Eugen Sorg und Nathan Beck (Bild) ·

Sie haben im liberianischen Bürgerkrieg auf der Seite von Charles Taylor gekämpft. Wie kam es dazu?

Ich stamme aus der Provinz Nimba. Dort töteten die Soldaten von Präsident Doe viele Leute. Meine Eltern flüchteten in die Côte d’Ivoire. Ich blieb zurück. Ich wollte mich den Rebellen von Taylor anschliessen, um mich zu rächen.

Wie alt waren Sie?

Es war der 25. Februar 1990, ich war elf.

Wer waren die anderen in Ihrer Truppe?

Wir waren etwa 200 Jungen und 100 Mädchen, alle ungefähr in meinem Alter. Nur der Kommandant war bereits 15.

Wann haben Sie zum ersten Mal gekämpft?

In Gbarnga, nach etwa drei Monaten, und in Monrovia am 2. Juli 1990.

Angst?

Nein, nur zu Beginn. Wir tranken vor jedem Angriff Zuckerrohrschnaps und schluckten Bubbles – weisse, gelbe oder blaue Pillen. Diese kauften wir von den Nigerianern der Ecowas (Friedenstruppen). Die Bubbles machen dich tapfer und stark, du schaust nicht mehr, woher die Kugeln kommen, und deine Augen bleiben offen für zwei oder drei Tage.

Welche Waffen hatten Sie?

Ein Maschinengewehr und ein Messer. Das Messer brauchten wir aber nur unter uns. Zum Beispiel wenn einer aus einer anderen Gruppe ein Auto erbeutet hatte und wir es uns holten, weil wir keines hatten.

Man hört aber, dass die Messer auch benutzt wurden, um Gefangenen oder Zivilisten Herzen und anderes aus dem Leib zu schneiden und zu essen.

Die Zivilisten hatten Angst und versteckten sich, wenn wir kamen. Andere Truppen taten die Dinge, die Sie erwähnt haben. Unsere Truppe nicht.

Wie war es, als Sie zum ersten Mal einen Menschen töteten?

Ich fühlte mich schlecht. Aber dann kümmerte es mich nicht mehr. Alles, was ich tat, tat ich auf Befehl. Wenn der Kommandant sagte, töte diesen Mann, dann tötete ich ihn. Auch wenn es ein Kamerad war.

Wie reagierte der Todgeweihte?

Er konnte nichts tun, er wusste, dass er stirbt. Er legt seine Waffe nieder, du stösst ihn um, schlägst ihn mit deinem Gewehr, er ist am Boden, sagt vielleicht «bitte», fleht dich an, und du schiesst. Du kannst ihn nicht laufen lassen, weil er sonst zu den anderen Truppen geht und dich tötet. Dann lässt du ihn liegen, du hast keine Zeit, ein Loch zu graben.

Wohin haben Sie geschossen?

In den Kopf oder in die Brust.

Welches war Ihr Kriegername?

«Ray», das bedeutet «Sonnenstrahl» oder «der Hellhäutige».

Wurden Sie nie verwundet?

Einmal, 1992, wurde ich getroffen, aber ich trug eine afrikanische Jacke, die mich beschützte. Der Grigri-Mann hatte Bohnen auf sie genäht, und wenn die Kugeln kamen, fürchteten sie sich vor den Bohnen und drehten ab. Viel gegeben hat mir auch mein Lieblingsfilm «Missing in Action», ein Kriegsfilm mit Chuck Norris.

Wurden Sie befördert?

Mit 15 wurde ich Kommandant und war verantwortlich für schwere Geschütze. Wir haben viele Ecowas-Soldaten getötet, Nigerianer und Ghanaer.

Sie sind nicht mehr Soldat. Seit wann?

1996 fanden die letzten Kämpfe statt. Daraufhin sagte ich zu meinem Kommandanten: Chef, ich will jetzt etwas anderes machen.

Warum?

Ich wollte zu den Guten gehören.

War es schwierig, ein neues Leben anzufangen?

Ich brauchte vier Monate, um mit den Pillen aufzuhören. Das war nicht einfach. 1997 fand ich eine Stelle als Caddie auf dem Golfplatz von Monrovia.

Es gab noch Leute, die Golf spielten?

Nicht viele. Darum hatte ich viel Zeit, selber zu üben. Ich hatte beobachtet, wie die anderen es machten, und spielte dann selbst vom Morgen bis zum Abend, ohne zu essen. Ich fiel dem Stabschef der Ecowas auf, und er unterstützte mich. Später nahm er mich mit zu einem Golfturnier in Nigeria. Heute gebe ich Golfunterricht und bin Mitglied des westafrikanischen Golfteams. Und am Abend gehe ich zur Schule. Ich habe eine Wohnung, eine Freundin und eine zweijährige Tochter. Mein Leben ist jetzt gut.

Denken Sie manchmal zurück an Ihre Zeit als Kindersoldat?

Ich denke nicht an früher, und ich träume nie davon.

Haben Sie Ihre Truppe nie vermisst?

Am Anfang schon. Es juckte und schmerzte mich auf der ganzen Haut, ich wollte zurück in den Busch, zurück in den Krieg und kämpfen. Momentan sammeln die Leute Taylors überall in der Stadt wieder Kinder und Jugendliche ein, auf den Fussballplätzen, auf dem Markt, um sie an die Front zu bringen (Frühjahr 2003, Red.). Sie kamen auch zu mir. Bevor ich wieder in den Krieg zurückkehre, sagte ich diesmal zu ihnen, müsst ihr mich töten.

Andrew «Ray» Jackson, 24, war von seinem 11. bis 17. Lebensjahr Kindersoldat. Es war die blutigste Phase im Bürgerkrieg von Liberia.

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