Die Weltwoche / Eugen Sorg

26.01.2017

«Gott wird weinen»

Mit seiner Null-Toleranz-Politik hat der philippinische Präsident Rodrigo Duterte die Bevölkerung hinter sich gebracht. Massentötungen von Kriminellen und Süchtigen werden mit relativer Gleichmütigkeit hingenommen. Eine Kultur des Tötens hat sich etabliert.

Von Eugen Sorg und Nathan Beck (Bilder)

Die in Manila erscheinende Tageszeitung  The Philippine Star führt eine Chronik der Opfer des «Krieges gegen illegale Drogen». «Zwanzig getötet in Metro Manila innerhalb der letzten zwei Tage», wird beispielsweise am 2. Dezember vermeldet, worauf eine nüchterne Aufzählung der Namen der Getöteten und der Todesumstände folgt. «In Caloocan City entdeckte eine Polizeipatrouille an der Letre Road kurz vor Mitternacht die Leiche eines Mannes. Neben ihm lag ein Kartonschild mit der Botschaft: ‹Ich bin ein Drogendealer und ein Dieb. Sorry an all meine Opfer. Wir sind quitt. Ich habe meine Schuld beglichen.› Der Mann war erschossen worden, sein Hals aufgeschlitzt, das Gesicht mit Plastikband umwickelt.»

Oder: «In San Juan City war Mark Angelo Llaneta, 24, am Mittwoch mit zwei Freunden am Pot-Rauchen, als ihn um 18.30 Uhr zwei unbekannte, maskentragende Angreifer erschossen. Zeugen sagten aus, die Angreifer hätten sich vergewissert, dass Llaneta tot sei, bevor sie wieder verschwanden. Ermittler gaben bekannt, Llaneta stünde auf der Drogenliste der Polizei von San Juan City.»

Rettender Racheengel

Oder: «Rodolfo Tan, 48, und sein Bruder Jerome, 38, wurden bei einer Razzia in ihrem Haus an der Tahimikstrasse in Tondo um  14 Uhr von der Polizei erschossen, erklärte Superintendent Thomas Ibay, Kommandant der Manila-Polizei in der District Station 2. Rodolfo habe eine Schusswaffe gezogen, als er realisierte, dass er es bei einer geschäftlichen Transaktion mit einem Gesetzeshüter zu tun habe. Angeblich versuchte er den Mann, Polizeioffizier Willard Fajardo, der sich als Drogenkäufer ausgab, zu erschiessen, wurde aber vorher von anderen Polizisten niedergestreckt. Jerome, mit gezogener Waffe, wollte seinem Bruder helfen, wurde aber ebenfalls von den Polizisten getötet. Rodolfos Frau, deren Namen nicht bekanntgegeben wurde, wurde verhaftet, nachdem sie zwei Tütchen Shabu ausgehändigt hatte, während die Gesetzeshüter das Haus durchsuchten. Insgesamt wurden zwei Revolver Kaliber .38 und elf Portionenbeutel Shabu konfisziert.»

Im Mai letzten Jahres war Rodrigo «Rody» Duterte von einer grossen Mehrheit des philippinischen Volkes zum Präsidenten gewählt worden. Er hatte versprochen, sein Land von Drogen und der damit einhergehenden Kriminalität und Korruption zu säubern. Mit Drogen meinte er vor allem Shabu, ein hochpotentes Billig-Crystal-Meth, das zumeist in chinesischen Fabriken günstig produziert und von chinesischen Banden mit Namen wie «Bambus-Gang» oder «14K Gang» vertrieben wird und hauptsächlich in den Arme-Leute-Vierteln verheerende Verbreitung findet. Vier Millionen Süchtige soll es landesweit geben, ein Milliardengeschäft, das den Drogenbaronen die Mittel in die Kasse spülte, um Polizisten, Zöllner, Richter, Bürgermeister, Gouverneure zu kaufen. Duterte hatte in seiner Kampagne das Bild der Philippinen als eines scheiternden Narcostaates heraufbeschworen, sich als rettenden Racheengel präsentiert und dabei neue Massstäbe bezüglich Beleidigungen, blutigen Drohungen und Obszönitäten gesetzt.

Einem Reporter, der nach seiner Gesundheit fragte, gab der damals siebzigjährige Kandidat zurück: «Wie geht es der Vagina deiner Frau? Riecht sie übel? Oder nicht übel? Mach mir einen Bericht.» Anderen Journalisten sagte er, sie sollten ihn nicht «anficken», er beschimpfte Priester, Menschenrechtsaktivisten, Abgeordnete als «Schwuchteln», «Hurensöhne» und stellte islamischen Terroristen ein grausames Ende in Aussicht. «Ich werde dich eigenhändig aufschneiden», sagte er nach einem Bombenanschlag, «man gebe mir Salz und Essig, und ich werde dich lebendig auffressen.» Und er versprach, dass er nach gewonnener Wahl «nicht 500, sondern 100 000 töten werde. Und die korrupten Politiker in Manila werde ich auch töten und ihre Leichen in die Manila Bay werfen, um die Fische zu füttern, so dass die Fische fett werden. Gott wird weinen.»

Strukturen aus der Kolonialzeit

Jede Verwünschung, jedes «I’ll kill you» fand auf den Social Media ein millionenfaches Echo und wurde auch im entlegensten Inseldorf gehört. Die Philippinen sind noch immer von den feudalen Strukturen aus der spanischen Kolonialzeit geprägt. Rund zwanzig ultrareiche Familienclans, zu Einfluss gekommen dank ihrer damaligen Dienste für die Konquistadoren, teilen die Macht unter sich auf. Sie leben in Palästen, bezahlen keine Steuern, sind empfindungslos gegenüber den Leiden der Mehrheit. Achtzig Prozent der Bevölkerung leben ohne medizinische Grundver- sorgung, die Hälfte der über hundert Millionen Einwohner verdient weniger als einen Dollar pro Tag, die Quote fehlernährter Kinder gehört zu den höchsten weltweit.

Der rüde Stil von «Dirty Rody» kam an. Er stammte nicht aus einer der privilegierten Familien, schien sich wirklich um die Sorgen der Leute zu kümmern, und er war offenbar Manns genug, um die Verhältnisse zu ändern. 1988 war er zum Bürgermeister von Davao gewählt worden. Die Hauptstadt der notorischen Unruheprovinz Mindanao im Süden des Landes galt als einer der gewalttätigsten Orte ganz Südostasiens, brandgefährlich, unregierbar. Kommunistische Stadtguerillas, islamische Terrorverbände, kriminelle Gangs, Entführersyndikate und ein tiefkorruptes Staats- personal machten den Alltag der Bewohner zum Albtraum. Als Duterte 2014 sein Amt wieder abgab, war die Stadt sicher, sauber, und ihr Wirtschaftswachstum betrug 9,4 Prozent, das höchste aller Landesregionen.

Mit harter Hand hatte «The Punisher», wie er ehrfürchtig auch genannt wurde, seine Nulltoleranz-Politik durchgesetzt. Fragen, ob er selber Mitglied der ominösen Todesschwadronen sei, die Hunderte Drogendealer, kleine Diebe, Herumtreiber umgebracht hatten, beantwortete er widersprüchlich. Manchmal verneinte er dies: «Ich bin Rechtsanwalt»; andere Male blieb er vage: «Mein Job ist noch nicht erledigt»; zwei oder drei Mal gab er es ungerührt zu: «Ja, ich bin Teil der Schwadronen», sagte er einer TV-Moderatorin. «Ich habe selber Menschen getötet. Wenn einer in meine Stadt kommt und ein Kind vergewaltigt, erschiesse ich ihn.»

Als er im Juli letzten Jahres im Malacañang-Palast in Manila sein neues Amt als Präsident antrat, machte er sich unverzüglich daran, das Davao-Modell dem Rest des Landes zu verpassen. Er installierte Ronald «The Rock» dela Rosa als neuen obersten Polizisten des Landes. Der kahlköpfige, gemütvolle dela Rosa war Rodys loyaler Polizeichef in Davao gewesen und konnte nun seinerseits mit entsprechenden Ernennungen und Beförderungen dafür sorgen, dass die Gesetzeshüter den neuen Kurs auch befolgten.

Im Zuge der Operation «Oplan Tokhang» (Klopfen und Fragen) suchte ein Heer von Polizisten im ganzen Land Wohnungen von mutmasslichen Dealern und Süchtigen auf. Diese mussten den Drogen schriftlich abschwören, ansonsten ihr Leben in Gefahr sei. Duterte hatte sich diesbezüglich immer wieder unmissverständlich geäussert. Einen Drogenhändler zu töten, adelte er zum Akt der Ehre. «Erschiesse ihn, und ich gebe dir eine Medaille.»

Knapp sechs Monate später, Ende 2016, sind zwischen 5000 und 6000 Drogenleute getötet worden. 2000 durch die Polizei, über 3000 durch Unbekannte – Bürgerwehren, rivalisierende Gangs, Todesschwadronen? Die Regierung hat versprochen, dies abzuklären. Weiter sind 42 000 Händler und Konsumenten verhaftet worden, und fast eine Million hat sich freiwillig den Behörden gestellt, aus Angst, erschossen  zu werden. Das Guinness-Buch der Rekorde,  erzählte ein philippinischer Beamter einem amerikanischen Reporter, solle Interesse gezeigt haben, diese grösste Massenergebung von Kriminellen der Geschichte in seine Liste aufzunehmen. Die Auswirkungen? Die Kriminalität hat sich laut dela Rosa halbiert, die Sicherheit in den Quartieren ist deutlich gestiegen, Dutertes Beliebtheit ist ungeachtet der Tötungen quer durch alle Volksschichten hindurch unvermindert gross. Und in den chronisch überbelegten Gefängnissen ist es noch enger geworden.

Wie zum Beispiel im Quezon City Jail, einem Staatsgefängnis in Gross-Manila, gebaut für 800, vollgepfercht mit 4000 Insassen. Joseph, ein 31-jähriger Kunstmaler und Unternehmer, kennt den Ort aus eigener Erfahrung. Als 23-jähriger Student war er wegen angeblichen Besitzes von etwas Marihuana und Kokain selber dort eingesperrt worden. Sein Fall war aussergewöhnlich, und die Medien berichteten darüber. Joseph war ein rich kid, und Angehörige reicher Familien können sich in der Regel durch Beziehungen und Geld Gefängnisaufenthalte ersparen. Das Gericht sprach Joseph schliesslich frei, aber es dauerte vier Jahre bis zum Urteil. So lange musste er einsitzen. Im Gefängnis hatte er zu malen begonnen, Charakterstudien seiner Mitgefangenen – Mörder, Vergewaltiger, Kidnapper, Pechvögel –, starke, expressive Bilder, die das Talent des Porträtisten verrieten, die Katastrophen und Abgründe in den Gesichtern seiner Modelle zu lesen. Als verwöhntes Oberschichtssöhnchen war er ins Gefängnis gekommen, als Künstler verliess er es wieder.

Selbstmorde im Innenhof

Vier Jahre darauf betritt er es erneut, diesmal freiwillig. Er hat seine Kontakte spielen lassen und uns allen eine Besuchsbewilligung organisiert. Dabei ist auch Alexa, seine junge Frau. Sie will um jeden Preis sehen, wie jener Ort aussieht, wo ihr Mann so lange gefangen gehalten war und von dem er so ungern spricht. Durch eine niedere Eisentüre gelangen wir ins Innere der Anstalt. Die Luft ist schwer, heiss und stickig. Auf den Treppen, auf den Zwischengängen, in den Gemeinschaftszellen, überall liegen oder sitzen Männer dicht gedrängt, Körper an Körper. Eine Aufseherin mit der Gestalt eines Sumoringers und einem gutmütigen Gesicht, Mama Joy genannt, bahnt sich einen Weg durch das Menschengewühl, und wir folgen ihr dicht hinterher. Sie hat erzählt, das grösste Problem der Insassen seien Hautkrankheiten, Ekzeme und Tuberkulose. Ansonsten sei es ruhig, den letzten Aufstand habe man im Jahre 2000 gehabt. Eine unsichtbare Ordnung herrsche im Gefängnis, hat sie noch gemeint. Die einzelnen Stockwerke und Treppenhäuser würden von verschiedenen Gangs kontrolliert, nur das Dach, wo die Kranken und Sterbenden liegen, sei neutral.

Es ist wie der Besuch in einem Menschenzoo ohne Trenngitter, wobei unklar bleibt, wer Besucher ist und wer Ausstellungsobjekt. Einige der Häftlinge grinsen uns herausfordernd an, andere lächeln freundlich, ein paar beobachten uns lauernd oder weichen dem Blick aus. Man schaut in Gesichter mit verwüsteten Zügen und erloschenen Augen, viele haben faule Zähne. Sechzig Prozent der Gefangenen sind Süchtige oder Dealer. Plötzlich drängt sich ein älterer Mann zu mir vor. «Ich bin Amerikaner aus L. A.», stellt er sich vor, «mein Name ist Mister White.» Er wirkt erstaunlich aufgeräumt. «Warum bist du hier?» Es folgt eine Kurzfassung seines Lebens. Sie klingt wie ein Song von Johnny Cash. «Falsche Frau, falscher Ort. Sie lebt noch und hat meine Kreditkarte. Und ich bin hier drin.» Er scheint das Wichtigste gesagt zu haben, verabschiedet sich höflich und verschwindet in der Menge.

Bei der Gefängniskapelle bleiben wir einen Moment stehen. Die Rückwand ist mit süsslichen religiösen Motiven bemalt. Ein grosses Madonnen- und ein Christusbild fallen durch ihren Ernst und ihre formale Strenge auf. Sie stammen von Joseph, sein Abschiedsgeschenk an die Insassen. Aus einem Lautsprecher dudeln Weihnachtslieder, auf dem Boden der Kapelle liegen Männer, dösend, schlafend, gestaffelte Menschenware.

Reges Leben unter Särgen

Auf unserem Rundgang umarmt Joseph immer wieder Häftlinge und wechselt ein paar Worte. Es sind Zellengenossen von damals. «Einige von ihnen sind seit siebzehn oder mehr Jahren hier», sagt Joseph, «ohne Urteil. Unsere Gerichte sind langsam.» Um nüchtern, im Ton einer telefonischen Zeitansage, zu konstatieren: «Sie werden hier nicht lebend herauskommen.» Ebenso unbeteiligt berichtet er von den häufigen Selbstmorden, bei denen Häftlinge kopfüber vom dritten Stock in den Innenhof springen oder sich in ihren Zellen erhängen, die so niedrig sind, dass man die Beine anziehen muss. Und als ich ihn frage, wer eigentlich die Homosexuellen beschütze, die sofort auffallen, weil sie sich stark schminken und wie Frauen bewegen, antwortet er unsentimental: «Die Schwulen? Sie werden paper dolls genannt, wie jene Kinderpuppen, die man an- und ausziehen kann. Sie sind gefragt. Sie haben es gerne, wenn sie genommen werden.»

Wie Joseph kommt auch seine Frau Alexa aus reichem Haus. Sie weiss, dass es Elend und Trostlosigkeit gibt, arme Leute sind in ihrer Stadt allgegenwärtig. Aber diese haben nichts mit dem eigenen Leben zu tun. Vielleicht beschäftigt man sie als Hauspersonal oder als Gartengehilfen, ansonsten gehören sie einer fremden Spezies an, die man nicht verstehen kann, mit der man sich nicht mischt und deren schäbige Wohnungen in den schäbigen Quartieren auf einem anderen Planeten liegen. Hier im Gefängnis jedoch brechen die Grenzen ein, noch nie kam Alexa diesen Leuten so nahe. Sie streift deren Körper, riecht den schlechten Atem, den Schweiss, die Gier. Augen starren sie an, durchdringen sie, manche Gefangene beginnen bei ihrem Anblick zu zittern. Angstbleich, verkrampft lächelnd und mit Tränen in den Augen absolviert sie die Visite.

Später frage ich Alexa, warum sie geweint habe. Erst jetzt habe sie realisiert, antwortet sie, wie furchtbar es wirklich im Gefängnis sei. Es habe ihr sehr leidgetan, dass ihr Mann an einem solchen Ort mit all diesen Leuten habe leben müssen. Ob es für diese nicht auch schlimm sei, frage ich, oftmals während Jahren solche Bedingungen zu ertragen, ohne zu wissen, wann das Gericht den Fall endlich beurteilt? Für die anderen sei es einfacher, wirft Joseph ein, viele kämen aus armen Familien, und dort sei man es häufig gewohnt, zusammen in einem Raum zu leben. Für ihn aber sei dies ein Schock gewesen, das Schlimmste, und er habe ein ganzes Jahr gebraucht, um sich daran zu gewöhnen.

Wir kommen auf die Politik von Duterte zu sprechen. Alexa findet, er sei ein sehr guter Präsident, aber er sollte etwas weniger Leute töten. Es klingt, als sage sie, er sollte etwas weniger Alkohol trinken. Joseph stimmt ihr zu, die Strassen seien unter Duterte sicherer geworden, das Töten wirke. Aber es werde sich gegen ihn wenden. Man könne nicht einfach Leute umbringen. Auch er liefert seine Einschätzung ohne einen Hauch von Empörung ab, sachlich und emotionsfrei wie eine Wettervorhersage. Dann meint er noch, Duterte habe eine bipolare Störung, sei also abrupten Stimmungsschwankungen ausgesetzt, einmal hochgestimmt, dann plötzlich wieder düster, in Reden sei er oft unkonzentriert und springe von Thema zu Thema. «Ist er verrückt?», frage ich. «Ja», sagt Joseph und lacht, als unterhielten wir uns über einen lustigen Zeitgenossen mit einem kleinen Tic.

Im Norden von Metro Manila, in einem Quartier namens Bagbag, hat es einen öffentlichen Friedhof. Es ist ein Friedhof für die Armen. Die Gebeine von Tausenden Verstorbener ruhen in schmucklosen Steinsärgen, die, nebeneinandergelegt und aufeinandergeschichtet, bis zu hundert Meter lange und drei Meter hohe Totenwohnblöcke bilden. Die Pfade und kleinen Alleen, die sich durch die verdichtet gebaute Gräberstadt ziehen, sind jedoch voller Leben. Kinder schnattern und lachen, junge Männer stehen lässig herum, Frauen schleppen Taschen mit Gemüse, eine Gruppe effeminierter Homosexueller spielt Ball über die Schnur. Der Friedhof ist die Heimstätte von ein paar tausend squatters, illegalen Besetzern, die aber von der Regierung geduldet werden. Die meisten von ihnen kamen vom Land, von den armen Inseln im Norden, mit grossen Hoffnungen auf einen regelmässigen Verdienst und drei Mahlzeiten am Tag. Da aber in der Stadt niemand auf sie gewartet hatte, zogen sie auf den Friedhof, wo sie keine Miete bezahlen mussten und nicht vertrieben wurden. Sie richteten sich neben den Toten ein und vermehrten sich.

Unrettbare Zombies

«Hast du keine Angst vor den Geistern oder Seelen der Verstorbenen, auf deren Gräbern du lebst?», frage ich Annabella, eine Bewohnerin der Nekropole. Die 38-jährige Mutter von vier Kindern lacht. «Warum sollte ich Angst haben? Ich bin hier geboren. Das alles ist normal für mich.» Sie hätte ausziehen können, erzählt sie weiter, in eine Sozialsiedlung. Sie wollte aber nicht. Sie hätte einen einmaligen Betrag von 10 000 Pesos (rund 200 Franken, d. Red.) bezahlen müssen. So viel Geld habe sie nicht. Und ihr Mann wäre gezwungen gewesen, seine jetzige Stelle aufzugeben, die Siedlung liege ausserhalb der Stadt. «Er arbeitet als Schreiner», lächelt sie stolz, «wie der heilige Josef, der Vater von Jesus.» Und auch sie habe hier ein kleines Einkommen. Einmal im Jahr kämen die Angehörigen der Toten und bezahlten sie dafür, dass sie deren Gräber unterhalte. Überhaupt, fasst sie ihre Bedenken zusammen, was solle sie wegziehen, sie kenne dort niemanden.Es sei hier in den letzten Monaten zudem ruhiger und sicherer geworden. «Warum?» – «Wegen Präsident Duterte. Seit er regiert, macht die Polizei regelmässig Kontrollen. Sie verhaftet Leute, die auf der Strasse Alkohol trinken oder rauchen, und sie schaut, dass sich die Drogenleute den Behörden ergeben.» – «Was meinst du dazu», frage ich, «dass viele getötet werden, ohne Anklage und Gerichtsverfahren?» Annabella antwortet mit dem moralischen Pragmatismus jener Abermillionen, die den rechtsstaatlich garantierten Luxus einer ungefährdeten Existenz nicht kennen. Mitleid und Empathie sind bei ihnen eine knappe Ressource, gerade ausreichend für die eigene Familie. «Die Kriminellen sind weg. Jetzt kann ich sogar spätabends durch das Quartier gehen, ohne Angst zu haben, ausgeraubt oder angefallen zu werden. Duterte ist ein guter Präsident, er schaut für das Volk.» Inzwischen hat sich eine Gruppe Zuhörer um uns geschart. «Sehen das deine Nachbarn auch so?» – «Ja, alle.» Die anderen nicken.

Einer von Josephs Freunden ist Marcelo*. Die beiden haben sich im Gefängnis kennengelernt. Marcelo, ein Polizist, war wegen Mordes eingesperrt worden. Nach zweieinhalb Jahren Haft sprach ihn das Gericht frei, und er kehrte als unbescholtener Mann zur Polizei zurück. Seine Chefs hätten immer zu ihm gehalten, erzählte er, aber ansonsten redete er nicht mehr über die Sache. Nicht mal Joseph weiss Genaueres über die damalige Angelegenheit. Mittlerweile arbeitet Marcelo in der privaten Sicherheitsbranche, aber er hat immer noch Kontakt zu seinen früheren Kollegen. «Polizisten sind eine Gemeinschaft von Brüdern. Man hält zusammen.»

Marcelo, mehrfacher Familienvater, Mitte vierzig, ein unauffälliger, aber hellwacher Mann, hat für mich ein Treffen mit Deodato*, einem seiner «Brüder», arrangiert. Sie waren zusammen an der Polizeischule, und heute ist Deodato ein hochrangiger Polizist in der Provinz Bulacan, nördlich von Metro Manila. Da ich ein Freund von Marcelo sei, erklärt er mir, werde er offen und ehrlich mit mir reden. Aber ich dürfe seinen richtigen Namen und seine Stellung nicht nennen.

Er stehe zu hundert Prozent hinter der Politik der Regierung, fängt er an. Vier Millionen Süchtige seien eine tickende Zeitbombe, Drogengeld kontrolliere immer mehr Bereiche des Staates, und Duterte, «ein ehrlicher Mann», habe dies erkannt und unterstütze die Polizei in ihrer Arbeit – anders, als es früher gewesen sei. Jetzt könnten sie aggressiv vorgehen, ohne Klagen befürchten zu müssen, die von Drogenbossen bezahlt würden. «Bulacan ist die Nummer eins, was Tötungen von Drogenleuten betrifft», sagt er nicht ohne Stolz, «bereits mehr als 500 Tote, zwei pro Tag.» Mit Drogen aufzuhören, sei extrem schwierig. Wer Shabu nehme, höre auf zu schlafen und zu essen, sein Gehirn schrumpfe, und er werde verrückt und mache verrückte Dinge. «Töten hilft», fügt er lachend an. Es klingt wie eine Provokation, aber ich ahne, es ist ernst gemeint.

Marcelo wirft ein: «Duterte liebt sein Land. Er ist alt, 71, und hat keine anderen Ambitionen mehr, als den Leuten zu helfen. Aber jetzt wurde genug getötet.» – «Darf man überhaupt Süchtige töten?», frage ich. «Nur die Unheilbaren», sagt Marcelo, «solche, die seit Jahren süchtig sind, die unrettbaren Zombies.» Aber was mit denjenigen sei, frage ich, die sich freiwillig den Behörden gestellt hätten und trotzdem erschossen worden seien? «Unliebsame Zeugen, die zu viel wussten», antwortet Deodato. Etliche Cops seien korrupt und hätten die beschlagnahmten Drogen selber weiterverkauft. «Und wer ist verantwortlich für jene Toten mit den in Klebeband eingewickelten Köpfen und dem Kartonschild ‹Ich bin ein Drogendealer›? Die Polizei?» – «Nein», sagt Deodato gelassen, «Polizisten verschwenden keine Zeit mit Schilder-Schreiben und Köpfe-Bandagieren. Eher sind dies andere Drogenleute, die verhindern wollen, dass sie verpfiffen werden. Oder vigilantes, Bürgerwehren. Aber es wird nicht ernsthaft untersucht. Ein Drogentoter mehr – ein Problem weniger.» – «Man hört auch, dass hinter den vigilantes Polizisten stecken sollen.» – «In einzelnen Fällen kann dies stimmen. Es gibt hier eine lange Tradition, dass die Polizei die Drecksarbeit von Halbweltfiguren erledigen lässt, welche dafür bei ihren Geschäften in Ruhe gelassen werden.»

«Wer war dein erster Toter?» Deodato muss nicht lange nachdenken. «Ein muslimischer Rebell. Ich war damals in Mindanao stationiert und übernahm als junger Polizist meine erste Einheit. Da übergaben mir die Kollegen diesen gefesselten Gefangenen. ‹Dein Job›, sagten sie, ‹deine Feuertaufe.› Ich wusste, was dies hiess. Ich schoss ihm in die Brust, dann in den Kopf, und bevor ich ihn ins Meer warf, schnitt ich ihm den Bauch auf und räumte seine Innereien aus, damit sich der Körper im Wasser nicht aufblähte, sondern schön auf den Meeresgrund absank. Ich durfte mir nicht anmerken lassen, wie es mir dabei ging, aber ich war derart aufgewühlt, dass ich danach eine Woche nicht schlafen konnte.»

Süchtige Polizisten

Wenn die Polizei jemanden erschossen habe, werfe ich etwas später ein, erkläre sie immer, in Notwehr gehandelt zu haben. Jeder wisse, entgegnet Deodato achselzuckend, dass dies häufig nicht stimme. «Wir provozieren die Pusher, damit sie sich wehren, dann erschiessen wir sie.» Er lacht kurz auf. «Shoot to kill», schiessen, um zu töten, sei nur erlaubt, wenn man direkt angegriffen werde. Versuche der mutmassliche Kriminelle hingegen zu flüchten, dürfe nur auf die Beine gezielt werden. So sei ein Cop vor Gericht gefragt worden, warum der Verdächtige eine Kugel im Kopf hatte, obwohl alle Zeugen bestätigten, dass der Mann davongerannt sei. «Das ist korrekt, ehrenwerter Richter», habe der Cop geantwortet, aber just in dem Moment, als er gefeuert habe, sei der Flüchtende stehen geblieben und habe sich geduckt. Daher sei die Kugel nicht in den Beinen, sondern im Kopf gelandet. Deodato und Marcelo feixen und freuen sich über die Dreistigkeit des Kollegen.

Dann klappt Deodato seinen Laptop auf. «Schau her.» Auf einer Polizeifotografie sieht man einen auf dem Rücken liegenden Mann, den Kopf in einer Blutlache, in der rechten Hand eine Pistole. «Was ist falsch an diesem Bild?», fragt er wie ein Lehrer, um gleich selber die Antwort zu geben: «Wenn ein Polizist zu einem Verdächtigen hingeht, den er angeschossen hat, kickt er als Erstes dessen Waffe weg. Sicherheitsmassnahme Nummer eins jedes Cops. Man hat hier dem Toten die Waffe nachträglich in die Hand gedrückt, um die Schiesserei wie Selbstverteidigung aussehen zu lassen.» Dann spielt Deodato auf dem Laptop einen kurzen Film ab, die Bilder sind dunkel und grünlich, offenbar wurden sie nachts aufgenommen. Drei Männer stehen in einem Toreingang, einer von ihnen raucht aus irgendeinem Gerät. «Siehst du den rauchenden Mann?», kommentiert Deodato. «Er ist Polizist. Ein Süchtiger. Er raucht Shabu. Die Aufnahme wurde verdeckt gemacht von einem anderen Polizisten.» – «Was geschah mit dem süchtigen Cop?» – «Er lebte noch eine Woche.» Wieder lacht Deodato kurz auf, und ich komme einen Moment ins Grübeln, ob da bloss einer prahlt und mit Schauerstorys angeben will. Aber ich finde keinen Grund, die Geschichten nicht zu glauben.

«Das Töten wird zum Problem werden», fährt Deodato fort, nunmehr in ernstem Ton. «Eine Polizei mit der Lizenz zum Töten gewöhnt sich daran. Das body-count syndrome macht sich breit, die Auffassung, dass sich der Kriegserfolg daran misst, wie viele Feinde man eliminiert hat. Du kannst nicht mehr aufhören, du wirst süchtig nach dem Töten. Und solche Polizisten sind eine Gefahr, sie werden käuflich als Auftragskiller, als gedungene Mörder für kriminelle Syndikate.» Nach Jahrzehnten der Bürgerkriege existiere im Land eine Kultur des Tötens. «Wir Filipinos sind immer noch barbarisch», bilanziert er und meint, «aber du hast keine Wahl. Entweder du tötest, oder du wirst getötet.»

Eines der grössten Indoor-Stadien Asiens, die MoA-Arena in Metro Manila, ist bis auf den letzten Platz besetzt. Es ist Anfang Dezember, die Nacht der mixed martial arts-Fights, jener harten und brutalen Disziplin, bei der im Stehen und im Liegen gekämpft wird. Ausser töten, Augen eindrücken, Körperteile abbeissen, Fingerstichen, in die Genitalien schlagen ist alles erlaubt. Der Kampf ist beendet, wenn ein Gegner bewusstlos ist oder auf dem Boden abklopft, weil er gewürgt wird und keine Luft mehr bekommt. Marcelo, einer seiner Freunde und ich sitzen in der Nähe des Ringkäfigs. Die blendende Laune des Publikums ist ansteckend, brachiale Videoclips der Kämpfer und Rockmusik sorgen in den Pausen dafür, dass die Stimmung nie absinkt.

Das Publikum will Blut sehen

Für den ersten Höhepunkt sorgt ein Australier, der als Herausforderer gegen einen Brasilianer antritt. Der Australier ist der Underdog, dem dunkelhäutigen Brasilianer körperlich und technisch hoffnungslos unterlegen. Aber er ist respektlos und frech, streckt dem muskelbepackten Gegner zum Gaudi des Publikums die Zunge heraus, tänzelt aufreizend locker dessen Schläge aus. Schliesslich landet er trotzdem auf den Brettern, und der Brasilianer versucht dem sich Windenden mit einem Hebelgriff die Luft abzuklemmen. Die Grossleinwand zeigt den rotgeschwollenen Kopf des Australiers, und als man ihn schon aufgibt, schaut er plötzlich direkt in die Kamera, zieht eine unverschämte Grimasse und befreit sich kurz darauf wundersam aus der Umklammerung. Das Publikum jubiliert und klatscht. Es hat einen Helden gefunden und feiert ihn auch noch frenetisch, als er den Kampf am Ende nach Punkten verliert.

Hauptereignis des Abends ist jedoch der Weltmeisterschafts-Fight um die Krone der Schwergewichtsklasse, Motto: «Epoche der Herrschaft». Amtierender Champion ist Brandon «The Truth» Vera, Filipino-Amerikaner, vergötterter Liebling des Volkes, eine 1,91 Meter grosse, furchterregende Mischung aus Vin Diesel und Dschingis Khan. Nur schon die Erwähnung seines Namens bringt die Arena zum Kochen. Sein Herausforderer ist der Japaner Hideki «Shrek» Sekine. In dem Augenblick, da er den Ring betritt, tut er einem schon leid. Shrek ist deutlich kleiner, etwas übergewichtig, eine müde, in die Jahre gekommene Kampfmaschine. Er hat vom ersten Moment an keine Chance.

«The Truth» bricht wie ein Verhängnis über ihn herein. Er treibt den Japaner durch den Ring, landet schmerzhafte Tritte an dessen Beinen, am Kopf, trifft mit dem Knie dessen Schläfe. Der Japaner ist zu langsam, um die Hämmer abzuwehren. Er taumelt, sinkt auf die Knie, ein verwundeter Samurai, steht wieder auf, flüchtet rückwärts, mit dem Blick eines gejagten Tieres. Vera setzt nach, unerbittlich, konzentriert, präzis, der verheerenden Faust folgen Fusstritte, an den Schädel, in die Brust, an den Kopf. Das Publikum ist im Rausch, es will Blut sehen, «Boum!» schreit es zu jedem Schlag, «Boum!». Shrek geht zum zweiten Mal zu Boden, Vera stürzt sich über ihn, wie ein Fallbeil fährt seine Faust auf den zerstörten Samurai nieder, «Boum!», «Boum!», bis der Ringrichter dazwischenhechtet und das Massaker beendet. Der Kampf hat nur drei Minuten gedauert.

Spott für den Verlierer

Vera schreit seinen Triumph in die Menge, diese jubelt zurück, verschmilzt mit dem Dominator. Shrek bleibt liegen, die Betreuer reden auf ihn ein, und als er sich wieder bewegt, helfen sie ihm auf einen Plastikhocker, wo er, in sich zusammengesunken, sitzen bleibt. Auf der Leinwand erscheint kurz eine Grossaufnahme  des besiegten und gedemütigten Japaners. Niemand weiss, ob er gesundheitliche Schäden davongetragen hat. Aus dem Publikum ertönt Gelächter und Pfeifen. Der Verlierer erfährt kein Erbarmen, nur Spott oder Desinteresse.

Diese Reaktion erinnert an die relative Gleichmütigkeit, mit der auf den Philippinen die Massentötungen von Kriminellen und Süchtigen hingenommen werden. Mitleid mit den Opfern wird kaum je geäussert. Präsident Rodrigo «I’ll kill you» Duterte erfreut sich trotz oder vielleicht sogar wegen der Leichenbilanz bei einer Mehrheit nach wie vor grosser Beliebtheit. Er ist der fürchterliche «Punisher», der heroische Dominator. Seine Grausamkeit ist der Beweis seiner Macht. Wer sich ihm anschliesst, glaubt sich gerettet. Wer aber auf seiner berüchtigten Liste mit den Namen von Tausenden Drogenverdächtigen landet, verfällt in Angst, Zittern und Demut. Gleichzeitig umgibt «Rody» als Sohn der Schmuddelprovinz Mindanao der Nimbus des heldenhaften Underdogs, der nie aufgibt und den unverschämten Mut hat, den traditionellen Herrschaftskasten unflätige Wahrheiten ins Gesicht zu spucken.

Vor allem aber liefert seine Politik ein grandioses Spektakel. Abstossend und faszinierend wie eine mixed martial arts-Veranstaltung, nur viel grösser. Die Filipinos sind das amerikafreundlichste Volk der Welt, sie lieben Amerika noch mehr, als es die Amerikaner selber tun. Sie wachsen nicht nur mit Fastfood auf, sondern auch mit amerikanischen TV-Serien. Die Präsidentschaft Dutertes ist für viele wie eine überwältigende nationale Fernsehserie. Unvorhersehbar, gewalttätig, dramatisch. Live. Packende Unterhaltung, die jeden in den Bann schlägt und bei der weniger die moralische Frage interessiert, wer die Guten sind und wer die Bösen, sondern mehr die praktische Frage: Wie geht die Geschichte weiter? Wer gewinnt, wer verliert, wer wird getötet?

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