Das Magazin

13.04.1996

Merengue und Bettflaschen

Text Eugen Sorg

Vor zehn Jahren schickte Estella ihr Foto in die Schweiz. Die Agentur zahlte den Flug Santo Domingo-Zürich. Estella arbeitet seither im Rotlichtbezirk. Ihr Mann ist Schweizer. Sie ist glücklich mit ihm.

Ich warte auf Estella. Zürich, Langstrassequartier. Eine Viertelstunde zu früh. Beim letzten Treffen hatte ich mich verspätet, und sie hatte mich ermahnt, künftig pünktlich zu sein. «Wie ein Schweizer», hatte sie gelacht und den Zeigefinger drohend erhoben. Es ist acht Uhr abends im Restaurant «El Sitio», einem Treffpunkt dominikanischer Emigranten. Das Lokal hat in Polizeikrei- sen einen eher schlechten Ruf. Umgekehrt ebenso.

Die Gäste sind guter Laune. Man scherzt und plaudert, Neuankömmlinge werden mit lauten Rufen begrüsst, Kinder sausen zwischen den Tischen herum, tropische Musik dröhnt aus den Boxen. Männer mit Goldkettchen, T-Shirts, amerikanischen Turnschuhen und Augen, denen nichts entgeht, stehen bei einem Spielautomaten, eine kugelige Frau in einem zitronengelben Kleid, so prächtig wie eine Ostereiverpackung, singt mit Cuco Valoy im Duett, dem dominikanischen Meisterbarden, der von gebrochenen Herzen und windigen Liebesschwüren berichtet.

Ich habe Estella vor zwei Wochen kennengelernt. Sie und ihre Freundin Cecilia besuchten die gemeinsame Bekannte Carmen und deren Ehemann Walti, einen Schweizer Naturwissenschaftler. Estella ist 28jährig, kam vor zehn Jahren nach Europa und ist seit drei Jahren mit einem Schweizer verheiratet. Es ist ihre zweite Ehe mit einem Suizo. Sie liebe ihren Mann, sagte sie an diesem Abend, im Gegensatz zum ersten, wo es ihr nur ums Geld gegangen sei, und sie hätte ihm versprechen müssen, nicht mehr mit den Gästen ins Séparée zu verschwinden, wenn sie ihre Auftritte als Cabarettänzerin beendet hätte. Er sei ansonsten tolerant und als Inhaber einer Elektrikerbude oft auf Montage, auch im Ausland. Im übrigen habe sie ihm striktes Verbot erteilt, sie bei der Arbeit aufzusuchen.

Welches die besseren Männer seien, fragte ich, die Schweizer oder die Dominikaner? Jetzt kam für einen Moment Verlegenheit auf. Carmen blickte zu ihrem Mann, überlegte und meinte dann: «Ich bewundere die Schweizer Männer. Sie arbeiten gut mit den Händen, dem Mund und dem Kopf. Sie sind sehr intelligent. Educado, cultivado y computadorizado, gebildet, kultiviert und computerisiert. Sie sind zuverlässig und kümmern sich um ihre Kinder.» Walti lächelte, und die Freundinnen signalisierten Einverständnis. «Aber», nun gab sie sich einen Ruck, rollte die Augen kurz himmelwärts und murmelte etwas, das wie «Dio mio» und «mein Mann wird sich scheiden lassen» klang, «sie sind schlecht im Sex, bei Problemen werden sie ganz aufgeregt und verkrampft, und sie können nicht tanzen.» Um zu unterstreichen, was sie meinte, zauberte sie mit Oberkörper und Gesicht vier Takte Merengue herbei. Walti lächelte nicht mehr, und die Freundinnen kicherten. «Es verdad o no, ist es wahr oder nicht?» fragte sie in die Runde. «Sie sind frio, kalt, und haben keine Phantasie im Bett. Ich spreche nicht von dir, mi amor», wandte sie sich zum Mann, «sondern allgemein.» Verstärktes Gekicher aus der Frauenecke. «Aber vielleicht ist es das Wetter. Hier ist es immer kalt», schloss sie ihre Ausführungen.

«Escucha mujer, hör zu, Frau,» intervenierte Estella, «gut, die dominikanischen Männer sind stärker. Sie sind einfallsreicher und haben ihre vier oder fünf Orgasmen pro Nacht.» Ich verspürte den plötzlichen Wunsch, zur Flasche zu greifen, und sah in der Spiegelung der Wohnwand, wie Walti im Sofa absackte. «Jedoch, was nützt mir das, wenn er sich dabei nicht um meine Bedürfnisse kümmert und am Schluss wortlos wegschnarcht?» Kein Wunder, torkelte es mir durchs Gehirn. Sie fuhr fort: «Zudem hat ein Dominicano immer mehrere Frauen, egal, auf welchem Fleck der Erde er sich herumtreibt. Er verachtet die Frau, er steht da oben und sie da unten.» Mit der Hand zeigte sie ein Gefälle, das vom Kopf bis zum Unterleib reichte. «Der Schweizer hingegen hat Respekt vor der Frau.» Na also, sprach ich zu mir, und auch Walti kam langsam wieder hoch. «Übrigens genügt mir ein Orgasmus. Ich will ja nicht wund werden.» Die Damen krümmten sich vor Lachen. «Zugegeben, die Schweizer haben Hemmungen, sind timidos, schüchtern. Aber ich habe meinem Mann gesagt: Berühre mich hier, fasse mich so an, und morgen probieren wir diese Stellung, ich will nicht immer dasselbe machen. Nicht alle Schweizer sind unfähig zu lernen.» Dass sie anfügte, wir wären aber wirklich miserable Tänzer, schluckte ich problemlos, und als Cecilia weise kommentierte, niemand sei schliesslich perfekt, konnten auch Walti und ich wieder mitlachen.

Dann lenkte ich das Gespräch auf ein ernsteres Thema. Ob die Schweizer Rassisten seien, wollte ich von ihnen erfahren. Die Antwort ein dreistimmiges Nein. Die schlimmsten Rassisten seien in Santo Domingo, wandte Estella ein. Ich bat sie um eine genauere Erklärung. Die regierenden Politiker seien alle weiss, sagte sie, ebenso wie die TV-Sprecher und die amtierende Miss Santo Domingo, und in der Hauptstadt gebe es eine Disco, in der Schwarze keinen Zutritt hätten. Dabei würden die Weissen nur fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen. Weiss schaue runter auf Braun, schaue runter auf Dunkelbraun, schaue runter auf Schwarz.

Ich vermisste den empörten Unterton in ihrer Aufzählung und fragte, was sie von Rassismus halte. «Oh, ich bin Rassist.» Es klang fast stolz. Die Freundinnen grienten. Ihre Hautfarben schimmerten zwischen Zimt und dunklem Honig. «Nie würde ich mit einem Schwarzen ausgehen. Limite ist meine eigene Farbe.» Sie zeigte auf ihren Arm. Carmen feixte: «Der Esel spottet über die langen Ohren des Hasen», doch Estella behauptete unbeirrt, alle ihre Männer seien immer hell gewesen, ohne breite Nasen und dicke Lippen. «Denkst du, ich wolle am Morgen aufwachen und einen sehen, der aussieht wie ich? Gäbe es die Salbe, so wäre ich am nächsten Tag schon weiss.» Carmen hielt entgegen, dass ein Gringo doch wirklich nicht das Schönste unter der Sonne sei. Diese rosa Flecken auf der Haut erinnerten sie, Entschuldigung, an ein Schweinchen. Schwarz wie ein Haitianer allerdings, das wäre auch das letzte. Estella wandte sich zu mir: «Willst du wissen, was ich von Negern halte?»

Jetzt kurvt Estella zur Tür herein, eingemummt in Wintermantel und grüne Wollmütze, pünktlich wie die SBB. Wir bestellen Essen und zwei Flaschen Presidente, das beste Bier von Santo Domingo. Sie erzählt, sie habe heute eine neue Stelle angetreten, in einem Salon ganz in der Nähe. Der Vertrag mit dem Cabaret lief letzte Woche aus, einen neuen hatte sie nicht gekriegt, viele Bewerberinnen stehen an, mit 28 ist man in dieser Branche nicht mehr die Jüngste, und es fliesst weniger Geld als in den guten 80ern. Es sei ihr recht, sie habe ohnehin Magenprobleme gekriegt vom vielen Champagner.

«Und, wie lief es?» «Nicht so gut. Drei Kunden in zehn Stunden, macht 400 Franken. 40 Prozent gehen an die Chefin, eine Venezolanerin. Mir bleiben 240. Ich weiss nicht, was heute los war, aber jeder zweite wollte eine Blondine.» Einer hatte furchtbaren Achselschweiss. Estella rümpft die Nase. Zum Glück war er Masochist. Er konnte sie nicht anfassen, weil sie ihn gefesselt hatte, es schüttelt sie vor Lachen, wie Jesus Christus am Kreuz hat er ausgesehen. Sie ging ins Hinterzimmer, um Luft zu holen, zog Maske und Stiefel an, schlug mit der Peitsche zwischen seine Beine, sofort stieg sein Ding in die Höhe, sie rollte ihm den Präser über, begann zu massieren, er wollte, dass sie ihm die Eier quetscht, geht in Ordnung, antwortete sie, das macht 50 Franken extra, und zog die Plastikhandschuhe an. Nach 15 Minuten war er wieder auf der Strasse, und sie versprühte eine halbe Dose Fichtennadelduft.

Das Poulet mit grillierten Bananen und Reis schmeckt vorzüglich. Estella ist nach der Hälfte satt. Sie winkt die Kellnerin heran, sagt ihr ein paar Worte, diese nimmt den Teller, balanciert ihn, während sie drei raffinierte Tanzschrittchen hinlegt, zum Nebentisch, wo eine Kollegin dankend zurückwinkt und die Restportion geniesst. «Ich arbeite gerne. Mein Mann ist nicht geizig, aber ich will mein eigenes Geld haben. Ich mag schöne Kleider, Schmuck, und ich überweise jeden Monat 300 Dollar an meine Familie.» «Dein Mann weiss nicht, wo du jetzt arbeitest?» «Sicher nicht. Aber schau, jede Frau muss ihr Geheimnis haben.» Ihr Lächeln entwaffnet mich. Aber ich bin nicht ihr Mann.

Estella lebte in einem Dorf im Norden ihrer Insel, im Cibao, wo der Merengue herkommt. Mit 15 hatte sie die Schule abgeschlossen. Weil sie gut rechnen und schreiben konnte, übernahm sie, selber noch ein halbes Kind, eine grosse Schulklasse. Ihre Tochter bekam sie mit 16. Eines Tages kehrte eine ältere Freundin aus der Fremde heim, baute sich ein Haus, trug Kleider wie eine Prinzessin und hielt sich eine Reihe Bedienstete. Hilfst du mir, fragte Estella, mit ihren 18 Jahren und dem Monatslohn von 50 Franken von einer jähen Leichtigkeit erfasst. Ja, sagte die andere, aber du musst machen, was ich dir sage. Du wirst tanzen, dabei die Kleider langsam ausziehen, und du wirst Champagner trinken mit den Männern. Liebe machen ist separat. Und du musst abnehmen, Europäer haben es nicht gerne dick. Sie hatte eine Fotokamera und knipste Bilder von Estella: im Badeanzug, in der Unterhose. Dem Impresario, dem Agenten in der Schweiz, gefiel die Ansicht, und er bestellte die mädchenhafte Mulattin, die bald darauf in Zürich-Kloten landete. Das Vermögen für den Flug hatte die Freundin vorgestreckt. Estella deponierte ihren Koffer in der Absteige, unterschrieb den Vertrag, den sie nicht lesen konnte, und ging warme Kleider kaufen.

Die erste Zeit war schlimm. Die Männer im Séparée tatschten sie überall an, griffen unter den kurzen Rock, wollten ihre ungewaschenen Finger in sie reinstecken. Estella hatte Angst vor einer Entzündung und überhaupt, sie wehrte sich, die Männer reklamierten beim Chef, und der setzte die Aufgelöste vor die Tür. Als das Visum nach acht Monaten abgelaufen war, hatte sie nur während vier Monaten gearbeitet. Das Geld war weg für Schulden, Impresarioprozente, undurchsichtige Abzüge, Zimmermiete, Kleider, Überweisungen an die Familie. Heimkehren lag nicht drin, alle hätten gelacht. Sie wich aus nach Graz in Österreich.

Dort hatte sie Glück. Ihr erster Kunde sprach spanisch. Im Séparée erzählte sie ihm von ihren Schwierigkeiten, er hörte ihr aufmerksam zu, bestellte Champagner, besuchte sie erneut an den nächsten drei Abenden, der Chef lobte sie und gab ihr die Stelle. Irgendwie lief es ab da besser. Sie erweiterte ihr Deutschrepertoire, das bis anhin nur aus «gemma Séparée» und «Cordon bleu» bestanden hatte, wechselte ein Jahr später nach Italien in einen Massagesalon, blieb aber kaum sechs Monate, die Italiener wollten viel und bezahlten wenig. Der kurze Abstecher nach Deutschland war eine Katastrophe, die Deutschen tranken nur Bier, der Chef hielt sie wie eine Gefangene, und er kassierte einen Teil ihres Freierlohnes. Nach weiteren zwei Jahren in Österreich telefonierte sie ihrem Impresario in Zürich. Sie hatte tipptopp gearbeitet, keine Klagen, der Agent besorgte ihr ein Visum, sie blieb in der Schweiz.

«Uff, es war eine harte Schule. Ich bin stark geworden. Die Männer merken, wenn man neu ist. Dann versuchen sie es. Jetzt kann ich deutsch reden. Die Haare sind meine Tabugrenze. Die Männer respektieren dies. Ich zeige meine Brust, das macht mir nichts.» Sie lacht und greift sich an die Bluse. «Die sind gross, nicht? Viele Männer kommen wegen der Brüste. Wenn einer keine Kultur hat und rumdrückt, als wären sie aus Teig, dann stoppe ich ihn. Andere Mädchen sind vulgär und lassen den Finger rein.»

Sie hatte Stammkunden, treue Zahler, die sich in sie verliebt hatten, ihr, der Nomadin zwischen Romanshorn und Lugano, in die Klubs nachreisten und ihren Schämpisumsatz in die Höhe trieben. Eine Zeitlang traf sie sich mit einem verliebten Ministro, einem von der Regierung. Er nahm sie jeweils aufs Zimmer im Hotel «Savoy» am Zürcher Paradeplatz. Sie schwört, sie habe ihn neulich im Fernsehen erkannt, als ihr Mann die Nachrichten schaute. Die Familie gewöhnte sich an die regelmässigen Zahlungen aus Europa. Kein Wort des Dankes am Telefon, dafür ständig höhere Forderungen. Estella schickte der Mutter ein Flugticket und nahm sie mit ins Cabaret. An diesem Abend war die Tochter so besoffen, dass die eigene Mutter sie nicht wiedererkannte, und die Kollegin hatte eine schlimme Schlägerei mit einem Gast. Kind, du arbeitest ja in einem Zoo, weinte die geschockte Frau. Danach hörten die Unverschämtheiten auf. An gewissen Tagen, meistens im Winter, attackiert das Heimweh besonders übel. Dann legt Estella Musik auf, Merengue oder Oberkrainer, betrinkt sich, füllt die Bettflasche mit heissem Wasser und kriecht unter die Decke. An den Sonntagen geht sie zur Messe. Gott ist gut, sagt sie, ich fühle mich nachher sauber.

Der DJ packt seine Sachen zusammen, die Paare sind von der Tanzfläche verschwunden, die Kellnerin räumt die Tische ab. «So, Eugenio, was hältst du von mir?» fragt sie, als wir zum Taxistand spazieren. Ich mache Komplimente, und sie muss lachen. «Der Krieg ist noch nicht zu Ende», meint sie dann, «nächstes Jahr hole ich meine Tochter, sie soll eine gute Ausbildung machen, und vorher suche ich eine normale Stelle. In zehn Jahren kehre ich in mein Dorf zurück. Erst dann ist Friede. Ich habe ein Haus und ein Stück Land gekauft. Der Boden gibt gutes Gemüse.» Sie steigt ins Taxi und kurbelt das Fenster runter. «Haitianer werden es für mich anpflanzen.» Fröhlich winkend rauscht sie davon.

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